Der Spaziergang

– Von der sozialen Dynamik des Gehens und Sprechens

von Melina Brüggemann

Der Spaziergang kehrt wieder zurück. Gemeint ist nicht das alleinige Flanieren, Umherstreifen, Schlendern, Bummeln, Promenieren. Auch nicht die gemeinsame Entscheidung, noch ein wenig frische Luft zu schnappen und ein paar Schritte zu gehen oder eine längere Strecke zurückzulegen. Nein, der Spaziergang als einzige Möglichkeit einer realen zwischenmenschlichen Begegnung kehrt zurück. Aber war er je fort? Seitdem die COVID-19-Pandemie uns in den vergangenen Monaten und mittlerweile Jahren immer wieder (Schutz-)Räume nahm, in denen wir einander hätten begegnen können – wenn auch dabei zugleich andere eröffnete –, ist das gemeinsame Gehen zum Inbegriff eines sozialen Akts geworden. Natürlich gibt es seitdem auch die Menschen, die sich in selbstgefälliger Überlegenheit darüber profilieren, dass sie immer schon spazieren gegangen sind und sich auch immer schon bewusst dazu verabredet haben. (Oft, wenn auch nicht immer, sind es Menschen, die sich in ihren Denkbewegungen immer noch maßgeblich an Jacques Derrida orientieren.) Das mag zweifellos sein; dennoch wird eine Handlung, und in diesem Fall auch eine Bewegung, ebenso zweifellos durch ihre Alternativlosigkeit verändert, durch die Tatsache, dass sie die einzig erlaubte Form einer Zusammenkunft überhaupt darstellt. Sonntäglich strömend-spazierende Menschenmassen gab es ohne Frage immer schon, es geht hier keineswegs um eine Urszene oder gar Revolution des Spazierengehens. Es geht darum, welche sozialen Auswirkungen diese Form der räumlichen Begegnung mit sich bringt. Nachdem wir Monate hinter uns haben, in denen wir einander vorübergehend privat wieder in anderen, für uns zuvor selbstverständlichen Räumen begegnen konnten, nämlich in Cafés, Bars, Restaurants und Clubs, im Theater, Konzert und Museum, kehrt der Spaziergang, in den gerade beginnenden Wintermonaten und als Konsequenz der aktuellen Pandemieentwicklung, nun umso dringlicher zurück. Genauso die Angst vor Ausgangsbeschränkungen oder Einschränkungen des Bewegungsradius. 

Auch ich gehöre zu den Menschen, die immer schon viel und gern spazieren gehen, sowohl allein als auch gemeinsam; die darüber gelesen und geschrieben haben, die in fremden Großstädten von energetisierenden und inspirierenden Stimmungen und Schwingungen heimgesucht werden und sich zugleich nach einer landschaftlichen Grenzenlosigkeit im Blickfeld sehnen, um den Kopf ganz freizubekommen. Auch ich habe den vergangenen Winter in einer neuen Stadt und außerhalb meines beruflichen und reduzierten privaten Umfelds in großen Teilen allein verbracht, manchmal auch einsam, um im Spätsommer und Herbst dann all das nachgeholt zu haben, was wieder möglich zu sein schien. Auch bei mir kehrt daher momentan eine Verunsicherung hinsichtlich der vor uns liegenden Monate zurück – und aus eben diesem Grund häufen sich schon jetzt die Anfragen und Verabredungen für Spaziergänge, mit sehr vertrauten bis wenig oder gar nicht vertrauten Personen. Schon jetzt weiß ich, dass sich in ein paar Monaten wieder dieselbe Spaziergangs-Überdrüssigkeit einstellen wird, dieselbe Unlust auf rote Nasen, kalte Füße und fehlende Toiletten im öffentlichen Raum, die schwindende Neugier auf vermeintlich neue Unterhaltungen und Wege. Denn was nach all den Spaziergängen und während ihnen geführten Gesprächen in den vergangenen zwei Jahren am Ende immer übrig blieb, war ein Gefühl der Frustration. Die sprichwörtliche Lebensphilosophie, mit jedem Schritt glücklicher und leichter zu werden, schien auf einmal nicht mehr zu funktionieren. Der Spaziergang konnte mir nicht mehr das geben, was ich mir von ihm erhoffte. Stattdessen ging ich fast jedes Mal, trotz vieler schöner Begegnungen, mit einer bleibenden Unzufriedenheit nach Hause und dachte darüber nach, woher diese kam, inwiefern sie etwas mit mir, meiner Begleitung oder unserem Austausch zu tun hatte. Und je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, wie sehr das gemeinsame Gehen auch das gemeinsame Sprechen verändert. Michel Certeau, der seit seiner Kunst des Handelns zu den wichtigsten praxistheoretischen Denkern über den Alltag gehört und auch für unser Magazin ein wichtiger Stichwortgeber ist („Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht.“), schreibt: „Der Akt des Gehens ist für das urbane System das, was die Äußerung (der Sprechakt) für die Sprache oder für formulierte Aussagen ist.“ Ausgehend von dieser Analogie spricht Certeau von einer „Rhetorik des Gehens“, welche die Bewegungen von Passant:innen mit „Redewendungen“ und „Stilfiguren“ vergleicht, weil sie wie die Sprache verschiedene Stile und Gebrauchsformen enthält, die sie jeweils einzigartig macht. Diese Form des raumtheoretischen Denkens über die Aneignung topographischer Systeme, die das Gehen im kulturellen sowie sozio-politischen Raum als Ausdrucksformen, als Akte des Lesens und Schreibens untersucht, ist nicht neu. Dennoch habe ich das Verhältnis von sprechendem Gehen und gehendem Sprechen auf den Spaziergängen in den Pandemiemonaten am eigenen Körper als besonders ausgeformt wahrgenommen: Das Sprechen folgte dabei immer der Bewegung des Gehens, das verschiedene (Denk-)Räume miteinander verbindet.

Es ist doch so: Eine Verabredung in einem Café, wie sie in prä-pandemischen Zeiten üblich war, hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Zunächst gibt es da die Entscheidung: Wartet die zuerst eintreffende Person draußen oder sucht sie bereits einen Sitzplatz? Anschließend folgen Begrüßung, Floskeln, Bestellung (Entscheidung: Tee oder Kaffee?). Dann der Hauptteil: Das tatsächliche Sprechen, Fragen, Antworten, Erzählen, Zuhören, Lachen, Schweigen, bis die Getränke leer sind und entweder noch einmal bestellt oder bezahlt werden. Und schließlich die Verabschiedung, je nach Grad der Vertrautheit. Das Ganze ist eine runde Sache, und eben diese Form prägt auch das Gespräch, seine Dramaturgie, die Themenwechsel und ihre Übergänge. Es gibt kaum Störfaktoren, die in diese Begegnung eindringen können, die ja auf Augenhöhe zwischen zwei Menschen stattfindet, einander gegenübersitzend (abgesehen vom Servicepersonal oder Gang zur Toilette).

Beim gemeinsamen Spazierengehen hingegen entfaltet sich in der Bewegung durch den Außenraum eine ganz andere Dynamik, die sich auch und gerade auf die Gesprächsform überträgt. Selbst wenn die Strecke von vornherein festgelegt wurde, gibt es unvorhersehbare Unterbrechungen, Momente des Stockens, Stehenbleibens, Umdrehens, Abschweifens; überall lauern mögliche Abbiegungen, die von der eigentlichen Zielgerade wegführen und jegliche Kohärenz von Anfang, Mitte und Ende durchkreuzen. Beim Spazierengehen geht man nebeneinander, meist auf unterschiedlicher Augenhöhe, und macht unterschiedlich große Schritte. Man schaut nach vorne, nach unten, zur Seite – aber um einander anzuschauen, muss man seine Position verändern und den Blick vom Weg nehmen. All das überträgt sich auf den Gesprächsfluss, die potenzielle Sprunghaftigkeit von Themenwechseln, ebenso wie die simultanen äußeren Eindrücke stetig in den ungeschützten Innenraum der Begegnung eingreifen. Kennt man sich nicht allzu gut, kann das von Vorteil sein. Kennt man sich sehr gut, spielt es womöglich keine allzu bedeutsame Rolle. Ablenkungen und Unterbrechungen können schließlich die Unterhaltung anregen oder auflockern, gemeinsame Entdeckungen erzeugen Vertrautheit und schaffen Erinnerungen. Andersherum ist man einigen Personen so nah, dass die Unberechenbarkeit und Spontanität des Verlaufs und Verlaufens einen willkommenen Ausbruch aus gewohnten Mustern darstellt. Doch für alle zwischenmenschlichen Beziehungen dazwischen kann das gemeinsame Gehen formgebend sein.

Warum ich diese Spaziergänge und Gespräche oft als so frustrierend empfunden habe, ist, weil ich so oft mit einem Gefühl der Unabgeschlossenheit nach Hause ging, mit dem Eindruck, nicht die richtigen Worte gefunden und gewählt zu haben, bestimmten Themen nicht die ihnen angebrachte Aufmerksamkeit, Tiefe und Ruhe einräumen zu können, im Miteinander-Sprechen nicht zueinander gefunden zu haben. Fast immer hatte ich das Gefühl, mindestens einmal falsch abgebogen zu sein, um dann nicht mehr zum Vorherigen zurückzufinden. Und vor allem schien es mir, als hätte das Gespräch sich zu einem gewissen Zeitpunkt verselbstständigt, beschleunigt, sei nicht mehr lenkbar gewesen. Viele meiner Freund:innen erzählten mir, sie haben die Spaziergänge und Gespräche während der Pandemie als wesentlich intensiver wahrgenommen. Das kann ich gut nachvollziehen – und dennoch schien es mir, als sei das Wesentliche nie gesagt worden. Das Spannende ist: Die meisten Personen, die ich kenne, wählen für ernste und schwierige Gespräche bewusst den Spaziergang; vielleicht, um der anderen Person nicht in die Augen schauen zu müssen, ihr Raum und Luft, Fluchtwege und Tempowechsel zu ermöglichen. Auch ich habe mich in diesem Jahr beim Spazierengehen getrennt, als sich ein Gespräch wie oben beschrieben plötzlich beschleunigte und verselbstständigte, bis es schließlich kein Zurück und auch kein Vorwärts mehr zu geben schien. Vielleicht ist es auch schlichtweg die Intimität von Innenräumen, die man im Außenraum zu meiden versucht, um eine vermeintliche Rationalität freisetzen zu können. Dabei empfinde ich persönlich das gemeinsame Spazierengehen als ausgesprochen intim, selbst wenn man es mit Fremden tut, und selbst wenn man dabei nicht immer eine Verbindung aufbaut. Das Lustige ist: Die meisten Männer, die mir in meinem Leben bisher nahe gekommen sind, hatten (und haben vermutlich noch immer) entweder einen ulkigen Gang oder komische Füße. Und ich habe mich schon oft gefragt, was das über mich aussagt. 

Wie oft kehrte ich in den vergangenen Monaten also frustriert, niedergeschlagen, unruhig und auch in konfrontativer Stimmung von Spaziergängen zurück, mit dem Gefühl, trotz all des Weges etwas aus dem Weg gegangen zu sein. Nun könnte man dies als eine Angst vor Kontrollverlust verstehen, als ein Bedürfnis nach teleologischem Gehen und Sprechen – wie furchtbar das klingt! Räumlich und inhaltlich verloren zu gehen, sich zu ver(w)irren, ob allein oder gemeinsam, ist schließlich etwas Wunderbares und eröffnet neue Wege und Möglichkeiten. Woher rührte also der Frust, der nicht nur aus der generellen Unverfügbarkeit von sozialen Innenräumen resultierte? Wie lässt er sich zukünftig vermeiden? In einem früheren Stadium des Textes stand an dieser Stelle in Großbuchstaben: „Hier fehlt eine Erkenntnis.“ Kommentare, die jede schreibende Person so oder so ähnlich im Prozess des Schreibens einfügt, um sie später, kurz vor Abgabe wieder zu entfernen, selbst wenn die Erkenntnis bis dahin immer noch nicht stattgefunden hat. Ich habe keine Antwort auf meine Fragen, weil auch dieser Text letztlich nur eine suchende Bewegung darstellt, die zwar einen Anfang und eine Mitte kennt, aber kein Ende; die ziellos verläuft und sich dabei verläuft.

Eines sei vielleicht noch hinzugefügt: Um seine „Rhetorik des Gehens“ greifbarer zu beschreiben, führt Certeau zwei Beispiele komplementärer Stilfiguren an: Zum einen die Synekdoche, bei der ein Teil an die Stelle des Ganzen tritt, also ein Teilraum für den gesamten Raum steht (ein plakatives Beispiel wäre vermutlich der Alexanderplatz für Berlin). Und zum anderen das Asyndeton, also das Weglassen von Bindewörtern beim Aneinanderfügen einzelner Satz- bzw. Bestandteile, das den Raum in einzelne Bereiche zergliedert, dabei einige überspringt und andere schlichtweg nicht miteinander in Beziehung setzt, sodass Leerräume zwischen ihnen entstehen. Blicke ich auf meine Spaziergänge in den mittlerweile unzähligen Lockdowns zurück, so handelte es sich bei ihnen in meiner Wahrnehmung oft um ein asyndetisches Gehen. Ein Gehen, das zwar gemeinsam, nebeneinander stattfindet, bei dem jedoch keine wahrhaftige Verbindung aufgebaut wird, so als hätte auch im Gespräch jede:r nur seine eigenen Schritte gemacht, ohne dass die einzelnen Laufbahnen einander berührten. Und auch wenn das Fragmentarische schon immer meine liebste Form bildete, mir die Illusionen der Narrativierung in ihrer kohärenz- und sinnstiftenden Funktion individuell und gesellschaftlich vertraut sind, Fortschrittlichkeit bekanntlich nur dialektisch zu denken ist, so geht es vielleicht gar nicht um ein telos des Spaziergangs. Vielleicht rührt die Frustration schlichtweg daher, dass uns Covid-19 so viele verbindende Elemente genommen hat – und dass dies selbst in der einzigen noch möglichen Form der risikoarmen zwischenmenschlichen Begegnung so deutlich hervortritt und, wie das Virus, einen bitteren Beigeschmack hinterlässt.