Deine Wut

von Insa Birkenhagen 

Müde lehne ich meinen Kopf gegen das Fenster. Die Betonplatten der Stadtautobahn  lassen meine Stirn gegen die Scheiben knallen, einmal, zweimal und immer wieder.  

„Du tust dir noch weh“, sagst du und ziehst mich an meinem Arm von der Scheibe weg. 
„Wo müssen wir raus?“ Angestrengt guckst du auf das Navi. „Jetzt schon, oder die nächste?“ 

„Die nächste.“  

Neben uns baut sich sich das Messegelände als gigantischer Metallriese auf. Mein Blick fährt seine vielen Ecken und Kanten ab, die unzähligen Platten aus Aluminium. Mit jedem Meter, den wir hinter uns bringen, versuche ich, mich hineinzubegeben in die Bilder, die wie in einem Daumenkino an mir vorbeiziehen. Ich will der Situation entkommen; hier mit dir, nur eine Armlänge entfernt, auf dem Weg zurück. Zurück dorthin, wo die geräuschlose Langeweile wie Spinnenweben in den Ecken klebt und sich als milchiger Schleier um einen legt. Dieser Schleier wollte mir aber nie so richtig passen, weil du immer zwischen mir und dieser eigentlichen Ruhe gestanden hast. 

Ich muss ungefähr dreizehn Jahre alt gewesen sein, da wurde an einem Dienstagabend im frühen November der Mann mit roter Krawatte das erste Mal ins Weiße Haus gewählt. Meine Schwester und ich wollten gemeinsam mit Freundinnen die Ergebnisse der Wahl abwarten, und weil du nur so selten daheim warst, sollte das Ganze bei uns stattfinden. 

„Ist doch entspannt“, hatte eine Freundin gesagt  und ich nicht gewusst, was ich darauf antworten sollte.  

Den Nachmittag verbrachten wir im Garten, die späte Sonne schien uns ins Gesicht. Zwischen dem Vogelzwitschern lauschte ich nach dem Röcheln deines Autos. Ich muss es überhört haben, muss abgelenkt gewesen sein, von den großen Erzählungen kleinster Details um mich herum. Von Gemeinheiten im Klassenzimmer und Pärchen, die nicht mehr zusammen waren. Denn als wir wieder ins Haus kamen und uns ins Kinderzimmer setzten, hörte ich dich in der Küche mit den Töpfen klappern.   

Meine Angst stieg und kochte über. Ich sagte, dass ich aufs Klo musste, und ging stattdessen in die Küche, um dir zu helfen. Auf Eierschalen tanzte ich um deinen geschäftigen Körper, um ihn zu beschützen.  Ich schloss offene Schubladen, damit du dich nicht an ihnen stoßen würdest, und wischte deinem Kleckern hinterher, damit deine Socken nicht nass werden würden. 

„Hab’ nur kurz mit Papa gequatscht“, antwortete ich den fragenden Gesichtern meiner Freundinnen, als ich wieder zurück ins Kinderzimmer kam. 

„Er meint, es gibt gleich Essen.“ 

In den Augen meiner Schwester erkannte ich meine eigene Panik wieder. Später saßen wir alle beieinander um den dicht bepackten Esstisch, du an seinem Kopf, und ich beobachtete angespannt die kleinen Hände, wie sie über den Tisch griffen. Und dann kam eine Freundin mit ihrem Ellbogen an ihr Glas und sein Inhalt ergoss sich in gelber Saftschorle auf der weißen Tischdecke. Ich wollte sie schütteln, sie fragen, warum sie nicht besser aufpassen konnte. Aber das wären deine Worte gewesen, und überhaupt konnte ich mich nicht bewegen, konnte nichts sagen, sondern schaute dir unbewegt zu, wie du in die Küche marschiertest und deiner Wut brüllend Luft machtest, bevor du mit der Küchenrolle in der Hand wieder zurückkamst. Unsere Freundinnen erholten sich schnell von deinem Lärm. Für sie war es das erste und letzte Mal, dass sie deinen Terror mitbekamen. Sie dachten wahrscheinlich, du hättest einen schlechten Tag. Aber ich spürte meine Anspannung in dem Körper meiner Schwester neben mir. Und während wir später dem Mann mit roter Krawatte dabei zuschauten, wie er Präsident wurde, warst du derjenige, vor dem wir Angst hatten. 

Deine Wut hat sich eingebrannt über die Jahre. In dunklen Löchern, wie Brandnarben ausgerauchter Zigaretten. In dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin, wird sich von der  Beschaulichkeit zwischen den Fachwerkhäusern und dem Ackerbau erzählt. Ich erinnere ihn anders, erinnere deinen Lärm, wie er jeden Frieden überschwemmte. Er spülte mich  bis an die Bordsteinkante. Dort verweilte ich zwischen deinen Schreien und der stillen Ereignislosigkeit sonst im Ort. Ich war nie Teil des Ganzen. Konnte meinen Platz nie finden, sondern irrte rastlos über den buntbemalten Schulhof, durch das Klassenzimmer hinter dem Waschbeton und die alteingessenen Sportvereine. Ich konnte nie Wurzeln schlagen, in diesem verwachsenen Gewebe, und irgendwann verschluckten sie sich an mir, spuckten mich aus. Und dann saß ich also ausgespuckt und aufgeregt in deinem kleinen Laster mit der schlechten Federung.  

Erst kam ich dich noch für Feiertage und wichtige Geburtstage besuchen. Aber irgendwann traute ich mich nicht mehr zurück in deinen Lärm. Die Wochen und Monate stellten sich zwischen uns, und du wurdest leiser. Endlich konnte ich all das hören, was du so lange übertönt hattest. Es war ein neuer Lärm, aber ich war nicht mehr alleine mit ihm. Da war die laute Angst, als Menschen krank wurden und niemand sich auf die Straße traute. Als manche für sich und andere gemeinsam einen neuen Frust entdeckten, ihren alten Hass ausgruben und ihn nach vielen Jahren plötzlich wieder laut vor der Brust her trugen. Ich konnte hören, wie das wegignorierte Hintergrundgeräusch von Ungerechtigkeiten immer lauter wurde. Ich stellte mich dazu, in die Reihen und Massen von Menschen, die ihre Forderungen in die Stadtluft schrien. Ich konnte sie hören, weil du nicht unter ihnen warst. Ihre Schreie waren lauter als die Spuren, die du hinterlassen hattest. Und dann heiratet mein Bruder, er will in deinem Garten feiern, und weil die Züge streiken, holst du mich ab. Jetzt sitzt du wieder neben mir und ich halte den Atem an, mit jeder roten Ampel, mit jedem bremsenden Auto vor uns. 

Wir umkreisen den Funkturm und nehmen die Ausfahrt in den Südwesten. Ich schaue noch lange in den Rückspiegel, bis auch die letzten Gebäude von hohen Tannen verschluckt worden sind. Kilometer lang fahren wir über schnurgeraden Asphalt. Am Rand der Metropolregion sollen Flüsterasphalt und meterhoher Wall dem Lärm der acht Spuren Einhalt gebieten. Dich könnten sie nicht still kriegen, denke ich mir und halte meinen Blick auf den buntbemalten Beton gerichtet. 

Die Suche nach dem Urquell des Traumes von Georg Großmann

Stunden später rollen wir auf das abblätternde Holz der Garage zu. Ich höre, wie das Kies in der Einfahrt den schweren Reifen weicht. Die eierschalene Fassade deines Hauses,  das karge Grün des Vorgartens; tief eingeprägte Bilder. Wie auf Transparentpapier gesammelt und tausendfach gestapelt, die Linien verfestigt zu einem ewigen Stillleben. Du bringst meine Taschen in mein altes Zimmer. Zwischen Pferdepostern und weißen Vorhängen hängt meine Jugend wie Nagellackentferner in der  Luft. Beißend wabert sie mir entgegen, als ich an den Clownbuchstaben vorbei durch die Tür trete. In der Ecke steht noch immer mein viel zu großes Bett. Ich hatte es damals für wenig Geld einer alten Nachbarin abgekauft, um in dem massiven Gestell Ruhe zu finden, mich ausbreiten zu können. Die zwei auf zwei Meter sollten mein eigenes Stückchen Land sein, inmitten von deinem Herrschaftsgebiet. Aber dann ließ das Bett sich nicht auseinanderbauen und ich musste ich dich um Hilfe bitten. Natürlich hast du geholfen, das tust du immer. Aber du bist auch laut geworden, als ein Bettpfosten gegen den Türrahmen knallte und kleine Flecken hinterließ. Bis das Bett endlich in seiner Ecke stand, hatten deine Schreie sich längst wie kleine Flocken auf das dunkle Holz gelegt. Sie waren geschmolzen und in die offenen Fasern gesickert. Dort suchten sie mich heim, zwischen den Daunen und Decken. Es war unmöglich, deinem Terror zu entkommen, nicht einmal in dieser Ecke, auf diesem Bett, das meine Insel werden sollte. Dort, in dieser Ruhe, warst du lauter denn je. 

Noch immer kann ich dich hören, wie du dumpf aus dem Holz tönst. Ich versuche, mithilfe meines Handys nach Außen zu fliehen. Würde mich am liebsten durch den kleinen Bildschirm hindurchzwängen und mich in die Mitte des Lärms stellen, den er wiedergibt. Denn dieser Lärm ist greifbar und hat Struktur. Ich kann mich ihm widersetzen und bin gleichzeitig in sicherer Distanz. Wenn ich wollte, könnte ich ihm ausweichen. Und deswegen erscheint mir dieser Lärm so viel ungefährlicher als deiner. Ich fühle mich schlecht, weil ich so denke. Aber jetzt, wo ich hier liege und deine Schritte höre, sie mich bedrohlich umkreisen, wie hungrige Haie, da ist das tosende Außen ein Wiegenlied. In kurzen Intervallen flackert es auf meinem Handy und erinnert mich daran, dass ich lebendig bin. Dass es noch so viel mehr gibt, hinter den Grenzen deiner Wut. 

Es ist 23.30 Uhr. Mit meinem kleinen Rucksack und einer Isomatte in der Hand laufe ich die Hermannstraße entlang Richtung U-Bahn-Station. Die Rolltreppe führt mich unter die Erde und ich höre das vertraute Brummen des einfahrenden Zuges, beschleunige meine Schritte und lasse mich dann keuchend auf die bunten Sitze fallen. Mein Handy klingelt.  Du bist es. Aber das hier ist zu wichtig, um von dir abgelenkt zu werden, also schalte ich dich stumm. Ich konzentriere mich auf das Dröhnen im Hintergrund, wie die gelben Waggons  durch tiefe Schluchten preschen. Es dauert nicht lange und ich bin am Alexanderplatz angekommen und kämpfe mich durch das Labyrinth von grünen Fliesen. In kleinen Gruppen tummeln sich junge Menschen mit Schlafsäcken und Schildern. Grüne Warnwesten versuchen, Ordnung in das Gewusel von Aufregung und Müdigkeit zu bringen.  

Ein Bus bringt uns über Nacht in das Niemandsland ganz im Westen. Die Sonne geht auf, während wir aussteigen und die Landstraße entlang marschieren. Der Weg ist gesäumt von Einsatzwagen und vereinzelten Uniformen. Mit einem Podcast auf den Ohren versuche ich, so unbeteiligt wie möglich zu wirken. Wir passieren verlassene Dörfer, bis irgendwann ein langer Pfad auf einen kleinen Zeltplatz führt. Hinter dichter Böschung liegt er wie ein gestrandetes Piratenschiff. Hunderte Menschen bewegen sich auf breiten Holzplanken zwischen den Zelten hin und her. Unter ihnen ist der Boden weichgetreten, meterdicker Schlamm. Sobald etwas runterfällt, ist es verloren, wird mir gesagt.  

Gegen Vormittag verschwindet der schläfrige Frieden, und ich helfe, Kleber und Glitzer   auf den kalten Fingerkuppen zu verteilen. Dann hole ich mir eine Nummer für den Ermittlungsausschuss, damit ich nicht verloren gehe. Ich verewige mich und meine Zahlen auf den Körpern vertrauter Menschen. Später werden wir von heruntergekommenen Höfen empfangen und musikalisch durch die kleine Ortschaft begleitet. Wir verlassen das Dorf und steuern auf das Ackerland zu. Hektar an Schlamm, die in dem Tagebau, dieser gähnenden Leere, enden. Aus dem Graben ragen die Schaufelradbagger. Sie erinnern an Kampfläufer, und ich muss an dich denken, weil du dich damals so gefreut hast, uns diese Filme von den Sternen und dem Krieg zu zeigen. Ich will dich abschütteln, will, dass du verloren gehst im Schlamm. Ich ärgere mich über jede Sekunde, die du lauter bist als die Menschenmassen um mich herum. Lauter als das tiefe Loch, das bis hinter den Horizont reicht, und lauter als die Wasserwerfer und Mannschaftswägen. Du darfst nicht lauter sein als die Korruption und ihre hässliche Fratze und schon gar nicht lauter als unser Widerstand.  

Verzweifelt schaue ich mich in meiner Gruppe um, aber sie können dich nicht hören.  

Aus der Ferne erkenne ich einen Monopod. Der kahle Stamm ragt über die Wipfel der Bäume, an die er festgebunden wurde. Er muss zwanzig Meter hoch sein, und auf  ihm ein einsamer Pirat.