Das Geräusch von Zügen
von Sandra Beck
Die Sonnenblume wippt im Takt des Zuges leicht mit ihrem Kopf, als nicke sie angetan über die Aussicht. Ich kann ihre Begeisterung nicht teilen, die Landschaft hinter dem Fenster ist die übliche deutsche Mischung aus genormten Einfamiliengefängnissen, graffitiverzierten Betonüberführungen und Gebrauchsgebüsch. Ich schließe die Augen, lausche dem Knistern der Butterbrottüten und dem Rauschen der Klimaanlage. Ich vermisse das Rattern der Züge von früher, die wechselnden Sounds, wenn sie über Weichen fuhren, bremsten, beschleunigten. Die fast schallisolierten Röhren der Abteile von heute machen die zurückgelegte Strecke zu einem zeitlosen Vakuum, nicht zu einer Erfahrung.
Meine Zugfahrt dauert drei Stunden pro Strecke. Es ist ein besonderes Pflegeheim, in dem mein Vater seit einem Jahr wohnt. Deshalb musste er unsere Stadt verlassen. An meinen Besuchstagen krieche ich morgens immer um dieselbe Zeit aus meinem Bett, weckergeschüttelt, mit verkrampften Muskeln und brennenden Augen. In den Nächten davor schlafe ich unruhig. Ich fahre nur einmal im Monat hin, öfter schaffe ich es nicht, und versuche, mein schlechtes Gewissen mit den Symptombeschreibungen seines Arztes zu beruhigen. Seine Krankheit beeinflusse die Erinnerung, das Zeitgefühl, vielleicht sei der letzte Besuch für ihn gefühlt nur wenige Tage her … Manchmal glaube ich diese Angehörigenentlastung beinahe selbst.
Er sitzt auf seiner Bank neben dem Haupteingang. Dort erwartet er mich immer. Seine unruhig scharrenden Füße haben bereits eine Furche in den Sandboden gegraben. Zwischen Zeigefinger und Daumen klemmt eine erloschene Zigarette, die Haut dort ist schwärzlich versengt, denn er spürt den Schmerz nicht mehr. Früher blickte mein Vater verächtlich auf Blumen herab. Wenn meine Mutter einen Strauß mit nach Hause brachte, kunstvoll arrangiert, lachte er nur kurz auf. Reine Geldverschwendung, wer brauche schon Dekoration. Doch jetzt nimmt er meine Sonnenblume so vorsichtig entgegen, als bestehe sie aus dünnem Glas. Später werde ich sie wie jedes Mal in seine Lieblingsvase stellen.
„Schön, dass du gekommen bist“, nuschelt er, als ich mich neben ihn setze. „Sieh mal, der Ballon.“ Pflichtschuldig blicke ich sofort nach oben, in den grau gewölkten Himmel, doch ich kann ihn nicht entdecken, da deutet mein Vater ungeduldig nach vorne, in das Gebüsch vor uns, „dort ist er, dort”, und da sehe ich ihn, einen roten, schon etwas faltigen Luftballon. Er klemmt in einem der stacheligen Ginsterbüsche und verteidigt tapfer seine letzten Luftreserven. Wo kommt er nur her? Das hier ist nicht der richtige Ort für Kindergeburtstage. Mein Vater lächelt schief, während er den Ballon betrachtet, und in seiner Versunkenheit bemerkt er nicht, wie ich ihn beobachte. Wie ich in diesem kurzen Moment zu erahnen versuche, inwieweit sich sein Zustand in den letzten vier Wochen verschlechtert hat. Ich möchte gewappnet sein, am Beginn des Tages, den wir gemeinsam verbringen werden. Doch alles, was ich wahrnehme, ist sein Gesicht, und wie so oft, wenn ich ihn anblicke, sehe ich sowohl etwas Vertrautes - die Züge, die ich von ihm geerbt habe - als auch etwas, das mir immer fremd bleiben wird.
„Was macht das Studium?“, will mein Vater nun wissen. „Alles in Ordnung?“ Brav äußere ich zwei, drei Sätze, das ist Teil unseres gewohnten Ablaufs. Über meine Mutter reden wir nie. Doch heute ist mein Vater noch ungeduldiger als sonst. Er steht bereits, bevor ich geendet habe. Ich weiß, worauf er wartet, er wartet auf das Konzert. Ich nehme seine Hand und führe ihn zum Eingang. Taumelnd tapst er an meiner Seite, wie ein zu groß geratenes Kind mit schweren, aufgedunsenen Händen. Das alles gehört zu der unheilbaren Krankheit, die seine Familie wie ein böser Fluch durchzieht und die Betroffenen nach jahrelangem Leiden qualvoll ersticken lässt. Als ich vor zwei Jahren mein negatives Testergebnis erhielt, fühlte ich mich beinahe schuldig. In den sechs Wochen des Wartens darauf war ich unsicher gewesen, welches Resultat mein Vater sich erhoffte. Wir haben nie darüber gesprochen. Vielleicht hatte er sich gewünscht, dass wir uns durch die Krankheit näherkommen. Nun trennt sie uns.
Wir schlurfen in den Fahrstuhl und fahren auf seine Etage. Auf dem Flur sitzt wie immer der Patient aus dem Zimmer nebenan, der lautstark über das Haustelefon mit seinen Geistern telefoniert. Das Zimmer meines Vaters ist spärlich eingerichtet, als hätte man in seinem Zustand nicht viel zu brauchen. Die Normware der chronisch Kranken besteht aus einem höhenverstellbaren Kiefernholzbett, einem billigen Zahnarztpraxiskunstdruck mit fröhlich bunten Blumen, einem Tisch mit zwei Stühlen und einem kleinen Regal, auf dem ein Ghettoblaster steht, leicht verstaubt. Mein Vater geht direkt zu ihm und öffnet mit einem Knopfdruck seine Klappe, doch beim Öffnen der CD-Hülle hat er sichtlich Schwierigkeiten. Ungeschickt fummelt er mit seinen plumpen Fingern daran herum, aber ich weiß, dass ich ihm nicht helfen darf, sonst wird er wütend. Ich muss die Hülle nicht sehen, um zu wissen, dass auf dem Cover eine Bühne abgebildet ist, eingerahmt von der dunstig verschwommenen Kulisse der New Yorker Skyline, darüber die Schrift „Paul Simon’s Concert In The Park“ und kleiner in der unteren Ecke „August 15th, 1991“.
Ich erinnere mich noch genau, wo wir gestanden haben, schräg links vor der Bühne, ein früh erkämpfter Platz. Wir waren schon eine Woche in New York, liefen jeden Tag durch die Stadt, trunken vom silbrig schimmernden Licht, das zwischen den Hochhäusern hing. Galerien, Museen, Buchläden, Cafés - gierig fraßen wir uns Block für Block durch alles hindurch, als ahnten wir bereits, dass dies nicht nur unsere erste, sondern auch unsere letzte gemeinsame Reise sein würde. Eines Abends fragte uns der Fahrstuhlführer unseres Hotels in raunendem Tonfall, ob wir schon von dem Konzert gehört hätten, das am nächsten Tag im Central Park stattfinden sollte, „for free“. Hatten wir nicht, aber wir gehörten zu den ersten, die schon Stunden vor Beginn im Park herumliefen, zwischen den spätsommerlich nachgedunkelten Bäumen auf der Suche nach dem besten Platz. Dort standen wir mehrere Stunden, bis es endlich los ging; die Sonne brannte herunter, der Himmel war weiß und hoch, doch wir trauten uns kaum, etwas zu trinken zu holen oder auf eines der muffigen Plastikklos zu gehen.
Jetzt sitzen wir auf den braunmelierten Standardstühlen und mein Vater drückt den Startknopf, der Abtaster sucht sich seinen Platz, und dann sind wir wieder dort, die Schreie der Menschen um uns herum, „Paul, Paul“, ungeduldig auf den Beginn wartend. Und wenn die ersten Takte der Band erklingen, tanzen wir auf dem sommerverbrannten Rasen, mein Vater schwenkt seine Arme über dem Kopf und lacht mich an, als habe er nie etwas anderes getan, als habe es all die wortlosen Jahre nie gegeben, als seien wir uns immer so nah gewesen wie in diesem Moment. Von außen wirken wir sicher glücklich, vielleicht nimmt uns die Fernsehkamera auf, die das Konzert aufzeichnet, und plötzlich sind wir ein ganz normales Vater-Tochter-Duo unter vielen. Wie immer wissen die anderen nichts von der Wirklichkeit, nichts von dem Schmerz.
Es war nicht nur unsere letzte, sondern auch unsere erste Reise zu zweit, hart erkämpft nach Jahren der Sprachlosigkeit und Ablehnung. Meine Mutter hatte uns mit böswilliger Hartnäckigkeit entfremdet, und erst nachdem sich meine Eltern getrennt hatten, fanden mein Vater und ich auf zaghafte, zögerliche Weise zueinander. Wir trafen uns ohne ihr Wissen wie heimliche Liebende in rauchigen Cafés, unterhielten uns stockend, mit immer wieder aufklaffenden Pausen, als müssten wir erst eine gemeinsame Sprache finden. Irgendwann planten wir unsere Reise nach New York.
Hätten wir früher gewusst, was auf uns zukommen, was folgen würde, hätten wir jetzt vielleicht mehr als eine abgegriffene CD, ein niedergetretenes Stück Rasen unter unseren Füßen. Doch wer will sich schon beschweren in diesem Moment, wenn die Menge kreischt und jubelt, wenn die dumpfen Trommeln ertönen? Wer will etwas bedauern, wenn mein Vater mich plötzlich an der Hand nimmt und im Kreis führt, als sei ich seine frisch angetraute Braut? Ich drehe mich und sehe die Bäume, die Menschen, die Wolkenkratzer, den Himmel über mir, wir bewegen uns schneller und schneller, und wenn es einen perfekten Moment gibt, dann diesen – und jetzt wippt sogar der Fuß meines Vaters, in seinem grau gestreiften Filzpantoffel.
Bei jedem meiner Besuche hören wir ein Lied weniger von der CD. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass er sich aufgrund seiner Krankheit immer schlechter konzentrieren kann, oder ob er die Erinnerung immer weniger erträgt. Irgendwann werden wir wohl nur noch das erste Lied hören und beim nächsten Besuch stumm voreinander sitzen. Der Gedanke fällt mir schwer, denn auf ein Lied warte ich jedes Mal. Es liegt mir besonders am Herzen, es ist ein ruhiger Song, bei dem die Menschen plötzlich still wurden und sich in den Arm nahmen, dort im Park. Eine Zeile des Refrains treibt mir auch jetzt noch die Tränen in die Augen: Everybody loves the sound of a train in the distance, jeder liebt das Geräusch eines Zuges in der Ferne. Es ist ein Geräusch, das sofort eine Assoziation oder eine Empfindung weckt. Es kann das Geräusch des Aufbruchs sein, der Veränderung, aber auch der Begegnung, der Annäherung. Fast immer sind Erwartungen damit verknüpft.
Und dann sitze ich wieder im Zug. Die Landschaft hinter dem Fenster liegt nun im Dunkeln, aber davor sehe ich das Gesicht meines Vaters aufblitzen, wie eine Projektion. Er steht an der Auffahrt des Heimgeländes und sieht mir nach, sein Gesicht wieder auf permanente Enttäuschung eingestellt. Er hebt die Hand zum Gruß, und ich sehe ihn kleiner und kleiner werden, bis er verschwindet, in der Ferne, und die Scheibe nur noch mein Spiegelbild zeigt.
Die letzten Zeilen des Songs schleichen sich in meinen Kopf. The thought that life could be better is woven indelibly into our hearts and our brains, der Gedanke, dass das Leben besser sein könnte, ist unauslöschlich in unsere Herzen und unser Gehirn gewebt, und ich verspüre Sehnsucht nach einer Vergangenheit, in der Züge noch ratterten und ich neben meinem Vater tanzte, in einem perfekten Moment, in dem die Zukunft nur ein Gedanke war, eine Hoffnung.