Die Emanzipation des Elefanten im Raum

von Pia Schmikl

Prolog


Mann oder Maus?, fragt der Richter.
Hm … Elefant im Raum, sagt der Elefant im Raum.


Hinweis: Der folgende Text wird aus Gründen der Glaubhaftigkeit von einem Richter vorgetragen.


Nach einigen vergeblichen Anläufen war klar: Einem Elefanten im Raum zur Emanzipation zu verhelfen, ist alles andere als ein Kinderspiel. Die bisherigen Fortschritte sind minimal. So kann ich ihn zwar immer noch nicht sehen, zumindest aber doch seine Stimme hören. Er ist ein Teil von mir, so wie er ein Teil des Raumes ist, in dem ich mich aufhalte.
Doch so will ich nicht beginnen. Sondern so:

Ich erzähl dir eine Geschichte, ja? Kommt ein Elefant in eine Bar … Nee, nee, das ging anders. Kommt ein Elefant in einen Raum … Nee, so war das nicht. Kommt ein Elefant vor Gericht, wird für schuldig befunden und gehängt. Okay, du hast recht, das sind eigentlich zwei Geschichten. Aber ja, die sind beide wirklich passiert. Und sie sind noch nicht vorbei.


Die erste Geschichte

Steht also ein Elefant vor Gericht. Genauer gesagt: die asiatische Elefantendame Happy, ursprünglich geboren in den frühen 1970er Jahren in freier, (vermutlich) thailändischer Wildbahn, seit 1977 wohnhaft im Bronx Zoo, New York. Der erste Verhandlungstermin war am 18. Mai 2022: das Nonhuman Rights Project gegen den Direktor des Bronx Zoos, Jim Breheny.
Entschieden werden soll darüber, ob Happy genug Persönlichkeit, Selbstwahrnehmung und Intelligenz besitzt, um vor dem Gesetz nicht mehr den für Tiere üblichen Status einer „Sache“, sondern den einer „Person“ zuerkannt zu bekommen. Das gäbe ihr das Recht, frei darüber entscheiden zu können „where to go, what to do, and with whom to be“. Sie wäre somit nicht weiter gezwungen, im Zoo ihr einsames Dasein zu fristen, sondern ihr würde die Möglichkeit gegeben, in ein Naturschutzgebiet umziehen zu dürfen.
Während der ersten Gerichtsverhandlung stellt eine der Richterinnen fest, dass das Nonhuman Rights Project Happy nicht befreien möchte, sondern nur eine andere Art von Gefangenschaft und Kontrolle für Happy erzielen will, nämlich einen Aufenthalt in besagtem Naturschutzgebiet, was aber weiterhin bedeutet, Happy würde „under human control“ stehen. „This doesn’t seem exactly like liberty, it’s just different confinement”, stimmt ein anderer Richter zu. Happys Anwältin erklärt, dass es darum gehe, den Ort zu finden, der am nächsten an Happys „natural environment“ dran ist.

Was wohl dem „natural environment“ eines Elefanten im Raum am nächsten kommt?,
denke ich bei mir und gehe die diversen Möglichkeiten durch, ein Gesetz auszulegen.

Festgestellt wurde Happys für Elefanten überdurchschnittliche Intelligenz bereits 2005 anhand des sogenannten Spiegeltests: Ein Tier, dass sich selbst in einem Spiegel erkennt, gilt seit jeher als intelligent. Happy ist der erste Elefant überhaupt, der den Spiegeltest bestanden hat.

Ich frage den Elefanten im Raum, ob er sich selbst im Spiegel erkennen kann. Er verneint, sei er doch unsichtbar. Intelligent sei er aber schon, schließlich hätte ich ihn erschaffen.
Was ist, wenn Happy das Recht auf freie Ausübung ihres Willens zugesprochen wird, und sie gar nicht ins Naturschutzgebiet umziehen will?, merkt der Elefant im Raum an. Vielleicht will sie ja lieber in New York bleiben und sich eine Wohnung in der Stadt nehmen.
Wer Rechte hat, der hat auch Pflichten, antworte ich. Wo würdest du hingehen, wenn du selbst entscheiden könntest, „where to go, what to do, and with whom to be“?, frage ich.
Ich bin immer da, wo du bist, sagt der Elefant im Raum.

Im Gegensatz zu Happy hat der Elefant im Raum nie in freier Wildbahn gelebt. Wenn man so sehr daran gewöhnt ist, abhängig zu sein, ist die Freiheit nur schwer zu ertragen.

Und wie war das jetzt mit der zweiten Geschichte, dem gehängten Elefanten?, will der Elefant im Raum wissen. Das ist schon sehr lange her, meine ich und beginne zu erzählen.


Die zweite Geschichte

Die asiatische Elefantendame Mary war der ganze Stolz ihres Arbeitgebers, des Zirkusdirektors Charlie Sparks, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit seinen „Sparks World Famous Shows“ quer durch die USA reiste. Zu Marys Fähigkeiten gehörte neben Baseball – sie galt als ausgezeichnete Pitcherin – das Spielen diverser Musikinstrumente. Am 12. September 1916 in Sullivan County, Tennessee sollte ihre Karriere jedoch ein jähes Ende finden.
Wie gewöhnlich führte Mary an jenem Tag die Elefantenparade an. Durch den realitätsverzerrenden Medienrummel von damals ist es bis heute schwierig, mit Gewissheit zu sagen, was wirklich und im Detail vorgefallen ist. Sicher ist nur: Mary tötete ihren Pfleger Red Eldridge, der gerade erst den zweiten Tag im Zirkus arbeitete und, trotz seiner mangelnden Erfahrung, während der Elefantenparade auf Marys Rücken ritt.
Egal ob Todschlag oder Mord, vor dem menschlichen Gericht ist und war Marys Tat eine Straftat. Neben seiner Funktion als Zirkusdirektor war Charlie Sparks in erster Linie Geschäftsmann und hatte Angst um den guten Ruf seines Zirkus. Und so entschied er kurzerhand, dass diese missliche Situation einzig – vor den Augen der Öffentlichkeit – durch Marys Tod gelöst werden konnte.
Am darauffolgenden Tag, dem 13. September 1916, wurde Mary an einem Baukran in Unicoi County, Tennessee gehängt. Es waren über 2500 Menschen anwesend. Der Tierarzt, der Mary nach ihrem Tod obduzierte, stellte fest, dass sie unter einem hochgradig entzündeten Zahn gelitten hatte, genau an der Stelle, die der Pfleger Red Eldridge während der Elefantenparade berührt haben musste.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Elefanten, wurde ein Elefant wie eine Person behandelt, stellt der Elefant im Raum fest. Wenngleich Mary ein fairer Prozess verweigert wurde. Sie hatte keine Möglichkeit, ihre Version der Wahrheit darzulegen.
Ja, stimme ich zu. Man könnte fast denken, dass der Zirkusdirektor gleichzeitig als Strafvollstrecker des Bundesstaates Tennessee agiert hat, in dem bis heute die Todesstrafe ausgeübt wird. Wenn sich dieser Vorfall also in Michigan, Wisconsin, Maine oder Minnesota ereignet hätte, wäre Mary vielleicht auf eine andere Art und Weise bestraft worden. Denn dort ist die Todesstrafe bereits vor 1916 abgeschafft worden.
Aber was hätten sie dann stattdessen mit Mary gemacht?, fragt der Elefant im Raum. Hinter Gittern war sie ja schon längst.
Hast du dich eigentlich schon einmal gefragt, was passiert, wenn du deinen Raum verlässt?, frage ich den Elefanten im Raum. Einfach so. Wenn du zum Beispiel den ÖPNV nutzen würdest.
ÖPNV, öffentlicher Personennahverkehr, sinniert der Elefant im Raum. Wie viele Fahrkarten wohl nötig sind, damit ein Elefant als Person gilt und mit Bus und Bahn fahren darf?
Dazu fällt mir eine Geschichte aus Wuppertal ein, sage ich.

Also gibt es noch eine dritte Geschichte, stellt der Elefant im Raum fest.


Die dritte Geschichte

Die indische Elefantenkuh Tuffi war vier Jahre alt, als sie am 21. Juli 1950 gemeinsam mit dem Zirkusdirektor Franz Althoff in der Wuppertaler Schwebebahn Platz nahm. Insgesamt mussten vor der Abfahrt fünf Tickets gelöst werden, eines für Althoff und vier für Tuffi – damit jeder ihrer Füße das Recht hatte, einen Sitzplatz zu belegen.
Tuffi war ein geselliger Elefant. So hatte sie von Geburt an weder Angst vor fremden Menschen noch vor fremden Städten. Zirkusdirektor Althoff erkannte diese besondere Befähigung seiner Angestellten sofort und nutzte sie seit 1949 für diverse Werbeaktionen.
Die besagte Fahrt in der reichlich mit Journalisten überfüllten Wuppertaler Schwebebahn endete jedoch damit, dass Tuffi beim Versuch sich umzudrehen mit einem Mal die Waggonwand durchbrach und zehn Meter hinab in die schlammige Wupper sprang. Sie überlebte – ungestraft – und arbeitete noch bis zu ihrem Tod im Jahr 1989 für diverse Zirkuskompanien. Direktor Franz Althoff und der Betreiber der Verkehrsabteilung für Wuppertaler Stadtwerke hingegen wurden zu einer Geldstrafe von 450 DM verurteilt. Die Schwebebahn sei als Transportmittel für Elefanten ungeeignet, so lautete das Gerichtsurteil.

Wie würde dein Prozess vor Gericht aussehen?, frage ich den Elefanten im Raum.
Wer sollte mich verklagen wollen?, will der Elefant im Raum wissen. Und weswegen?
Vielleicht müssen wir erst jemandem Schaden zufügen, um einen Grund dafür zu haben, ihm langfristig helfen zu können, erwidere ich.
Willst du mich verklagen?, beharrt der Elefant im Raum.
Ich will dich von mir emanzipieren, antworte ich. Dich sichtbar machen, dich befreien.
Ohne dich kann ich nicht sein, entgegnet der Elefant im Raum.
Ich will dich retten, sage ich.
Wenn du mich rettest, tötest du mich, erklärt der Elefant im Raum.




Epilog

Am 14. Juni 2022 fällte das höchste Gericht im Staat New York sein Urteil:
Ein Elefant ist keine Person.

Dann bleibt also alles beim Alten?, fragt der Richter.
Alles bleibt, wie es war, sagt der Elefant im Raum.