FLOAT

von Sabrina Mertens

Der letzte Besichtigungstermin für das beinahe schon „günstige“ Zimmer findet am Samstagabend statt. Wahnsinnig ärgerlich, dass die Einarbeitung im SPA das ganze Wochenende in Anspruch nehmen wird. Gisela steckt ihr Smartphone in die Hosentasche und zieht das weiße Poloshirt über, auf dem ein delfinförmiges Logo in Neonpink leuchtet und tauscht die Winterstiefel gegen graue Gummischlappen. Sie durchquert den Personalraum und nimmt den Flyer von der Pinnwand, klappt ihn auf und studiert die Preistabelle. Eine Stunde Floating kostet 115 Euro. Stattlich. Um die Summe wieder reinzuholen, wäre ein ganzer Arbeitstag hier noch zu wenig. Sie legt den Flyer auf den Tisch neben einen vollen Aschenbecher mit ausgeblichenem Delfinlogo und öffnet den Spind mit Putzutensilien. Der Wischmopp fällt ihr entgegen und schlägt lautlos mit seinem flauschigen Ende auf dem Boden auf. Wie viele Stunden haben vier Wochen? Ein Tag sind 24 … mal sieben. 148. Nein, falsch. 168. Viermal. Ergibt also … 672 Stunden. So ungefähr. Die Monatsmiete für den günstigsten Floating-Tank hier läge demnach bei … Gisela sucht nach etwas zum  Schreiben und findet einen Bleistift mit abgebrochener Spitze in einem Körbchen voller Wäscheklammern und Krimskrams. Sie kratzt die Rechenaufgabe in die Rückseite eines Lidl-Kassenbons: 77280 Euro. Aber immerhin warm. Sehr warm. Für ungefähr 1 ½ Quadratmeter. „Valentinstagsangebot; Romantik-Paarfloat nur 129 Euro/Stunde“, preist der Flyer in pinker Schrift mit Herzchen an. Damit kommen Pärchen wieder mal günstiger weg. Ungerecht. Gisela hängt den Flyer zurück und drückt den Espressoknopf am Kaffeeautomaten. Es ist 21:15. 


Der Allzweckreiniger bildet kleine bunte Bläschen, als sie den verkalkten Hahn aufdreht und der Strahl durch den Wasserschlauch in den Eimer schießt. Die Latexhandschuhe sind zu groß, sie muss die Enden mit Gummibändern an ihren Handgelenken befestigen. Als Gisela das gebrauchte Wasser des ersten Tanks ablässt, fragt sie sich in einem Anflug von Übermut, ob sie sich mal probeweise hineinlegen könnte. Nur kurz und unbemerkt. Es bleibt natürlich bei der Vorstellung. Das Wasser ist wahrscheinlich schon fast kalt und es wäre ziemlich unhygienisch. Plötzlich springt die Tür auf und Basil hektisch in den Raum. Der Geschäftsführer fragt Gisela, ob sie die nächsten Kunden betreuen könne. Um 21:30 Uhr käme ein älteres Ehepaar. Stammkunden, fast jedes Wochenende buchten sie den Pärchen-Night-Float. Gisela antwortet ihm, dass sie mit der Reinigung noch nicht fertig sei. Basil winkt ab und murmelt, halb schon wieder draussen, sie werde das schon schaffen. Hmm. Schon schaffen. Gisela muss an ihren ersten Tag an der Uni denken. Nur noch eine Woche, dann geht es los. Eigentlich wollte sie sich freuen, aber da sie immer noch kein Zimmer und schon gar keine Wohnung gefunden hat, sind die Bauchschmerzen nur noch schwer zu verdrängen. Wenige Tage mehr im Hostel sind noch irgendwie machbar. Aber die kleinen Ersparnisse, die sie damals vor den Behörden hatte retten können, bieten kein beruhigendes Polster, auf dem sie dem neuen Lebensabschnitt zuversichtlich entgegen blicken könnte. Nun muss sie sich aber erstmal mit der Desinfektion des Floating-Tanks beeilen.

Der Hörsaal riecht nach Moosgummi. Gisela fragt sich, warum Hörsäle auch heute noch so aussehen, wie sie seit Jahrhunderten aufgebaut sind. In diesen Räumen sitzt man, wie schon die Ururgroßeltern saßen. Also nicht Giselas Vorfahren, die der anderen Studenten. Na ja, nicht generalisieren. Also so, wie die Ahnen der meisten anderen Studenten saßen. Aber ist das wirklich die beste Form für das Lernen, wenn sich viele Menschen einen Raum teilen müssen?

Oder war und ist das so ein Fall von Tradition, an der man nichts ändern will, nur weil es immer schon so war? Gisela hält nach einem Platz mit bestmöglicher Sicht Ausschau und setzt sich in die oberste Reihe. Hoffentlich ist ihre Stimme von hier einigermaßen zu hören, wenn sie eine Frage stellt. Wenn sie sich ganz nach vorne setzen würde, würden ihr all die anderen im Rücken sitzen und sie schon erst recht nicht verstehen. Angenehmer wäre es also, den Überblick zu haben und nicht den Ärger der Kommilitonen herauszufordern. Dann lieber die Professoren anschreien. Philosophie studieren sollte und könnte ein Genuss sein.

Vollkommen in Gedanken und Ideen schwelgen. Entrückt von sämtlichen Alltagssorgen, von Mangel und Angst, die jegliche Kraft für Höheres zuverlässlich abzapfen. „Höheres“. Nun ja. Ob in diesem Hörsaal überhaupt schon mal ein Gedanke zum ersten Mal gedacht worden ist? Giselas Handy vibriert in der Manteltasche. Eine neue Nachricht bei WhatsApp. Absage auf ihre Anfrage nach einer dreimonatigen Zwischenmiete in der Schwabinger WG. Keine große Überraschung, abhaken.

Egal, wie oft sie in diversen Facebook-Gruppen, bei WG-Gesucht oder in den eBay Kleinanzeigen nachschaut, die meisten Angebote kommen schon nicht in Betracht, weil die Mieten viel zu hoch sind. Bei den Wohnungen erübrigt sich schließlich jeglicher Versuch von vornherein, weil man als Bewerber seine drei letzten (natürlich reichhaltigen) Gehaltsnachweise einreichen muss – oder noch schlimmer, eine Bürgschaft. Letzterer Hinweis ist besonders beliebt bei Inseraten, die „Studentenappartements“ oder „Azubi-Zimmer“ zu sehr renditeträchtigen Preisen bewerben. Leider gilt Gisela den Vermietern als verdächtig halbkriminell oder zumindest unzumutbares Sicherheitsrisiko, da sie das begehrte Dokument nicht hat. Sie fragt sich immer wieder, wieso Sippenhaft für Unschuldige in einer Demokratie des 21. Jahrhunderts rechtens sein kann. Sie müsse das doch bitte auch verstehen, man könne sich ja nicht so einfach irgendwen ohne Sicherheit ins Haus holen. Gisela versteht jedoch nur, dass sie sehr wahrscheinlich bald obdachlos sein wird und damit auch ihr lang ersehntes Studium in akuter Gefahr floatet. Auch bei WG-Zimmern, die in fragwürdigeren Stadtteilen liegen, aber manchmal etwas weniger teuer sind, gibt es so viel Andrang, dass Gisela meistens nicht mal eine Antwort auf ihre Anfrage mit ausführlicher, auf die jeweiligen Inserenten individuell angepasster Selbstvorstellung und schon dreimal keinen Besichtigungstermin bekommt. Aber auch das: Keine Überraschung.

Als es dann aber plötzlich doch mal mit einer Einladung zum Massencasting klappt, findet sie sich mit 12 jüngeren Leuten in einer großen WG-Küche mit abgewetztem Sofa und einem deckenhohen, mit kunstvollen Schnitzereien dekorierten Kratzbaum wieder, auf dem eine weiße Katze döst. Es kribbelt ihr schon beim Anblick in der Nase. Allergiekatze. Aber auf solche Befindlichkeiten kann Gisela keine Rücksicht nehmen. So beantwortet sie brav alle Fragen der ersten Castingrunde und hat selbst keine. Dafür ist sie längst zu müde. Eine Dreiviertelstunde später drückt sie den Espressoknopf am Kaffeeautomaten. Es ist 21:45.

35 Euro pro Nacht kostet das Hostel momentan. Der Preis für das Bett im Vierbettzimmer ändert sich jeweils nach Saison. Und die Zahl auf dem Kontoauszug wird immer besorgniserregender. Also wird Gisela ab jetzt noch mehr am Essen sparen, besonders früh aufstehen, Anzeigenblätter besorgen und hoffentlich als Erste bei den besten Schnäppchenangeboten anrufen. Sollte es denn welche geben. Wer außer Rentnern inseriert und sucht noch außerhalb des Internets? Hier dürfte die Konkurrenz jedenfalls kleiner sein. Motiviert, sehr zielstrebig und absolut ergebnisorientiert begibt sich Gisela mit den Zeitungen und einem Coffee to sit auf die nächste Parkbank. Ein weißer Zwergspitz an einer roten Leine tippelt vorbei. Gisela kommt nach kurzem Nachdenken zu dem Schluss, dass sie den Hund, wäre es ihrer, Descartes nennen würde, nicht Platon. Einen Hund zu haben wäre schön. Aber natürlich nur eine Träumerei. Zu wenig Zeit, Hundesteuer, Vermieter wollen keine Hunde. Ach ja, verdammt. Wohnungsanzeigen müssen durchsucht werden, für Tagträume bleibt keine Zeit. Die Sonne geht schon auf und in einer Stunde fängt die Frühschicht an, dann lernen. Später noch eine Vorlesung. Sie ist jetzt schon wieder müde. Das erste interessante Angebot verspricht „Günstiges Wohnen gegen Hilfe: Ältere Dame benötigt Unterstützung im Haushalt“. Das auch noch. Aber gut, dafür kostet das Zimmer möbliert nur 550 Euro. Gisela wählt die Nummer. Keiner nimmt ab. Gisela hört nur eine Stimme in ihrem Kopf, die sagt: „Wer etwas will, findet Wege, wer nicht will, findet Ausreden.” Es muss einfach irgendwie klappen. Drei weitere Inserate wecken ihre Aufmerksamkeit: „Berufstätigen-WG im Grünen hat Zimmer für Individualisten (w/m/d) frei “, „Kostenloses Zimmer für offene Sie unter 40“ und „Kleine Einliegerwohnung in

Einfamilienhaus ab sofort“. Zumindest erntet Gisela am Ende drei Besichtigungstermine. Der einzige freie Tag der Woche ist damit verplant. Aber: Endlich geht es aufwärts! Anstrengung lohnt sich! Dann fällt ihr ein, dass sie jetzt auch noch mal die Studentenwohnheime abtelefonieren müsste, auch wenn sie dort schon auf allen Wartelisten steht.

Kreuz und quer geht es durch die große Stadt bis zur letzten S-Bahn-Station auf dem Nahverkehrsplan. Die „Berufstätigen-WG“ stellt sich als stark sanierungsbedürftiges Bungalow ohne Warmwasser und Internet („Wir leben hier strahlungsfrei“) kurz vorm Ende der Welt heraus. Giselas verzweifeltes Motivationsschreiben wird nie beantwortet. Beim Lustmolch öffnet keiner die Tür, nachdem sie ihm drei Fotos von sich geschickt hat, und die kleine Einliegerwohnung wird nun plötzlich doch dringend für den eigenen Sohn gebraucht. Zumindest hat sie ein bisschen Landschaft vom Umland gesehen. Waren doch ein paar nette Ausflüge. Positiv denken, Gisela!

Zurück im Hostel trifft sie am Abend auf eine Gruppe mittelalter Schottinnen, die in Giselas 12-Bettzimmer, in das sie aufgrund der unbezahlbaren Oktoberfestpreise umziehen musste, den Junggesellinnenabschied einer mageren Blondine mit tätowierter Stirn feiern. Sie bieten Gisela Schnaps in kleinen bunten Fläschchen an und fragen sie nach ihrem Musikgeschmack, nachdem sie ausgiebig getanzt und ihre Beyoncè-Playlist schon dreimal durchgespielt haben. Musikgeschmack “Ruhe” möchte Gisela antworten, aber sie zuckt nur mit den Schultern. An Lesen und Lernen ist heute Abend also nicht mehr zu denken, außer sie würde nochmal durch die halbe Stadt fahren und sich in die Bibliothek setzen.

Vielleicht helfen Schokolade und Cola gegen die Erschöpfung. Gegessen hatte sie heute ohnehin noch nichts. Stiefel wieder an, raus in den Schneeregen.

Am Schwarzen Brett im Eingangsbereich der Bibliothek überfliegt sie wie immer routiniert die Aushänge der Wohnungsangebote. Sofort erkennt sie einen neuen Zettel. Er ist von ihrem Kommilitonen Benno. Sie kennt ihn zwar nur flüchtig, aber immerhin ein Anknüpfungspunkt. Eine Nachricht und ein Besichtigungstermin am nächsten Vormittag später kann Gisela ihr Glück kaum fassen: Sie hat eine eigene Wohnung mit Möbeln und Küchenzeile! 24 Quadratmeter und nur eine halbe Stunde von der Universität entfernt. Benno vermietet seine Wohnung unter, weil er noch ein Jahr auf Reisen gehen will, bevor er so richtig mit dem Studieren anfängt. Gisela war die Erste, die sich bei ihm gemeldet hat und Benno wollte die Sache schnellstmöglich erledigen. Ohne Papierkram, ohne Bürgschaft, ohne Mietvertrag. Denn der Hauseigentümer darf mangels Untervermietungserlaubnis von der Sache nichts wissen. Gisela ignoriert zunächst gewisse Unannehmlichkeiten: Sie kann sich nicht offiziell anmelden, ihren Namen nicht an das Klingelschild schreiben und muss prüfenden Blicken der Nachbarn im Hausflur ausweichen. Aber was soll's: Endlich ein eigenes Reich, Ruhe und manchmal sogar ein bisschen Freizeit, auch wenn sie wegen der eigentlich zu hohen Miete viel öfter als geplant im Spa arbeiten muss. Das Schlafsofa ist bequem und Gisela gefällt Bennos Einrichtungsstil. Schlicht, aber farblich gut aufeinander abgestimmt. Fast alles in Weiß, Beige und Dunkelblau. Endlich selbst kochen und nicht mehr auf die pappigen Pommes und den sandigen Salat in der Mensa angewiesen sein. Endlich kann sie sich auf ihr Studium konzentrieren.

Nach einem sonnigen Nachmittag an der Isar mit entspanntem Gemüt und studienrelevanter Lektüre verlässt sie den Fahrstuhl und ist kurz davor; ihr Apartment aufzuschließen, als sie sich über einen älteren Mann und eine junge Frau wundert, die vor ihrer Tür stehen. Bevor Gisela sich zur Flucht entscheiden kann, spricht der Mann sie an und stellt sich als Hauseigentümer und die Begleiterin als seine Assistentin vor.

Es gebe Auffälligkeiten; Nachbarn hätten ihn nach der “neuen Mieterin, die sich nie vorgestellt habe” gefragt. Außerdem sei die Zahlung der Nebenkostenabrechnung schon länger überfällig und die Mahnungen würden ignoriert (Benno hatte seine Post an seinen Bruder in Karlsruhe nachsenden lassen, wo sie dann offenbar ungeöffnet strandete). Gisela hat auf die Frage, wer sie denn sei nur ein sehr erschrocken gemurmeltes “Bennos Freundin, zu Besuch” parat. Ansonsten könne sie leider nicht weiterhelfen, aber sie werde Benno natürlich Bescheid geben. Die Frage, wo denn der Mieter dieser Wohnung eigentlich sei, dringt noch durch die gleichermaßen panisch wie undiplomatisch schnell hinter ihr zugezogene Wohnungstür.

Der Traum von Normalität endet nach insgesamt dreieinhalb Monaten. Die Kündigung erfolgt noch schneller, als Gisela den Mut aufbringen kann, mit Benno über den Vorfall zu sprechen. Als er beim Fischen in Costa Rica vom Verlust seiner Wohnung erfährt, gibt er zunächst Gisela die Schuld. Über die verspätete Nachzahlung hätte man mit dem Vermieter bestimmt noch reden können, aber Gisela habe sich äußerst fadenscheinig verhalten und somit stand ihr die illegale Untermieterin gut lesbar auf der Stirn geschrieben. Sie könne sich glücklich schätzen, dass sie nicht gänzlich fristlos vor die Tür gesetzt werde. Allerdings sei Benno die Wohnung sowieso zu klein gewesen und er habe auch noch andere Optionen nach seiner Rückkehr. Also Schwamm drüber.

Als Gisela die Momente nach dem Schock überlebt hat und

damit beginnen will, die einschlägigen Seiten wieder nach einer neuen Bleibe zu durchsuchen, bricht sie mit den aktuellen Anzeigenblättern unter dem Arm am Fuße einer Parkulme zusammen. Das Gefühl, dass alle Mühe und jeder Kampf sich am Ende noch lohnen werden, verschwindet unter einer ausdauernden Tränenflut.

An den folgenden sieben Tagen verlässt Gisela das Bett nur für die Abholung einer Krankmeldung und das mehrmalige Aufwärmen einer Linsen-mit-Reis-Pfanne, die von Mal zu Mal kaum weniger wird.

Um der drohenden Zwangsräumung am Monatsende zu entgehen, rafft sie sich schließlich irgendwie dazu auf, drei große gebrauchte Koffer in drei Stadtteilen bei drei Menschen abzuholen. Gisela versucht zumindest einige der Dinge mitzunehmen, die sie in den vergangenen Wochen für das sehr kurzlebige Glück zusammengesammelt hatte. Die zwei sympathischen Zimmerpalmen, die sie erst vor zwei Wochen aus einem Sperrmüllhaufen in einer Nebenstraße rettete und der ergonomische Bürostuhl, in den sie den Rest ihres Ersparten investiert hatte, um ohne Rückenschmerzen Lernen zu können, werden noch schnell im Internet verscherbelt. Die schöne rote Kaffeemaschine wollte keiner kaufen und muss in einem Zu-Verschenken-Karton vor dem Haus zurückbleiben. Bennos Möbel waren bereits von einer Spedition abgeholt worden, die sein Vater beauftragt hatte. Gisela denkt beim Anblick der fast leeren Wohnung für einen kurzen Moment in müder Versonnenheit, dass jetzt nur kleine Hunde imstande wären, dieser hoffnungslosen Tristesse etwas entgegen zu setzen. Aber leider waren ja keine da.

Die Koffer werden auf dem langen Weg zum Hostel immer schwerer, außerdem fehlt ihr mindestens eine weitere Hand für diesen Umzug. Der größte Koffer fliegt die endlose Rolltreppe am Hauptbahnhof herunter und erschlägt fast ein Kleinkind. Immerhin; der freundliche Nachtportier am Empfang des Hostels kennt noch Giselas Namen.

Das Desinfektionsmittel verströmt einen stechenden Geruch, der benommen macht. Die nächste Kundin sitzt ungeduldig in der Lobby, Gisela ist mal wieder spät dran. Basil hat ihr erst vor drei Tagen eine „letzte Chance“ gegeben. Gisela versucht zu funktionieren. Weniger Denken, möglichst nichts fühlen. Die zur Lektüre überfällige “Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ liegt schon viel zu lange unberührt neben ihrem Bett und die fast fertige und ziemlich gelungene Analyse für das Kant-Seminar wurde gemeinsam mit dem Laptop aus Giselas Schlafsaal geklaut. Einmal nur war sie zu müde gewesen, um noch zum Safe zu gehen. Am nächsten Morgen verschlafen, in die Dusche gerannt, schon war er weg. Zum Heulen. Zum Schreien. Aber auch dafür bräuchte sie Kraft. Die Schläfrigkeit steigt Gisela schmerzhaft in die Augen. Jetzt einfach nur schlafen. Alles andere ist egal. Hinlegen und schlafen, schlafen, schlafen. Oder wenigstens ganz kurz ausruhen? Wo es warm ist und still. Sie fragt sich nicht, ob sie gerade wirklich tut, was sie nur verschwommen wahrnimmt. Kein böses Erwachen mehr. Und plötzlich ist es, als wäre sie von einer untragbaren Last befreit.


Als sei sie schwerelos.