finding a form
oder Das Bildnis eines queeren Trinkers, erzählt anhand von zwölf Büchern, die dey gelesen hat
von Franca Bohnenstengel
Books about alcoholism rarely mention gay people.
Books about gay people rarely mention alcoholism.
Audrey Borden, The History of Gay People
in Alcoholics Anonymous
In meinem Bücherregal stehen nur wenige Bücher, in denen es explizit um Alkohol geht, genauer gesagt um Alkohol und Alkoholismus. Ich habe sie auf einem der mittleren Bretter, ungefähr auf Höhe meines Bauchnabels, aneinandergereiht. Um sie anzusehen, muss ich meinen Blick etwas senken. Die Sammlung beginnt mit Marguerite Duras’ Roman Die Pferdchen von Tarquinia, der im Original Les Petits Chevaux de Tarquinia heißt. Es war ihr fünfter Roman, erschienen 1953. Marguerite erzählt darin die Geschichte von Sara und Jacques, Gina und Ludi, die gemeinsam einen Urlaub in Italien verbringen, am Meer sitzen, sich wegen der Hitze nur schwerfällig bewegen können, Campari bitter trinken und Saras aufflackernde Liebschaft mit einem anderen Hotelgast an sich vorbeiziehen lassen. Ich habe das Buch genau vor einem Jahr gelesen und nur einen einzigen Satz mit einem rot-schimmernden Klebezettel versehen. Das Meer drang dann in die Dichte des Haares bis in alle Erinnerung. Wie nebenbei flicht Marguerite die Cocktails in ihre Erzählung ein. Ich frage mich, ob sie sich zu dem Zeitpunkt, als diese Geschichte entstand, dem Alkoholismus ihrer Figuren bewusst war oder schlichtweg ihre persönliche Realität abbildete – die Realität einer Alkoholikerin.
Vor ein paar Jahren begann ich damit, nach Autor*innen zu suchen, die, wie ich, exzessiv Alkohol tranken oder getrunken hatten. Ich suchte nach Texten, in denen vom Ausschweifen und von der anschließenden Reue die Rede war, in denen die Schreibenden die Gründe für ihr Trinken sezierten, sie mir offenlegten. Lange Zeit interessierten mich vor allem die Eskapaden, die Geschichten aus den Bars und die Beschreibungen der Outsider, die sich zusammenfanden, um gemeinsam das Leben zu vergessen, indem sie es ertränkten. Irgendwann suchte ich vor allem nach Geschichten über das Aufhören. Aber das kam erst später.
Die meisten Texte, die ich fand, waren von cis männlichen Autoren geschrieben. In den Beschreibungen ihrer Exzesse erkannte ich mich wieder. Ich war mir sicher, ihnen in nichts nachzustehen, wie auch den Männern, mit denen ich mich zum Trinken in Bars traf. Zu Ende las ich ihre Bücher so gut wie nie.
Marguerite war eine der ersten Autor*innen, auf die ich bei meiner Suche nach trinkenden Queers und Frauen stieß. Ich kannte sie schon länger – doch dass sie Alkoholikerin war, hatte ich lange Zeit nicht gewusst. Der Umfang ihres Oeuvres überraschte mich umso mehr. In den Jahren von 1943 bis 1993 veröffentlichte Marguerite dreißig Romane, zwölf Bühnenstücke, schrieb Drehbücher für zahlreiche Filme und führte bei einigen sogar Regie. Trank Marguerite vor dem Schreiben? Schrieb sie betrunken? Trank sie nach dem Schreiben? Trank sie vor und nach dem Schreiben, währenddessen? Schrieb sie verkatert? Begann sie mit dem Trinken schon am Morgen? Oder erst bei Anbruch der Dunkelheit? Hatte sie Regeln für ihr Trinken festgelegt, wie für ihr Schreiben, oder trank und trank sie, ohne nachzudenken, ohne sich bewusst zu sein, was sie da tat? Heute frage ich mich, ob und welche welche Hinweise auf ihre Sucht ich bei meinen ersten Lektüren von Hiroshima mon amour, L’amant und Écrire übersehen habe oder übersehen wollte. An manchen Tagen gehen meine Gedanken so weit, dass ich bezweifle, diese Texte wirklich gelesen zu haben.
Als ich Die Pferdchen von Tarquinia las, übersah ich nichts. Jeder in die Erzählung noch so unscheinbar eingeflochtene Schluck Campari stieß mir bitter auf. Ich war seit vier Jahren trocken.
Mit dem Trinken hatte ich meist zuhause begonnen, während ich mich fürs Ausgehen fertigmachte. Am liebsten trank ich Wodka. Dabei hatte ich die Stimme von Claire im Ohr, eine meiner damaligen Lieblingsfiguren aus der US-amerikanischen TV-Serie Six Feet Under, die sagte: „You can’t smell Vodka.“ Wenn ich mit meinem Grundpegel in der Bar ankam, wollte ich mir sicher sein können, dass meine Freunde ihn nicht riechen würden. Zunehmend spürte ich jedoch die unüberwindbare Kluft zwischen mir und den Männern in den Büchern und den Bars. Je länger meine Sucht voranschritt, desto weniger ließ die Gesellschaft meiner Trinkerfreunde mich meine Einsamkeit und meinen Wunsch, die Welt zu verlassen, vergessen. Immer öfter trank ich Wodka und blieb zuhause.
Neben Die Pferdchen von Tarquinia steht The Recovering: Intoxication and It’s Aftermath von Leslie Jamison in meinem Regal. Im Winter 2018 entdeckte ich dessen deutsche Übersetzung. Leslie beschreibt darin ihren Weg vom Alkoholismus in die Trockenheit. Unser geringer Altersunterschied überraschte mich, Leslie ist nur ein paar Jahre älter als ich. In den Monaten zuvor hatte ich es bei ein paar Treffen der Anonymen Alkoholiker versucht. Die meisten Stühle um mich herum wurden von älteren, weißen Männern besetzt. Jede Woche passierte dasselbe: Mindestens einer von ihnen erzählte eine Geschichte, in der eine Frau herabgewürdigt wurde. Ich durfte sie nicht unterbrechen, denn eine der Regeln der AA ist, sich gegenseitig die gleiche Redezeit zu gewähren: drei Minuten. Also war ich ihren Erzählungen ausgeliefert, drei Minuten für drei Minuten für drei Minuten. Dass ich einfach hätte aufstehen und gehen können, wusste ich damals noch nicht. Ich ging zu den AAs, in der Hoffnung, auf andere Abhängige zu treffen, die mich verstehen würden. Stattdessen fand ich eine Gruppe, die von Männern dominiert wurde, welche gewaltvoll sprachen und dafür Raum zur Verfügung gestellt bekamen.
Leslie ist die erste Person in meinem Alter, von der ich erfahren habe, dass sie trockene Alkoholikerin ist. In einer Buchhandlung sprang mir der deutsche Titel ihres Buches Die Klarheit direkt ins Auge. Zu diesem Zeitpunkt war ich aktive*r Alkoholiker*in. Ich trank nahezu täglich, ich trank zuhause und ich trank allein. Auf Partys ging ich heimlich zum Kühlschrank und nahm einen großen Schluck aus der Weinflasche, um meinen Pegel schneller ansteigen zu lassen. Am nächsten Tag wachte ich gegen Nachmittag verkatert auf, erfüllte nur die notwendigsten Aufgaben und wartete darauf, dass es wieder dunkel wurde. Meine Welt bestand darin, zu trinken und die letzte Trunkenheit zu vergessen. Ich befand mich in einem dauerhaften Zustand von Vernebelung. Ich wollte diesen Zustand verlassen, hatte aber noch keine Vorstellung davon, was an seine Stelle treten könnte. Ich sehnte mich nach Klarheit.
Wann immer ich in Leslies Buch las, stieg Müdigkeit in mir auf. Ich kämpfte mich von Wort zu Wort, von Satz zu Satz, schwerfällig blätterte ich um. Wenn ich nicht mehr konnte, stand ich auf, ging zum Kühlschrank und nahm mir ein Getränk heraus. Ich kippte die Flüssigkeit in mich hinein, ließ sie in meinen Körper laufen und meine inneren Räume füllen. An viel mehr kann ich mich nicht erinnern. Leslie schreibt in Die Klarheit immer wieder davon, wie sie rückfällig geworden ist. Ich beneidete sie darum, trotz ihrer aktiven Sucht schreiben zu können, zumindest las ich das in den Text hinein. Mit jeder Seite fühlte ich mich bedeutungsloser. Ich verstehe die Notwendigkeit, das eigene destruktive Trinken genau zu beschreiben, ich spüre den Akt der Selbstermächtigung, der darin steckt, sich seiner eigenen Geschichte anzunähern, die eigene Geschichte zu schreiben, auch wenn nicht alles erinnert wird. Ich verstehe das Bedürfnis, der ganzen Scheiße zumindest nachträglich einen Sinn zu verleihen. Und doch kann ich Leslies Geschichten kaum ertragen. Ich ertrage ja meine eigene Geschichte kaum.
Im darauffolgenden Frühling hörte ich in einem Podcast zum ersten Mal von Marty Mann. Und ich traf Em.
Em und ich trafen uns in Bars und betranken uns, wir trafen uns in Bars und kamen uns näher, wir trafen uns in Bars und begannen zu sprechen. Ich erzählte Em, dass ich depressiv war und vor einiger Zeit in eine Klinik gemusst hatte. Em sollte von Anfang an wissen, woran dey mit mir ist. Em nickte.
Mehrmals die Woche saßen wir eng nebeneinander zwischen Rauchschwaden auf einer Bank und lösten unsere Zungen und Körper mit Alkohol. Ich hatte das Gefühl, dass wir ein nie endendes Gespräch führten, und dieses Gespräch, wenn wir zur Arbeit gehen oder andere Verabredungen wahrnehmen mussten, nur von mehrstündigen oder mehrtägigen Pausen unterbrochen wurde, um bei unserem nächsten physischen Aufeinandertreffen irritationslos fortgeführt zu werden. Mit den Wochen konsumierten wir weniger. Wir sprachen viel über diese Entwicklung und ich gestand Em, alkoholabhängig zu sein. Em begann, deren Konsum zu reduzieren und unterstützte mich dabei, ebenfalls weniger zu trinken. An einem Abend im Februar trafen wir uns mit zwei von Ems Freund*innen, die aus New York zu Besuch in Berlin waren, in einer Bar. Em trank ein kleines Bier, ich trank vier oder fünf große. Ich versuchte die Unsicherheiten, die ich gegenüber Ems Freund*innen empfand, wegzutrinken.
Als Em zur Toilette ging, folgte ich demm. Das rote Licht füllte den kleinen Raum, ich huschte hinter Em in die Toilettenkabine, versperrte die Tür. Dann drückte ich meinen Körper gegen Em, presste dey gegen die Fliesenwand und versuchte, Em zu küssen. Em machte einen kurzen Moment mit, drehte dann den Kopf zur Seite. Mit den Worten das fühlt sich nicht gut an, drückte dey mich von sich. Am nächsten Morgen sagte Em mir, dey habe mich in diesem Moment nicht wiedererkannt. Zwei Wochen später, am 8. März 2019, trank ich mein letztes Bier. Ich trank es halb, dann hatte ich genug.
Bevor ich zum ersten Mal zu einem Treffen der Anonymen Alkoholiker ging, besuchte ich ein Al-Anon-Treffen. In meiner Familie und meinem Umfeld gibt es mehrere sucht- und alkoholkranke Personen, ich hatte also Grund genug, mich zwischen die Kinder, Partner*innen, Ex-Partner*innen, Eltern und Freund*innen von anderen Alkoholiker*innen zu setzen. Der Reihe nach bekamen wir ein paar Minuten Redezeit. Ich war nervös, mein Körper zitterte und meine Handflächen klebten vom Schweiß. Je näher das Sprechen an mich heranrückte, desto stärker schlug mein Herz. Ich weiß nicht mehr, was ich an dem Tag sagte. Ich erinnere mich nur daran, wie ich die gesamte Zeit auf meine Oberschenkel starrte und mich schämte. Ich schämte mich nicht für meine Familienmitglieder, ich schämte mich für mich selbst. Ich schämte mich dafür, in diesem Moment nicht bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker zu sein, sondern diese Gruppe von Leidtragenden der Sucht anderer Personen anzulügen. Es dauerte noch einige Zeit, bis ich begreifen würde, an beiden Orten richtig zu sein. Bis ich begreifen würde, dass meine Sucht in engem Zusammenhang mit der Sucht meiner Familienmitglieder stand.
Em und ich gingen nur noch selten in Bars. Dennoch fiel es mir in den ersten Monaten schwer, trocken zu bleiben. Im Vorlesen unserer Lieblingsbücher fanden wir ein neues gemeinsames Ritual. Ich las Em den Roman Frankie vor, die deutsche Übersetzung von A Member of the Wedding von Carson McCullers. Immer wieder setzte ich das Buch ab und sah Em an. Ich erzählte Em, mich in dieser Figur lange Zeit gesehen zu haben. In Frankie, die sich nirgends aufgehoben fühlt und zu keinem Klub gehören will. Die sich dennoch nach einer Einheit mit ihrem Bruder und dessen Ehefrau sehnt, von den beiden jedoch zurückgelassen wird. Frankie, die sich einen neuen Namen gibt und unentwegt Fragen stellt. Erst jetzt verstand ich, dass Frankie in dieser Erzählung in die Braut ihres Bruders verliebt ist. Wie konnte ich das bei meinen früheren Lektüren des Buches übersehen haben?
Das gemeinsame Eintauchen in Frankies Geschichte entfachte eine neue Sehnsucht in mir. Ich begann, mehr von Carson zu lesen. Und ich begann, zu ihrer Person und ihrem Leben zu recherchieren. Schließlich las ich das Buch The Autobiography of Carson McCullers von Jenn Shapland. Darin beschreibt Jenn ihren Versuch, Carsons Leben und Schreiben literarisch zu erforschen. Dabei wird ihr klar, dass sie nur ihre eigene Geschichte mit Carson erzählen kann, nichts darüber hinaus. Und dennoch: Jenn erzählt eine Geschichte über Carson, ihre Geschichte. Der Text beginnt so: Reeves asked Carson if she was a lesbian on the front porch of Carson’s house on Stark Avenue, after everyone had gone to bed. I picture them on a swing, though I know for a fact that no such swing exists. Carson answered with a swift denial, wished aloud that she wasn’t one, then expressed plain uncertainty. Diese Informationen fand Jenn in einer Transkription von Carsons Therapiesitzungen mit Dr. Mary Mercer, zu der sie ging, um Hilfe mit einer ihrer Schreibblockaden zu erhalten. Ich konnte Jenns Neugierde und den Entschluss, diese Dokumente zu lesen, gut verstehen. Dennoch fragte ich mich, wie weit wir in die Intimsphäre verstorbener Menschen vordringen dürfen, wenngleich wir ein berechtigtes Interesse, nämlich das Schreiben eines Textes, verfolgen.
Neben den Dokumenten, die über Carsons Therapiesitzungen Auskunft gaben, hatte Jenn Briefe gelesen, die sich Carson und Annemarie Schwarzenbach geschrieben hatten. Jenn schreibt: Annemarie’s language in her letters to Carson is intimate, suggestive, or I read it that way. You remember. I had received letters like these. I had written letters like these to the women I’d loved. It was very little to go on, and yet I felt an utter certainty: Carson McCullers had loved women. Or at least, this woman had loved her. Ich hatte solche Briefe zu diesem Zeitpunkt weder bekommen noch geschrieben, hatte keiner Frau gestanden, sie zu lieben, hatte mein queeres Begehren unterdrückt. Dafür hatte ich ein paar Mal Sex mit cis Männern gehabt und war dabei jedes Mal betrunken gewesen.
Genau wie Carson, genau wie ich, war auch Annemarie alkoholabhängig. Außerdem war sie drogenabhängig. Haben Carson und Annemarie gemeinsam getrunken, so wie Em und ich es getan haben? Anders als Ems und meine Geschichte, war Carsons und Annemaries Geschichte zäh zu Ende gegangen. Während Carson sich nach einer innigen und kompromisslosen Beziehung sehnte, konnte Annemarie die Nähe zu ihr nicht dauerhaft zulassen und zog es vor, Carsons Bücher zu rezensieren. Wenn ich an Carson denke, sehe ich eine Person vor mir, die weite Anzughosen trägt, ein weißes Hemd, darüber einen Pullunder oder Pullover, unter dem ein Hemdkragen hervorschaut, in einer Hand hält sie eine Zigarette. Jenn schreibt, Biograph*innen und Kritiker*innen hätten es geliebt, Carsons Kleidung als mannish zu beschreiben, which I find kind of absurd. Sie fragt, wie viele Männer Manschetten trügen, Perlen oder Stickereien. In einem Essay von Sarah Schulman habe ich gelesen, Carson hätte einmal gesagt, I think I was born a boy. Sarah Schulman gibt für dieses Zitat keine Quelle an und ich kann es nirgends wiederfinden. Ich denke, im Grunde ist es egal, ob Carson diesen Satz wirklich gesagt hat. Was ändert er schon. Zu Em sagte ich, wir, also Jenn, Sarah und ich, sollten uns schämen für unser Bedürfnis, die Genderidentität einer Person benennen zu wollen. Egal, ob tot oder lebendig.
Bis heute kleide ich mich oft in einer weiten Anzughose und einem weißen Hemd, dessen Kragen ich aus dem darüber gezogenen Pullover hervorblitzen lasse. Ich rauche nicht.
Ich erinnere mich an mehrere Momente, in denen mich jemand während eines Gesprächs in einer Bar oder im Park fragte, ab wann eine Person alkoholabhängig ist. Ich erinnere mich an die fragenden Gesichter, nachdem ich das mir angebotene alkoholische Getränk mit den Worten ich bin trocken abgelehnt hatte. Das fragende Gesicht galt nicht mir oder meinem Geständnis, vielmehr galt es dem eigenen Konsumverhalten der fragenden Person. Auch ich habe mir diese Frage oft gestellt. Im Mai 2019 bestellte ich mir das Buch A Biography of Mrs. Marty Mann. The First Lady of Alcoholics Anonymous. Marty Mann kam 1940 zu den Alcoholics Anonymous und blieb bis zu ihrem Tod im Jahr 1980 Teil der Selbsthilfe-Bewegung. Genau wie ich hatte Marty in jungen Jahren mit dem Trinken begonnen. Als Siebzehnjährige wurde sie von ihrer Familie auf eine Eliteschule nach Kalifornien geschickt. Dort kam sie in Kontakt mit einer elitären sozialen Gruppe und begann mit dem Trinken. Sie konnte trinken wie eine Erwachsene und lebte von Party zu Party. Eine Anekdote besagt, dass sie jede Person unter den Tisch trinken konnte und dabei als einzige im Stande blieb, die anderen nach Hause zu bringen. Marty beschreibt ihre eigene Trinkfähigkeit als maßlos, sie vertrug viel – zu viel. Später definierte sie dieses ungewöhnliche Maß, das sie vertrug, als frühes Warnzeichen für ihre Alkoholkrankheit.
Ich erkenne mich in ihren Beschreibungen. Das erste alkoholische Getränk nahm ich mit vierzehn zu mir. Es war ein Mixgetränk, ein sogenanntes Alkopop, wie es in den frühen 2000ern in war. Ich trank zögerlich, wohlwissend, welchen Effekt Alkohol haben kann. Schließlich wuchs ich in einer Familie auf, in der nicht nur eine Person abhängig war. Oft hatte ich meine Verwandten dabei beobachtet, wie sie sich im Laufe des Abends in Personen verwandelt hatten, die mir fremd waren. Ich hatte beobachtet, wie der Alkohol ihre Gesichter entstellte und ihre Körper zu schlaffen, unkontrollierbaren Massen wurden, wie sie lallten und unzusammenhängendes Zeug von sich gaben. Ich wollte nicht so werden wie sie, und doch fand ich im Alkohol eine Möglichkeit, diesen fremden Personen nahe zu kommen. So trank ich zunehmend nicht nur auf Partys, sondern auch mit meinen Familienmitgliedern. Ich kam meiner Familie immer näher und verlor zunehmend die Kontrolle.
Ich glaube, unter Alkoholiker*innen gibt es ein unausgesprochenes Wissen, das sich in einem gegenseitigen Erkennen spiegelt. Ein Wissen, das meist im Verborgenen bleibt, denn kaum eine*r wagt es, sich offen zu deren Alkoholsucht, zu dieser Krankheit, zu bekennen. Doch erst das Bekenntnis einer anderen Person ermöglicht mir, meine Geschichte laut zu erzählen. Keine*r meiner Familienmitglieder ging diesen Schritt. Keine*r begann, laut zu erzählen. Menschen wie Marty hingegen gingen diesen Schritt, und ich konnte ihnen folgen. Ich las weiter in Martys Biographie und erfuhr, dass Marty lesbisch war. Ich denke, das kann kein Zufall sein. Manchmal sehe ich mich und Marty an einem Tisch sitzen, unsere Partner*innen Em und Priscilla sind bei uns, und Frankie ist auch da. Wir erzählen uns unsere Lebensgeschichten. Wir weinen, dann lachen wir, bis uns die Bäuche weh tun, liegen uns in den Armen und spüren die wärmenden Körper der anderen. Um sie zu sehen, muss ich meinen Blick etwas senken und meine Augen zusammenkneifen. Die Buchrücken verschwimmen, aber das ist okay.