ein plädoyer für die comfort zone

von Maria-Christina Schinko


Illustration von Elena Dorn

 

der text hätte wohl schon in den 2010er jahren geschrieben werden sollen. aber wie so oft, bin ich late to the party. geschuldet meiner langen leitung. geschuldet den festen, auf denen ich lieber tanze, als dort hinzusehen, wo es weh tut.

wo es weh tut.

wem um alles in der welt ist denn überhaupt eingefallen, da hinzusehen? auf das, was man nicht hat. nie gehabt hat. nicht kennt. nicht kann. nicht fühlt. immer muss man der sache nachgehen. zurück in die kindheit gehen. ängste verarbeiten. wunden sperrangelweit aufreißen und ganze hände hineinlegen. darin herumwühlen. oh, es hat nicht funktioniert? das muss an dir liegen.

zeig mir die mit der glücklichen kindheit. das glaubt dir sowieso niemand. denn du kannst nicht bleiben, wie du bist. du musst weitergehen, du musst über den tellerrand schauen, du musst ausprobieren, du musst dich entwickeln, du musst grenzen durchbrechen, du musst raus aus der comfort zone.

einen scheiß muss ich.

bleib in den 2010ern mit dem gerede. der rechtfertigung aller selbstoptimierer:innen. dem grund konstanten unwohlseins. dem dauernden abgleichen von dem, was du willst und dem, was ich bin. ich kenne mich nicht aus, in dieser uncomfort zone. alles ist neu dort, ich kenne die orte nicht, ich kenne die menschen nicht, sie machen mir angst, ich hänge in der luft, es raubt mir den geist. dann wird es gefährlich, ich rutsche, aus in den fettnäpfchen, ich werde gemein.

dann wieder: wie kannst du so sein, so kannst du nicht bleiben, du musst an dir arbeiten, du musst hinsehen, es liegt alles an dir, du musst dich selbst finden. hab ich doch schon längst, ich hab mich ja nie verloren. ich war da, in der comfort zone. kennst du die? da, wo mein lachen laut ist und die witze dreckig sind. da, wo ich meinen platz kenne und unbeschwert zwischen den stühlen umherhüpfe. da, wo ich mutig bin, mich zurückziehe und herauskomme, wann immer ich das will. da, wo ich mich fallen lasse, ohne dass schnell jemand dahergelaufen kommt, mit einem flotten spruch auf den lippen, so wie "aufstehen, krone richten, aufstehen, krone richten, weitermachen. bla bla bla.”

wer um alles in der welt?

hat so etwas erfunden? das mit dem helfer:innensyndrom hast du irgendwie falsch verstanden. wenn du dir selbst hilfst, hilfst du damit nicht mir. wie ist es so, andere zu empowern? ihnen dein leben aufzudrängen? ein:e geborene:r mentor:in bist du. ja, du bist gefallen und wieder aufgestanden, du hast es geschafft. was auch immer. nudeln aufzusetzen. nicht zu versalzen. stark. glückwunsch.

kein tag ohne ziel. immer etwas erreichen wollen. immer etwas erreichen müssen. jemand sein wollen. jemand sein müssen. ich bin ja schon wer. vielleicht nicht so, wie du mich haben willst. nicht da, wo du mich haben willst. einfach nicht du. du weißt, wie leben geht. you’ve got it figured out. du warst da, in der uncomfort zone. du hast dich von deiner unsicherheit nicht einschüchtern lassen, du bist daran gewachsen. denn jede:r muss wachsen. ich habe es auf stattliche 155 zentimeter geschafft. schuhgröße 34. ich bin zufrieden, muss ich sagen. nein, sagst du. was?, sage ich. du weißt besser, was ich wollen soll.

verzeih, aber ich muss weg.

ich leg mich kurz hin. ich bin in der comfort zone. da, wo ich nichts muss und alles kann. da, wo ich weinen kann, ohne jemals aufzuhören. wo ich lesen kann. und duschen, bis das wasser kalt ist. wo ich durch insta scrollen kann, bis meine fingerkuppen kein profil mehr haben. ruf mich nicht an. ich werde schon aufstehen, wenn mir wieder danach ist.