Geistergeschichten,
oder vielleicht ist das hier:
wo Kindheit endet 

von Sophia Hembeck

Wenn man sich die Kindheit als eigene Welt vorstellt, ein magisches Reich der Phantasie; eine Welt, die zum Teil aus einem kindlichen Verarbeitungsmechanismus entsteht, der einen vor allem Bösen bewahrt. 

Wo es immer ein “Ende gut, alles gut” gibt, eine Wendung, einen Zauberspruch, der alles überwindet. 

– Dann war hier das Ende.

Als Kind habe ich immer mit offener Tür geschlafen. Die Tür offen zu lassen, hat sich sicherer angefühlt; unten die Eltern im Wohnzimmer, die Geräusche des Fernsehers, meine drei Geschwister, die nach und nach die Treppe hinauf kamen, um das Bad zu benutzen; das Licht des Zeitschalters, das für eine halbe Minute brannte und dann erlosch. Die offene Tür verband uns alle auf eine Weise, als ob wir beieinander schliefen. Die Tür zu schließen hätte bedeutet, dass ich allein war, ungeschützt, außerhalb des Familienverbands. 

Kurz nach meinem dreizehnten Geburtstag schloss ich die Tür, was damit zusammenfiel, dass ich einen Jungen aus meiner Schule anrief, mit dem ich vier oder fünf Mal ausgegangen war, um ihm zu sagen: dass es vorbei war.  

Ich erinnere mich, wie ich auf dem Toilettenrand saß und der Junge in meinem Kinderzimmer auf meinem Bett darauf wartete, dass ich zurückkam. An die kleinen roten Punkte auf dem Toilettenpapier. Er hatte mich wund gekratzt, als er versuchte, mit seinen Fingern in mich einzudringen. Der erste Junge, den ich je an mich herangelassen hatte, und ich hatte das instinktive Gefühl, dass es von nun an nur noch schlimmer werden konnte. Wie ich dort saß, auf dem kalten Toilettensitz, über mir das Oberlicht, durch dessen offenen Schlitz ein scharfer Frühlingswind in meinen Nacken pfiff, die Angst davor, zurück in mein Zimmer zu gehen, die Angst, ihm sagen zu müssen, dass er gehen soll. Mein Zimmer, mein Zuhause, plötzlich zu einer Kriegszone mutiert, und ich versteckt im Schützengraben. Ich hatte doch Nein gesagt, nicht? Konnte er nicht sehen, wie unangenehm mir das Ganze war? 

Es war fast surreal, dieses Blut und diese Schmerzen, als würde es jemand anderem passieren. Ich erinnere mich an die Enttäuschung, die Traurigkeit, die Stumpfheit; ich erinnere mich nicht daran, wütend gewesen zu sein. Ich weiß nur, dass meine Worte nicht richtig gelandet waren. 

Und wie uneins ich mich darüber fühlte. 

Hatte ich nicht die richtigen Worte benutzt? 

Meine Schwester meinte neulich, als wir über die Feiertage alle Zuhause waren, dass ich oft nicht bemerken würde, was tatsächlich um mich herum geschieht. In diesem Fall meinte sie: wie ich nicht reagiert hatte, als sie mir etwas zeigen wollte. 

Aber nun frage ich mich, wie oft ich es in meinem Leben nicht bemerkt habe, wenn Menschen mir tatsächlich weh tun wollten. 

Irgendwann ist er gegangen. Was auch immer ich ihm gesagt habe, meine Meinung oder nur höfliches Gestotter. Ob ich runtergegangen bin zu meinen Eltern und so getan habe, als wäre nichts gewesen. Es liegt alles im Nebel. Manche Momente klar umrissen, als stünde ich immer noch davor. Meine Hand, die gegen seine Armbeuge drückt, die Farbe meiner Unterwäsche: pink. Andere Momente verschwommen: Hat er sich entschuldigt? Hat er verstanden, was los war? Hat es ihn interessiert?  

Was ich noch genau weiß, ist, dass ich ein paar Tage wartete, bis zu den Osterferien. Dass ich den Plan fasste, ihn anzurufen, um ihm in der Sicherheit von zwei freien Wochen, in denen ich ihn nicht in der Schule sehen musste, zu sagen, dass es vorbei war.  

An diesem Tag schloss ich die Tür.  

3  

Da ist ein Bahnhof in meiner Heimatstadt, der von einem Geist heimgesucht wird. Um genau zu sein, gibt es vier Bahnhöfe in meiner Heimatstadt, aber nur bei einem läuft es mir kalt den Rücken hinunter, wenn ich an ihm vorbei gehe. Selten steige ich dort aus, in dieser Gegend gibt es für mich nicht viel zu tun, außer mich zu erinnern.  

Und mich an das Erinnern zu erinnern und Geister zu multiplizieren, bis der ganze Bahnsteig überquillt. Bis auf die Gleise, bis hinter die Böschung und unter die Bänke.  

Ich versuche, nicht aus dem Fenster zu schauen, wenn das passiert.
Wenn alles in einem weißen Nebel verschwindet. Man könnte schneeblind werden.  

“Ist irgendwas passiert?” fragte mich meine Mutter kurz nach Ostern, und zeigte dabei auf ein ziemlich düsteres Bild, das ich gerade malte. Schulterzuckend versicherte ich ihr, dass ich einfach nur so malte. Ich glaube, mir fehlten damals die Worte. Die Worte hatten mich im Stich gelassen. Sie hatten keinen sicheren Ort, um zu landen. Wozu sich bemühen?  

Rebecca Solnit schreibt über dieses Verstummen, das im Grunde genommen überhaupt kein Verstummen ist, denn das würde bedeuten, “man hätte versucht zu sprechen. In meinem Fall handelte es sich aber nicht um ein Verstummen, weil keine Rede gestoppt wurde; ich hatte nie angefangen oder wurde schon vor zu langer Zeit gestoppt. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie es passiert ist. Es kam mir nie in den Sinn, mit den Männern zu sprechen, die mich damals unter Druck setzten, weil es mir nicht in den Sinn kam, die Autorität zu besitzen, um mich so zu behaupten. Es kam mir nicht in den Sinn, dass diese Männer  irgendeine Verpflichtung oder Neigung hatten, meine Verweigerung zu respektieren, dass meine Worte nicht alles nur noch schlimmer machen würden.”¹

13 Jahre später sollte ich wieder in einem Bett liegen, meinem Bett, in einer Stadt, die ich wieder verlassen sollte, und dasselbe Gefühl haben. Dass meine Worte nicht richtig gelandet waren, dass sie abgerutscht waren von diesem Mann, mit dem ich zuvor ein paar Mal  geschlafen hatte, diesem Mann, der in dem Moment nur ein Freund hätte sein sollen, der sich stattdessen aber so privilegiert gefühlt hatte, über all meine gesetzten Grenzen zu schreiten, dass ich irgendwann nachgab und mit ihm den schlimmsten Sex meines Lebens hatte. 

Wo an Grenzen hin- und hergerissen wird und Erwartungen wie Mechanismen einrasten, um zuzuschnappen.

Und da wundere ich mich, wo das herkommt? Dieses Aushalten.

Und da wundere ich mich: War es dir egal? Ist es dir nicht aufgefallen? 

Alles, was ich sagen kann, ist: dass meine Worte nicht bei ihm gelandet sind, und wenn Worte das nicht schaffen, dann gibt es in so einem Moment nur zwei Möglichkeiten. Entweder man tut so, als hätte man nie etwas gesagt. Man verneint sich selbst. Oder man bleibt dabei und muss womöglich Konsequenzen aushalten, über die man keine Kontrolle hat. 

Es fühlt sich an wie eine Geisterbeschwörung. 

6

Erinnerungen sind lakunär, voller Lücken, wie uralte Schriften, zersetzt durch den Lauf der Zeit. Eine lacuna (eingedeutscht aus dem Lateinischen: Lakune), Vertiefung, Loch, Lücke, Höhlung, beschreibt “eine tatsächlich vorhandene oder aus Problemen des Textes erschlossene Lücke in der Überlieferung eines Textes.”² Eine Leerstelle, wo etwas sein sollte, aber nicht (mehr) ist, verloren durch die Erosion der Zeit, die selektive Aufnahme unseres Gehirns, seine beschränkte Kapazität, Informationen zu behalten.  

Es liegt viel Schönheit darin, in der Dichtung von Sappho zum Beispiel, der Lyrikerin des alten Griechenlands, deren Werk heute nur noch in Fragmenten besteht, die in ihrer Durchlässigkeit umso schöner leuchten. Auch wenn das Verlangen nach einer ganzheitlichen Wahrheit und Bedeutung einen bei der Lektüre vielleicht nicht loslässt. 

Als Schriftstellerin bin ich es gewohnt, diese Lücken mit Geschichten zu füllen, und einen Buchstaben nach dem anderen in die kleinen Löcher meiner Zähne zu gießen. 

Da ist ein Bahnhof in meiner Heimatstadt, der von einem Geist heimgesucht wird. Um genau zu sein, gibt es vier Bahnhöfe in meiner Heimatstadt, aber nur bei einem läuft es mir kalt den Rücken hinunter, wenn ich an ihm vorbei gehe. Selten steige ich dort aus, in dieser Gegend gibt es für mich nicht viel zu tun, außer mich zu erinnern.  

Und mich an das Erinnern zu erinnern und Geister zu multiplizieren, bis der ganze Bahnsteig überquillt. Bis auf die Gleise, bis hinter die Böschung und unter die Bänke.  

Ich versuche, nicht aus dem Fenster zu schauen, wenn das passiert. Wenn alles in einem weißen Nebel verschwindet. Man könnte schneeblind werden.  

Im Märchen verlieren Bösewichte ihre Macht, wenn man sie beim Namen nennt, wie Rumpelstilzchen.  

Meine Magie besteht jedoch darin, Geschichten zu erzählen, Worte zu finden und sie zu Zaubersprüchen zu binden, und so meine Widersacher zwischen die sanften Seiten eines Buches zu verbannen.  

Aber um dahin zu gelangen, muss man die Geister um sich herum anerkennen.  

Man muss sie sehen können.  

Und wie viele.  





Aus Things I Have Loved,
übersetzt von Sophia Hembeck.



¹Eigene Übersetzung aus Rebecca Solnit, Recollections of My Non–Existence, Viking 2020
²https://de.wikipedia.org/wiki/Lacuna_(Philologie)