Am Morgen ist die Fremde lauter

von Alyssa Lara Koch

Sie beugt sich nach vorn. Nimmt ein Stück Distanz aus der Nähe zu mir. Das finde ich nett – auch wenn mein Kragen jetzt zu eng ist. Ich fasse hin und reiße dran, nur ein bisschen, hoffentlich unauffällig, dann hole ich zu laut Luft.
Ihr Oberkörper ist nun diagonal über einen Schreibtisch geneigt, der für jeden Kontext zu groß und zu schwer wäre, und sie spuckt. Sie spuckt eine Diagnose, meine Diagnose, zwischen uns auf die holzbraune Tischplatte, die sie zur Ärztin und mich zur Patientin macht. Ich beäuge das Wort, benommen, bevor ich es in beide Hände nehme. Als ob es ein Wort wie jedes andere wäre; ist es nicht. Dann hauche ich seiner Oberfläche entgegen, bis sie weißlich anläuft, kondensiert, ich ziehe den Ärmel über mein rechtes Handgelenk und wische wische wische. Die zwei Silben auf meinen Handflächen, jetzt sauber und trocken, erscheinen mir hohl und leer – Ich sehe zu ihr auf, nur kurz, weil ich lange nicht kann, dann sage ich, vorsichtig: Was Sie hier zu transportieren versuchen, kommt nicht bei mir an. Aber das Sprechzimmer zieht meine Stimme so lang und dünn, die Ärztin wird mich nicht verstanden haben, wahrscheinlich antwortet sie nur dem dösigen Ausdruck auf meinem Gesicht. Sie ist sich sicher, ich bin es nicht, eigentlich glaube ich kaum, weil ich doch weiß, wer ich bin, oder nicht? und was war, nein, eigentlich weiß ich es nicht, aber das war mir bis dahin gar nicht aufgefallen, da sind nur noch Fetzen, die ich vergessen will, aber sollte ich nicht viel mehr aushalten können?, doch. Ich verliere den Faden, im Kopf und im Raum, der zwischen ihr und mir entstanden ist, dann frage ich, jetzt zum dritten Mal(?): Was? Sie: Trauma. Ich nehme das T, T steht für Trauma, hefte es als Notiz im Hinterkopf ab und unterstreiche dreimal in Rot, damit ich nicht wieder fragen muss, wie eine ewig Unaufmerksame, eine furchtbar Vergessliche. Als sie sich aufrichtet, spiegelt mein Körper ihre Bewegung, so schnell, dass wir beinahe synchron stehen und Richtung Tür gehen; Normalsein ist alles, es schützt. Aber nur, wenn meine alten Regeln hier noch greifen, und da bin ich nicht sicher. Trotzdem versuche ich, meine Schrittgröße ihrer anzupassen und die zuckenden Muskeln in meinem Gesicht zu entspannen. Meine Hand umklammert das T, ein Bruchstück, den Rest habe ich vorsichtshalber auf dem Tisch der Ärztin liegen gelassen. Und es ist nicht ihre Art, ihn mir hinterherzutragen.


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Eine Woche später, vielleicht um neun, bin ich wieder dort. Weil ich zuhause, wieder, dachte, ich könne nicht mehr. Dieses Gefühl, Fremde?, ist am Morgen so laut wie sonst nie. Wenn der Tag noch vor mir liegt, frisch und fein sein sollte, aber schon ballert, klarmacht: hier stimmt was nicht HIER STIMMT NICHTS. Ich betrete das Wartezimmer und atme ein. Die Wartenden sind zu nah und zu viele, mein Atem bleibt stecken. Ich setze mich, obwohl die Muskeln im Körper und die Stimmen im Kopf schreien, dass ich rennen solle, entkommen müsse, weil wir hier nicht sicher nicht sicher nicht sicher seien, mein Mantra, dann, endlich: ein Surren, mein Brennpunkt, die Schwelle, das Rauschen und schwuuuuuh bin ich weg. Der Atem wird lahm, der Nacken schlaff und der Kopf kullert zur Seite, bis er gegen die Zimmerwand dotzt. So hänge ich, mehr weg als da, leerer Sack auf Stuhl, bis eine Stimme meinen Namen ruft und mich unsanft zurückholt. Ich stehe auf und gehe, auf Beinen wie Stelzen, der Ärztin hinterher, ins Sprechzimmer, wo heute etwas passieren muss, weil ich doch so nicht mehr kann.


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Meine Brüder lachen, als ich sage: Manchmal falle ich und stelle mich tot, wie diese eine Reptilien-Art, oder machen das viele so? Ich lache mit, aus Reflex, wenn alles zu viel und zu laut wird, hüstele ich noch, schließen sich meine Augen und ich wundere mich über die Dunkelheit. Ich sage nicht: Wenn ich dann gerade auf der Straße stehe, muss man mich auf den Gehweg ziehen, bevor das nächste Auto kommt. Und ich frage auch nicht: Meint ihr, wir könnten morgen schon tot sein? Oder dass wir achtzig werden und bis dahin sowas wie sicher sind?


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WITH OUT WORDS von Marin Bösch
Trauma ist Exil im Kopf, warum habt ihr mir das so nicht gesagt? Die unfreiwillige Auswanderung aus dem Körper, Brust taub, Beine auch, alles fremd und das Gesicht DIESES GESICHT – das kann ich nicht sein, aber wer ist es dann?
Nur manchmal mache ich die Augen ganz auf, dann geht ein Bild hinein, ich bin der Panther. Sehe noch immer, für immer, die Menschen, die kamen, aber nicht blieben. Die gingen, als wäre es nichts! Einsamkeit ist Schmerz im Körper, ich kann nicht atmen, aber muss doch, kann nicht schreien, aber muss doch, brenne ich?, lösch mich, scheiße, halt mich!, so fest, dass deine Haut gegen meine drückt, dein Herz gegen meins schlägt, aber ICH WAR DOCH ALLEIN und sicher kann es jetzt nur zu spät sein? Dann, wieder: Ich spüre nichts mehr. Weiß auch nichts.


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Ich sehe herunter, auf meine Hände, die jetzt das ganze T-Wort umkrallen. Entspannt bin ich nicht, eher panisch. Ich jage dem einzigen Sinn nach, den ich hier finden kann, sammle alte Erinnerungen und neues Verständnis. Das Wort ist der Exit, mein Ausweg. Dahin, wo es weniger wehtut. Nur stehe ich noch am Anfang. Und für einen Anfang bin ich unendlich müde. Ich gehe trotzdem weiter –


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Jetzt frage ich mich, warum ich nicht eher darauf gekommen bin, mein Narrativ mit dem meiner Schwestern abzugleichen. Weil unsere Inkongruenzen mich hätten stutzig machen müssen, weil wir unsere Lücken mit den Fetzen der anderen hätten füllen können. Vielleicht wären wir längst ganz gewesen. Treffen wir uns morgen auf der anderen Seite?


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An der Schwelle zum Park, auf dem Schotterboden: eine Taube. Zwischen grauem Köpfchen und rosa Krallen fluoresziert ihr Brustgefieder in der Sonne mal grün und mal lila. Dieser schillernde Vogel hier holt mich ab und dringt in mich ein, vorbei an dem Scheiß, der so wehtut, und jetzt STEHE ICH HIER, als die, die ICH BIN: ICH TOSE, aber gemächlich, meine KRAFT GEWALTIG, aber NATÜRLICH wie die BRAUSENDE FLUT, ICH BIN GAIA, erfüllt vom MOMENT hier, DER ALLES IST, GAIA, GÖTTIN der ERDE, der BÄUME und des kleinen Springbrunnens im GROSSEN PARK, STÄRKER als die meisten, du kannst mir nicht wehtun, versuch es doch, du prallst an mir ab, wie ein Kiesel am BERG, ICH BIN GAIA, meine ARME WIEGEN mit den ÄSTEN im WIND, meine BEINE sind STARK wie SÄULEN, FÜßE und ZEHEN verschmelzen mit dem Gras, auf dem ICH STEHE, darunter hält mich die ERDE, FEST, an meinen URALTEN WURZELN, ich TRINKE das WASSER tief unter uns, ICH BIN GAIA FICK DICH DU BIST MIR EGAL ES IST EGAL WOHER ICH KOMME UND WOHIN ICH GEHE JETZT BIN ICH HIER DER REST IST EGAL.