– Zu einem anachronistischen Begriff und einem überfälligen Buch

von Katharina Walser

Ich finde es eigentlich grundsätzlich problematisch und auch langweilig, wenn in feuilletonistischen Texten von “dem Buch des Jahres” die Rede ist. Oft werden diese Bewertungen nicht nur abgegeben lange bevor ein Jahr vorbei ist, meist können diese Bücher ein solch herausragendes Versprechen auch nicht halten. Deshalb schreibe ich hier von meinem Buch des Jahres – nicht, weil ich 2021 nicht auch andere herausragende Texte gelesen hätte (looking at you Dittloff, Adler, Gümüşay, Gugić, Kurt and many more), sondern weil es sich bei Nicole Seiferts Frauenliteratur und ihrer Abrechnung mit dem titelgebenden Begriff um eine Lektüre handelt, die ich gerne wesentlich früher gemacht hätte. Frauenliteratur ist ein überfälliges, klar-sprachiges und gut recherchiertes Buch zu den schwierigen realpolitischen Umständen hinter einem durch und durch gestrigen Begriff der Literaturbranche. Fangen wir also beim Kern an, nämlich bei der Frage, was eigentlich gemeinhin mit diesem Begriff bezeichnet wird – Frauenliteratur

Oft wird mit ihm sehr abfällig auf Literatur referiert, die von Frauen produziert wird und die somit vermeintlich auch nur Dinge bespricht, die für Frauen interessant sind, also auch primär von Frauen gekauft und gelesen wird. Bei dieser Argumentationsverkettung handelt es sich erst einmal um eine gewagte und absolut unwissenschaftliche Prämisse, ebenso wie um eine bewusste Vereinfachung. Dieser Begriff hat also eine Absicht. Ähnlich wie das Label des „Flughafenromans“ wird er so immer wieder vor allem dann bemüht, wenn auch von minderwertiger Literatur die Rede ist – Literatur, die angeblich nicht für alle taugt und schon gar nicht für diejenigen, die sich für besonders gebildet halten; Literatur, die, glaubte man dem Begriff, den Sonderstatus unter dem Allgemeinen annimmt. Zu dem problematischen Begriffskonvolut, das sich der diffusen Oberkategorie der ‘Frauenliteratur’ unterordnen ließe, gehört auch der ‘Frauenroman’, mit dem für gewöhnlich eine bestimmte Handlung verbunden wird, die Fragen von zwischenmenschlichen Beziehungen und romantischer Liebe in den Vordergrund stellt. Gemeint sind also mit ‘Frauentexten’ (noch so ein unscharfer Begriff) vor allem auch Texte, die aus der Sicht der Sprechenden, im Vergleich zu hoher Literatur, als trivial gelten. Was hingegen diese hohe Literatur sei oder das Allgemeine, wovon sich die Frauenliteratur vermeintlich abgrenzt, diskutiert Seifert sehr früh in ihrem Buch, wenn sie anmerkt, dass es „das Äquivalent >Männerliteratur< gar nicht gibt. […] Als Gegenstück zu >Frauenliteratur< gilt [nämlich] ganz einfach >Literatur<“. Folgte man also dieser Logik, die der Begriff der ‘Frauenliteratur’ aufmacht, dann wäre die literarische Norm lediglich das ‘Nicht-Weibliche’. Was auch immer das sein mag. 

Disclaimer oder: worum es nicht geht  

In Seiferts Text wird schnell klar, dass es ihr primär nicht darum geht, ob Frauen nun tatsächlich irgendwie anders schreiben als ihre männlichen Kollegen oder sich womöglich andere Gegenstände des Schreibens aussuchen. Man kennt es als wiederkehrendes Argument, das aus antifeministischen Kontexten heraus immer wieder ertönt, wie beispielsweise in Diskussionen um Einstellungsquoten, dass in der Ausführung bestimmter Aufgaben (im Falle der Einstellungsquoten geht es unter anderem oft um körperliche Belastbarkeit) eben doch Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu machen seien. In ähnlichem Habitus beharren – gerne männliche – Kollegen immer wieder darauf, dass es doch in der Bewertung von Literatur in allererster Regel um die Qualität des Schreibens gehen müsse, und wenn weibliche Texte weniger verlegt würden, läge das offensichtlich an mangelndem Schreibvermögen oder fehlendem Interesse der Leser:innenschaft. Selbstverständlich sind solche Argumente gerade dann, wenn Chancen zur Teilhabe diskutiert werden, schlichte Diskursverzerrung, die immer wieder aufgrund des simplen Missverständnisses betrieben wird, dass Gleichberechtigung dasselbe fordere und bedeute wie Gleichheit. Auch Seifert kommt  in ihrem Kapitel “Weibliches Schreiben, gibt es das überhaupt?” zu diesem Schluss, indem sie deutlich macht, dass es ihr bei der Verwerfung von ‘Frauenliteratur’ eben nicht darum geht, dass keine Unterschiede zwischen weiblichem und männlichem Schreiben gemacht werden können, sondern vielmehr darum, diejenigen Strukturen ins Licht zu rücken, welche das eine strukturell in eine Ecke beordern; darum, wie Texte aus weiblicher Feder gelabelt, vermarktet und systematisch klein gehalten werden. 

Noch klarer wird Seiferts Blick, mit dem sie sich dem problematischen Topos der Frauenliteratur nähert, im darauffolgenden Kapitel, in dem sie auf Emily Brontë’s Wuthering Heights zu sprechen kommt und nacherzählt, wie unterschiedlich die Rezensionen ausfielen, bevor und nachdem sie den wahren Namen hinter ihrem männlichen Pseudonym Ellis Bell lüftete. Hielten die Rezensenten den Text unter männlichem Namen noch für die große Prosa eines rauen Seemanns, wird der Text unter weiblichem Namen als flatternd und durch und durch feminin besprochen. 

Weniger um eine poetische Abhandlung einer Écriture féminine, einem weiblichen Schreiben, geht es ihr also als um das Entlarven der Machtmechanismen einer Industrie, die darüber richtet, was angeblich Frauenliteratur ist, von welchem Kanon sie durch dieses uneinheitliche und unspezifische Labeling ausgeschlossen wird und wie dieses Labeling mitbestimmt, ob und wie Texte von Frauen gelesen werden. Es geht mit diesem Labeling der ‘Frauenliteratur’ nämlich um nicht weniger als die Diffamierung von weiblichen Erzählungen und auch Erfahrungen. Ein Vorgang, für den der Literaturbetrieb lediglich beispielhaft ist und der außerhalb von ihm ständig stattfindet, was klar wird, wenn man versucht, Begriffe oder Phrasen zu sammeln, die ähnlich funktionieren wie das Label der Frauenliteratur. ‘Frauenprobleme’ etwa – oder auch die ‘Frauensache’ sind beides Floskeln, die immer noch benutzt werden, um weibliche Erfahrungen vom vermeintlich neutralen Rest abzugrenzen; von einem männlichen Rest, der sich in der Nutzung solcher Begriffe zur Allgemeinheit erheben will. Solche Begriffe sind in ihrem Kern alles andere als harmlos. Sie sind patriarchale Werkzeuge, mit denen weiter Grenzen zwischen den Geschlechtern gezogen werden – und unangenehme oder aufwendige Dinge ferngehalten werden sollen. Sei es aus Angst vor einer tieferen Auseinandersetzung mit der eigenen Unwissenheit über den weiblichen Körper oder aus dem Unwillen heraus Care-Arbeit zu leisten. Die misogynen Mechanismen, die dem Label der “Frauenliteratur” vorausgehen, sind also keineswegs neu oder betreffen lediglich die Literatur, sondern sind Teil eines sehr großen, komplexen Systems von Gender-Zuschreibungen, die am Kleinhalten oder Fernhalten von weiblich gelesenen Personen und ihren Themen in der Öffentlichkeit partizipieren. Und doch ist es mehr als lohnenswert, noch einmal einen genaueren Blick darauf zu werfen, wie diese Mechanismen speziell den Literaturbetrieb nach wie vor im Griff haben, gerade weil ihm eine repräsentative Rolle zukommt, wenn es darum geht, wessen Geschichten Gehör finden. Eine Untersuchung, die Seifert anhand verschiedener Perspektiven durchführt, die allesamt bereits in ihrem Titel anklingen: 

FrauenLiteratur 

Die Durchstreichung der Frauen auf dem Cover steht für diese mannigfaltigen Perspektiven, in denen die Betrachtung des Problemfelds um das Label der ‘Frauenliteratur’ gedacht werden muss, wie Seifert gleich in ihrer Einleitung aufschlüsselt.

Erstens steht diese Durchstreichung dafür, dass es sich bei ‘Frauenliteratur’, so viel wurde schon gesagt, um einen ganz und gar unzeitgemäßen Begriff handelt, der eigentlich keinen Platz mehr in Buchbesprechungen oder Buchempfehlungen haben sollte – der also längst gestrichen gehört. Denn nach wie vor begegnen uns im Handel Bücher, auf denen kleine, pinke Sticker prangen, auf denen so etwas steht wie „was Frauen lesen“, oder Zeitschriftenartikel, die Titel tragen wie „10 Frauenprobleme und wie man sie los wird”, so wie es Verlage gibt, die auf ihrer Webseite einen eigenen Reiter nur für angebliche Frauenliteratur eingerichtet haben – und immer wieder werden Jubiläumsausgaben von vermeintlichen ‘Frauen-Texten’ wie Wuthering Heights, in Einbänden mit gold- und blumenverzierten Ranken verlegt. Für jede:n, der:die das noch hören muss an dieser Stelle: Wuthering Heights ist eine Gothic Novel, an der einfach so gar nichts ‘blümchenhaft’ ist. (Dass die gesellschaftliche Zuordnung von ‘blümchenhaft’ gleich ‘frauenhaft’ generell auf den Müllhaufen der Misogynie gehört, ist natürlich die nächste Sache.) Kurz: Dieser erste Aspekt der Durchstreichung steht zunächst für dieses Problem der falschen oder unnötig kurz gedachten Etikettierung, mit der Texte von Frauen ein vorsintflutliches Label aufgedrückt bekommen.

Gleichzeitig steht die Durchstreichung der Frauen auf Seiferts Cover für die in der Geschichte herausgestrichenen Frauen. Also für die Ungleichbehandlung von Autorinnen in der Literaturgeschichte, durch die ihre Texte immer wieder daran gehindert wurden, zum sogenannten Kanon gezählt zu werden. Nicht nur – so viel wissen wohl selbst diejenigen, die mit Büchern wenig am Hut haben – weil es Frauen lange nicht erlaubt war ihre Texte zu verlegen, weshalb Frauen immer wieder unter männlichem Pseudonym geschrieben haben, sondern auch, weil diejenigen Frauen, die veröffentlichten, nicht ansatzweise so ausgiebig besprochen wurden wie ihre männlichen Kollegen. 

Und zu guter Letzt meint Seifert mit der Gestaltung ihres Covers – und der Durchstreichung anstelle der Löschung – auch all diejenigen Fragen, die das Verhältnis zwischen Frauen und Literatur auch in der Gegenwart noch betreffen und die dringend neu verhandelt gehören, also das Verhältnis zwischen ‘Frauen’ und ‘Literatur’: „Behandeln Verlage Autorinnen anders als Autoren? Werden Sie von Feuilleton und Medien anders besprochen?” Und: “Welche Auswirkungen hat das darauf, was wir lesen?“

Jane Austen 

Für mich als Lesende ist dieses Buch das mit Zahlen und Studien belegte Manifest meiner eigenen Eindrücke und Erfahrungen eines sechsjährigen Literaturwissenschaftsstudiums und einer langen eigenen Lesegeschichte. Ich erinnere mich beim Lesen von Seiferts Buch zum Beispiel an die Lektürelisten, die allen Studierenden im ersten Semester ans Herz gelegt wurden, um möglichst gut und schnell Lektürestoff aufzuholen, den man für ein literaturwissenschaftliches Studium brauchen würde. Und ich erinnere mich an meine herbe Enttäuschung, als Autor:innen, die ich als Jugendliche gelesen hatte, und die nicht zuletzt der Grund waren, dass mein 18-jähriges Ich dieses Studium ausgesucht hatte, darauf nicht vorkamen – ich vermisste Jane Austen, Dorothy Parker und die Brontë-Schwestern. Allerdings konnte ich deren Abwesenheit damals noch nicht wirklich einordnen und fand mich schnell mit dem Gedanken ab, dass diese wohl eher zur “Freizeitliteratur” gehörten – ein weiteres Label, das sein Übriges leistet, um bestimmte Literatur, die oft aus weiblicher Hand stammt, aus dem akademischen Kanon zu exkludieren.

Als ich nun Seiferts Buch las, dachte ich, es wird sich an diesen Listen sicherlich einiges getan haben. Insbesondere, da die Seminare gegen Ende meines Studiums, zumindest diejenigen, die von jungen Dozent:innen geleitet wurden, in jedem Maße politisch waren – postkoloniale Theorie und Gender Studies waren endlich nicht nur wichtig, sondern in Mode, Klassismusforschung zog langsam aber sicher nach. Ich warf also einen erneuten Blick auf die Webseite meines alten Instituts. Dort finden sich nach wie vor zwei Empfehlungslisten des Lehrkörpers, eine für literarische, eine für theoretische Texte. Meine früher heiß geliebte Jane Austen hat es mittlerweile auf die Liste geschafft, aber viel Gesellschaft hat sie nicht. Ich zähle durch: Bei den literarischen Texten werden insgesamt 50 empfohlen, darunter 3 von Frauen. Auf der Liste der theoretischen Texte finden sich immerhin 4 Frauen von insgesamt 39 gelisteten Texten. Aber noch interessanter als dieses nach wie vor herrschende Missverhältnis ist, dass sich diese Frauen, die es auf die theoretische Liste ‘geschafft’ haben, allesamt mit Gendergleichheit und Feminismus auseinandersetzen. Und so hinterlässt die Inklusion dieser schreibenden Frauen auf der Liste nicht nur den Beigeschmack von Alibi – Alibi-Texte, die nun eben auf die Liste müssen, weil das Department der Gender Studies im Nachbargebäude sonst auf die Barrikaden geht – sondern auch den Eindruck, dass diese Inklusion weibliche Stimmen nicht unbedingt von ihrem ‘Sonderstatus’ befreit, wenn gerade die Texte gelesen werden sollen, in denen die Autorinnen vor allem aus ihrer Position als Frau und von dem zugehörigen Erfahrungsschatz schreiben. 

Erwähnenswert finde ich das deshalb, da die Diskrepanz zwischen meinem Erleben als Studentin, die in ihren letzten Semestern immer wieder an sehr guten Seminaren teilnehmen durfte, in denen Texte von Chris Kraus bis Hélène Cixous gelesen wurden, und den Erfahrungen, die Erstsemester scheinbar nach wie vor machen, wenn sie sich an den Empfehlungslisten orientieren, wie ich es damals getan habe, nach wie vor erschreckend groß ist. Und weil sich an dieser Diskrepanz zeigt, wie langsam und schwerfällig Reform stattfindet, besonders wenn die richtunggebenden Lektüreimpulse primär von älteren (meist weißen) Dozierenden ausgesucht werden. 

                Kanon bilden

Überhaupt kommt bildenden Institutionen eine tragende Rolle zu, wenn es um die Erhaltung eines cis-weiß-männlichen Machtkanons geht, die diesen in (sehr beschränkten) Empfehlungen immer wieder neu bestärken – und das nicht erst im Studienkontext. Bereits im Feld der ‘Pflichtlektüre’ während der schulischen Ausbildung, die ja schon einen unangenehm autoritären Namen trägt, gibt es ein ähnlich unausgewogenes Verhältnis zwischen Autoren und Autorinnen. Die Lage scheint hier sogar noch festgefahrener zu sein. Seifert schreibt, es „lässt sich in Deutschland nach wie vor leicht Abitur machen, ohne auch nur ein einziges Buch einer Frau lesen zu müssen.“ Tatsächlich haben aktuell lediglich 3 Bundesländer unter der Pflichtlektüre auch einen (!) Titel einer (!) AutorIn gelistet. Besonders verheerend ist natürlich, dass gerade die Schule der Ort ist, an dem Lesegewohnheiten eingeübt werden – und der besonders jungen Menschen Vorbilder zur Seite stellen sollte. Auf diese Weise wird nicht nur riskiert, dass man gute Bücher früh mit männlichen Autoren verbindet, sondern auch befördert, dass Erzählungen von weiblich gelesenen Personen, deren Geschichten, die Ziele und Wünsche ihrer Protagonist:innen einfach eine kleinere bis gar keine Rolle in den ersten Leseerfahrungen von jungen Leser:innen spielen. 

Autorinnen verlegen und rezensieren 

Diese im Bildungskontext sichtbar werdenden Strukturen setzen sich, so Seifert, im Umgang des Literaturverlags und Journalismusbetriebs mit Autorinnen und deren Texten fort, denn auch die Verlage und Redakteure des Feuilletons bekleckern sich im Namen der Gleichberechtigung nicht gerade mit Ruhm. Seifert beobachtet sogar: „je höher das literarische Prestige eines Verlages, desto mehr scheint er auf Männer im Programm zu setzen. Bei Hanser waren es im vergangenen Jahr etwa nur 22 Prozent Autorinnen.“ Und wie sie schon für die Autorinnen der Literaturgeschichte festgestellt hatte, die durch wenige Besprechungen und beinahe keine zweiten Auflagen über die Jahre einfach Stück für Stück ausradiert wurden, müssen auch Autorinnen der Gegenwart nach wie vor um einen Platz am begehrten Rezensionstisch kämpfen. Hier verweist Seifert auf eine Studie der Universität Rostock die im März 2018 „über 2.000 Rezensionen aus 69 deutschen Medien [...] sozialwissenschaftlich auswertete.“ Die Studie unter dem Titel #frauenzählen kam zu dem Ergebnis, „dass Bücher von Männern doppelt so häufig besprochen werden wie Bücher von Frauen – und nicht nur häufiger, sie bekommen auch mehr Raum”. Das ist natürlich nicht überraschend, bedenkt man, dass diese auch häufiger verlegt werden, es zeigt jedoch, dass auch in der Besprechung der Texte von Autorinnen nicht gerade gegen ihre Ungleichbehandlung an gearbeitet wird. Darüber hinaus werden in den Besprechungen von männlichen Autoren professionellere Schwerpunkte gesetzt. Das Problem dabei, so Seifert: „Werden Bücher von Autorinnen rezensiert, spielt viel mehr Außerliterarisches eine Rolle als bei den Büchern ihrer männlichen Kollegen“. Der Familienstand, die Anzahl der Kinder oder die Farbe ihres Kleides während eines Interviews – all das sind Dinge, die besonders häufig in Besprechungen von Texten aus weiblicher Feder zu finden sind. Geradezu als Paradebeispiel dient wohl das unsägliche Interview des rbbs mit Maja Göpel, das ziemlich genau vor einem Jahr gesendet wurde. Der Moderator Jörg Thadeusz hielt es darin für angebracht, gleich zu Beginn des Gesprächs zu fragen, weshalb Göpel eigentlich auf der Umschlagabbildung ihres damals neu erschienen Buches Unsere Welt neu denken nicht lächle, und verließ so, noch bevor das Interview richtig in Gang kam, das Feld des Inhaltlichen. Noch unglaublicher ist, dass sich selbst diese Allgemeinplätze antifeministischer Rhetoriken immer noch halten, nachdem sie bereits seit geraumer Zeit immer wieder öffentlich dekonstruiert und ihre Machtspiele als solche entlarvt werden. Der Allgemeinplatz ‘erfolgreiche Frau gleich unweiblich/bedrohlich/grimmig’ und seine Zitation in Sätzen wie “Lächle doch mal” ist so alt und bekannt, dass es zu ihm sogar zahlreiche Meme-Darstellungen gibt.

Diese Anekdote zeigt, dass Seiferts Abhandlung zum Problemfeld ‘Frauenliteratur’ nicht etwa die Betrachtung eines Nischenproblems ist, sondern dass diese Ungleichheitsmechanismen des Literaturbetriebs sowohl repräsentativ als auch reproduktiv sind für die Allgegenwärtigkeit und Alltäglichkeit der Machtspiele, die daran partizipieren, dass Stimmen und Erzählungen von Frauen in unserer Lebenswelt immer noch unterrepräsentiert und Autorinnen in unseren Bücherregalen weiterhin weiße Flecken unserer Literaturkarte sind. 

Weiße Flecken füllen

Besonders sichtbar werden diese Flecken in kleinen Selbstexperimenten, weshalb ein Instagram-Post des Verlegers Tillmann Severin es in fast alle Rezensionen zu Seiferts Buch und in ihr Buch selbst geschafft hat. Sein Post vom ersten Oktober letzten Jahres zeigt sein eigenes Bücherregal, nachdem er alle Bücher von männlichen Autoren mit dem Buchrücken zur Wand drehte und nun das Ungleichgewicht der Geschlechter unübersehbar in strahlendem Weiß von der Bücherwand strahlte. Wieso hat dieses Bild eine solche Kraft, dass es beinahe als Inszenierung von Seiferts Titel gelten könnte? Zunächst einmal wird in ihm die Lücke par excellence dargestellt, die weißen Flecken unentdeckter und ungelesener Autorinnen, an deren Stelle ein weiterer Mann steht. Darüber hinaus entfaltet dieser einfache Selbstversuch eine poetische Schlagkraft, die die gleichzeitige Schlichtheit wie Größe des Problems des (literarischen) Geschlechterkampfs bildlich darzustellen weiß. 

Um diesen weißen Lücken neue Farbe zu geben, muss es  –  wie so oft  – darum gehen, die Vielfalt der präsenten Stimmen aktiv zu stärken – und die Zugänglichkeit zu diesen Stimmen zu verbessern. Wie aber einen über Jahrhunderte gewachsenen Machtkanon nachhaltig durchbrechen? Natürlich ist es nicht damit getan, mehr Frauenstimmen auf Uni-Pläne zu setzen und pinke Sticker in den Müll zu werfen, selbst wenn darin ein elementarer Schritt liegt. Es muss vor allem darum gehen, diesen neuen Kanon intersektional zu denken: schreibende Frauen, schreibende Mütter, (post-)migrantische Schreibende, LGBTQI-Schreibende, Schreibende mit Behinderung, Schreibende mit wenig Einkommen: Es muss darum gehen, diese Stimmen stärker zu fördern und öfter zu verlegen, um so einen neuen inklusiven Kanon wachsen zu lassen. Und sie (inhaltlich) stärker zu Wort kommen zu lassen, in Interviews ebenso wie in Büchern. So ist es fast eine kleine selbstreferenzielle Performance, dass die Zitate in Seiferts Buch weit über 50 % von weiblichen Stimmen stammen. Weiter stellt Seifert ihrem Buch eine ganze Seite zum Sprachgebrauch voran, um auf genannte intersektionale Problematiken nicht nur hinzuweisen, sondern genau zu erklären, wie und weshalb sie sich in ihrem Buch für das Gendersternchen entschieden hat. Unaufgeregt und an prominentester Stelle ist dieses ungewöhnliche Vorwort eine inklusive und bedachte Praxis, die sich so einige Sachbuch-Autoren:innen abschauen könnten. 

Auch einige Verlage widmen sich bereits proaktiv der Aufgabe einer neuen Kanonbildung. Verlage wie Edition fünf beispielsweise haben es sich zur Aufgabe gemacht, vergessene weibliche Stimmen aus der Literaturgeschichte neu in Erinnerung zu rufen. Andere Verlage wie der ECCO Verlag hingegen widmen ihr Verlagsprogramm ausschließlich weiblichen Stimmen der Gegenwartsliteratur. Klingt nach Quote? Ist es auch. Aber wie in allen anderen Bereichen, in denen sich die Machtverhältnisse schnell und radikal verschieben müssen, um annähernd etwas wie Gleichberechtigung herzustellen, ist sie wohl der einzige Weg, um dieser Aufgabe gewissenhaft und schnell genug nachzugehen. Nicht nur Verlage müssen jedoch ihre Programme überdenken. Solange ein solches Missverhältnis im Verlag von Autorinnen besteht, müssten auch die Lesenden ihre Lesegewohnheiten stärker in den Blick nehmen, die auf so eintönige Weise von Schule und Studium antrainiert wurden. Wie wäre es gerade bei Sachbüchern, sich den Check des Quellenverzeichnisses zur Gewohnheit werden zu lassen. Es wird keine Frau zitiert? Gut, dann eben nicht dieses Buch. Mit bewusstem Buchkonsum müsste es letztlich so sein wie mit bewusstem Lebensmitteleinkauf, und dieses bewusste Konsumieren darf nicht dabei aufhören, bei kleinen Buchläden einzukaufen statt bei Großkonzernen wie Amazon, sondern muss ein kritisches Befragen des eigenen Bücherregals beinhalten; ein Befragen auf seine Männlichkeit, Weißheit und auf all die anderen zwischen Buchrücken versteckten -ismen. Nicole Seifert etwa nahm sich bewusst eine ‘Lesequote’ vor. Ein Jahr wollte sie – als Ausgleich zu den Jahren zuvor – nur Bücher von Autorinnen lesen. Und aus diesem Jahr wurden mehrere Jahre, ein sehr interessanter Blog und ein unheimlich wichtiges und lesenswertes Buch – das auf alle institutionalisierten und privaten Pflichtlektürelisten gehört.

Nicole Seifert: Frauenliteratur. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt.

‎ Kiepenheuer&Witsch, Köln 2021, gebundene Ausgabe 18,00 €