Text & Illustration: Matrosenhunde

A Day in the Life of Oscar

von Annika Wagner

Alle Zweifel fielen von ihm ab. Wie er dort an der Spree saß und auf seinen immer länger werdenden Schatten auf der Wasseroberfläche starrte. Oscar bohrte seine Fingerkuppen in die Handinnenflächen. Eine Angewohnheit, die er sich in den letzten Monaten zu eigen gemacht hatte, wenn er sich eines Augenblicks bewusst werden wollte. 

In der Ferne vernahm er Minous Stimme, die seinen Namen rief. Ohne sich umzudrehen, wusste er, dass sie friedlich am Auto lehnte und ihm seinen Moment ließ. Hinter ihnen lag der längste Weg, den er jemals gegangen war. Im übertragenen Sinn. Viel zu lange war er umhergestreunt, hatte das Leben wie ein Feigling am Ufer verbracht und es für den Rausch schlechthin gehalten. Jede Möglichkeit, die sich ihm bot, hatte er lautstark in Betracht gezogen, aber nie genutzt. „What a waste, Oscar“, hallte es in seinen Ohren nach. 

Er kramte nach Worten, ordnete sie in seinem Kopf aneinander und wusste, er würde sie wieder nicht über die Lippen bringen. Wie gern hätte er ausgesprochen, was die Gewissheit von Minou in seinem Leben mit ihm gemacht hatte. Von allem anmaßenden Kitsch befreit war sie wohl seine Person. Der Mensch, der alles aussprach, aber nichts verlangte und damit alles veränderte. 

Es war ein Tag in seinem Leben gewesen. Ein Tag, an dem er es nicht ansatzweise in Betracht gezogen hätte, diesen Weg, der jetzt hinter ihm lag, anzutreten. Es war der Tag, an dem er auf Minou traf. Sie wahrnahm, aber nicht erkannte. 

Oscars Schatten war mittlerweile so lang geworden, dass er aussah wie ein lächerlicher, dünner Riese. Langsam drehte er sich in die Richtung, aus der er zuvor Minous Stimme vernommen hatte. Sie lehnte am Auto und grinste ihn wortlos an. Damals war er an ihr vorbeigegangen. Nicht ahnend, dass sie heute sein Ziel sein würde. Die richtige Richtung. Und er hegte keinen leisen Zweifel daran, dass er mit seinem Verständnis von „richtig“ dieses Mal falsch lag. In ihrer linken Hand hielt sie ein Buch, das sie wegen der langatmigen Beschreibungen des Autors in den letzten Tagen lautstark zur Verzweiflung gebracht hatte. Sie hatte es trotzdem zu Ende gelesen. 

Lange hatte er nicht begriffen, was sie meinte, als sie sagte, dass es im Leben darum ginge, sich immer wieder für die mutige Variante zu entscheiden. Aber seitdem er damit angefangen hatte, war er ein Schwimmer geworden. Und die Tatsache, dass er wusste, sie wäre trotzdem da, wenn er sich falsch entschied, machte sie zu jener Person. 

Minou setzte sich neben ihn, legte den Kopf in den Nacken und machte die Augen zu. Lange Zeit sagte niemand etwas. 

Selten hatte sich die Erschöpfung in Oscars Gliedern so gut angefühlt wie an diesem Abend an der Spree. Sie enthielt Zuversicht und die Gewissheit, dass sich in Kapitel 29 seines Lebens die Dinge langsam, aber endgültig verändert hatten. Er blickte zu Minou, deren Augen sich wieder geöffnet hatten und mit nachdenklichem Blick den Himmel musterten. Irgendwann würde er es schaffen zu reden. Über die Brüche, denen er sich nicht stellen konnte. „Jeder hat hässliche Seiten, Oscar. Aber dahinter steckt in den seltensten Fällen Boshaftigkeit. Meist sind das schlecht gelegte Schmerzumleitungen.“ Auf diese Aussage Minous hatte er wie so oft nichts entgegnet, so sehr hatte sie ihn getroffen. 

Bald würden sie zurück ins Auto steigen und diese Momentidylle verlassen. Aus Sonntag würde Montag werden, der Sommer würde zu Ende gehen. Aber das Verstreichen der Zeit war für ihn kein negativer Faktor mehr. Denn er hatte gelernt sie zu nutzen. Träume als Fixpunkte zu sehen und Entscheidungen als Sprungbretter in neue Gewässer. Es war ein scheinbar belangloser Tag in seinem Leben gewesen, als er Minou zum ersten Mal traf, der für ihn über das vergangene Jahr zu einem Genrewechsel seiner Geschichte führte. Vielleicht, weil er zum ersten Mal wirklich zugehört hatte, als er lieber weggelaufen wäre. Vielleicht, weil er eingesehen hatte, dass nur Angst zu haben die schlechteste Ausrede ist. Und ziemlich sicher, weil er sämtliche ‘vielleichts’ aus seinem Wortschatz gestrichen hatte. 

Er hatte nicht unter Kontrolle, wie viele Seiten in seinem Leben noch den Namen Minou enthalten durften. Aber er hatte beschlossen, alles in seiner Macht Stehende dafür zu tun, dass die Summe eine beeindruckende Endlichkeit ergeben würde.


11. August, Wien, verfasst von Annika Valerie Wagner 


// Annika Wagner (Autorin) //

Annika hat sich in der großen, weiten Welt der Wörter schon immer sehr wohl gefühlt und ihren Lebensweg dementsprechend eingeschlagen. Nach einigen Jahren in einem Buchverlag, hat sie sich als Redakteurin selbstständig gemacht. Seither schreibt sie für verschiedene Plattformen, die eigene Text-Schublade und ist stellvertretende Redaktionsleitung bei einem Münchner Onlinemagazin. Falls ihr mal in die Schublade schauen wollt, erreicht ihr sie unter: annika@gedankenstreich.de.


// Fine Heininger und Madeleine Penny Potganski aka Matrosenhunde (Illustratorinnen) //

An den unbeobachteten Kippstellen des Lebens machen sich Matrosenhunde in Bild und Text auf die Suche nach Verortung und Alltagsambivalenz, finden unverhofft Berührungspunkte und sortieren sich neu: Wo findet das Leben statt und wer erkennt den bedeutsamen Augenblick? In Zeichnung und Text entstehen prosaische Alltagsnotizen und erzählerische Anknüpfungspunkte. Fine Heininger studierte Kommunikationsdesign und Illustration in Berlin und Paris und ist als Illustratorin und Art Direktorin mit einer Vorliebe für rote Tusche und spontane Skizzen zuständig für Zeichnung, Typo und Layout bei Matrosenhunde. Daneben arbeitet sie mit ihrem Grafikstudio Denken und Handeln daran, relevante Themen und komplexe Inhalte zu visualisieren. Madeleine Penny Potganski kümmert sich als Autorin, Konzepterin und Texterin um Worte und Wendungen. Sie studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Geschichte und Kunstgeschichte in Wien und Berlin. Mit ihrem Konzeptstudio KLEiNE EiNHEiT entwickelt sie außerdem Ideen und Geschichten für Unternehmen und Institutionen, schreibt Artikel und bringt die Dinge auf den Punkt. Zwischen Kindern, Kunst und Tätigsein streifen Matrosenhunde gemeinsam umher und lassen sich nieder, gucken aufs Wasser und stehen nie zur selben Zeit auf. Manchmal teilen sie sich ein Gehirn, immer sind sie zusammen ein dicker Mann im Streifenpullover.