Von Angesicht zu Angesicht

Gespräch mit einem der umtriebigsten Ghostwriter der Gegenwart

von Ferenc Liebig

Wo liegt die Grenze zwischen Wirklichkeit und Selbstdarstellung - und wer entscheidet darüber? Sein Buch „Der unbekannte Bekannte“ löst aktuell eine hitzige Debatte zu dieser Frage aus. Wo fängt die Lüge an und wie gehen wir mit ihr um? Ist die Wahrheit überhaupt notwendig, wenn uns die Fiktion besser gefällt? Wie fühlt es sich an, stets im Schatten der ersten Reihe zu stehen - einem Zuschauer gleich das eigene Werk zu betrachten, während andere sich damit brüsten? In einem Wiener Restaurant treffen wir den Schriftsteller und Ghostwriter Nom de Plume. Entgegen bisheriger Schilderungen ist er äußerst zugänglich und charmant.

»Was macht Ihre Arbeit so besonders?« 

»Eine interessante Frage für den Einstieg. Lassen Sie mich hierfür auf den Fall Beltracchi eingehen. Seine Bilder hängen noch immer in Museen auf der ganzen Welt. Sie werden bewundert als etwas, das sie nicht sind. Max Ernst, Heinrich Campendock, August Macke. Wenn ich mich richtig erinnere, sagte Beltracchi in einem Interview, der Reiz liege für ihn in der Täuschung. Er geht in eine Ausstellung, und alle Besucher betrachten einen vermeintlichen Matisse. Nur er selbst kennt die Wahrheit. Das Faszinierende ist doch: Die Leute vertrauen sehr leichtfertig. Sie wollen Wunder erleben, zum Beispiel, dass zufällig auf einem verstaubten Dachboden ein echter van Gogh gefunden wird. Und genauso wollen sie diese Geschichten glauben.«

»Also ist der Reiz Ihres Schaffens das alleinige Wissen um Wahrheit?«

»Wenn man es ganz genau formulieren möchte, liegt der Reiz in der Unwissenheit der anderen.«

»Aber wünschen Sie sich insgeheim nicht doch manchmal, im Rampenlicht zu stehen?«

»Nein, mir geht es in diesem Zusammenhang nicht um Anerkennung.«

»Um was geht es Ihnen dann?«

»Darum, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Der Unterschied zu Beltracchi liegt allerdings darin, dass ich keine Fälschungen anfertige, sondern nur ein verfälschtes Bild der Wirklichkeit.«

»In Ihrem Buch schreiben Sie an einer Stelle: Der Markt richtet sich nur noch nach Quantität aus. In welcher Funktion sehen Sie sich dabei?«

»Der Markt ist ein Spiegel der Gesellschaft. Nachfrage bestimmt das Angebot. Das Problem besteht darin, dass Bücher mit geringerer künstlerischer Qualität hohe Auflagen versprechen. Sprachlich leicht verdauliche Biografien von Prominenten und ihren Erfolgsgeschichten treffen unerfreulicherweise den Zeitgeist. Fehlt diesen Prominenten die Begabung, klingelt mein Telefon. So läuft das. Willkommen in der Maschinerie des Kapitalismus. Wo das Geld liegt, muss gebohrt werden - melke die Kuh solange, bis sie tot umfällt. Wenn jemand in den Fokus der Aufmerksamkeit gerät, dann lässt er sich als Produkt vermarkten. In dieser kurzen Zeitspanne wird, gelinde gesagt, alles versucht, um den Umsatz zu erhöhen. Man steckt sie in Fernsehsendungen, plakatiert jede Freifläche mit Werbung zu, hofft auf mediale Diskussionen, Ungereimtheiten, die den Verkauf weiter antreiben. Und egal welche Rolle ich einnehme, ich bin ein Zahnrad in der Maschinerie. Als Zahnrad unterstütze ich das System zwar, als Mensch sehe ich mich aber als Künstler. Als Künstler selbst jedoch bin ich nicht relevant genug, um die von mir erwartete Wertschätzung zu bekommen. Deshalb schreibe ich für Menschen, die sich als Künstler sehen, für mich aber keine Künstler sind.«

»Sie bilden eine Wirklichkeit ab, die nicht ihre eigene ist. Wie schaffen Sie es, unter diesen Voraussetzungen in Ihrem Schreiben Authentizität vorzutäuschen?«

»Indem ich nicht darüber nachdenke, ob ich etwas vortäusche. Ich versuche, mich an der Sprache meines Gegenübers zu orientieren. Spricht er in kurzen Sätzen, schreibe ich in kurzen Sätzen. Schweift er viel ab, formuliere ich seine Gedanken in Schachtelsätzen. Vielleicht besteht meine Arbeit darin, Empathie aufzubringen. Man schlüpft in eine andere Haut, wird für einen begrenzten Zeitraum zu einer anderen Person. Die Sprache ist dabei nicht das Problem. Wer viel schreibt, ist anpassungsfähig.« 

»Auch an Vorgaben?«

»Größtenteils. Aber es gibt auch Ausnahmen. Manchmal ändern sich die Anforderungen während des Schreibprozesses. Eine Politikerin beispielsweise wollte ursprünglich auf die korrupten Zustände unserer Welt hinweisen, sprach am Ende jedoch nur über ihren Hund. Gemeinsam mit dem Verlag haben wir uns deshalb dazu entschieden, ein Buch über sie und ihren Hund zu schreiben, über Gewohnheiten, Skurrilitäten, das Verhältnis zwischen Haustier und Besitzer. Ihre Beliebtheitswerte sind nach der Veröffentlichung durch die Decke geschossen. Seitdem gab es mehrere Nachahmer:innen. Ich muss an dieser Stelle festhalten: Ich mag keine Hunde. Wichtig ist es, sich mit der Person zu identifizieren. Nach Abschluss der Arbeit allerdings auch, sie wieder ablegen zu können.«

»Gibt es auch Fälle, in denen diese Rücktransformation nicht funktioniert?«

»Ein Kollege von mir schrieb im Namen eines bekannten Sportlers über dessen Drogensucht am Ende seiner Karriere. Um die Auswirkungen besser nachvollziehen zu können, begann er selbst, bestimmte Drogen auszuprobieren. Du musst es am eigenen Körper spüren, sagte er dauernd. Kurz nach Erscheinen des Buches musste er in eine Entzugsklinik. Während man den Sportler für seine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema und für seine Ehrlichkeit feierte, ging mein Kollege in der Einsamkeit seines Zimmers mit Blick auf einen hübsch angelegten Rosengarten zugrunde. Er lebt noch, ist aber schwer angeschlagen.«

»In Ihrem Buch behaupten Sie, Autobiografien orientieren sich nie an der Wahrheit.«

»Wie erzählen Sie denn aus Ihrem Leben? Wenn Sie zum Beispiel mit Freunden über Ihren letzten Urlaub sprechen. Wir neigen schnell dazu, die Dinge bunter und größer zu machen, wenn wir sie in Worte fassen. Ich werde dafür bezahlt, für und über Menschen zu schreiben, die oft sehr eitel sind, die bewundert werden wollen, für ihre Eloquenz, für ihr Ansehen, für ihre Grundsätze, für Maßstäbe, die sie setzen. Aber bei fast allen von ihnen waren es Zufälle oder Glück, genau dort zu landen, nicht Talent oder Willenskraft. Das ist nur der Traum, den sie uns verkaufen wollen. Um uns noch mehr Gründe dafür zu geben, sie zu bewundern. Damit möchte ich diesen Menschen kein Talent absprechen, sondern nur betonen, dass es nicht das Talent war, das sie erfolgreich gemacht hat.«

»Sondern Glück?«

»Ein Leben besteht aus unglaublich vielen Kausalitäten, und diese Kausalitäten haben dazu geführt, dass jemand wie ich, dessen eigene Romane bei allen Verlagen abgelehnt wurden, nun fremde Autobiografien verfasst, das blühende Dasein anderer Menschen glorifiziert, ihre Abgründe mit Mitgefühl auskleidet, und ihre Höhen mit Dankbarkeit und Demut erdet. Glück ist sicherlich eine mögliche Definition davon.«

»Würden Sie gerne mit diesen Menschen tauschen?«

»In keinster Weise. Einige dieser Personen sind jünger als ich, und wenn man sie reden hört, fragt man sich, wie sie bisher in diesem Haifischbecken überleben konnten. Erfolg hat zwei Gesichter, er macht einen gleichermaßen dünnhäutig und größenwahnsinnig. Ich kann Ihnen sagen, hinter den Fassaden verbergen sich viele Abgründe. Eine Sängerin kommt ohne Benzodiazepine nicht aus dem Bett, ein Fußballspieler braucht Wodka, um seine Leistungsfähigkeit abrufen zu können, ein Schauspieler weint sich stundenlang in den Schlaf, weil er nicht Hamlet sein kann, sondern nur dessen Verkörperung. Wahrheit und Wahrnehmung. Sein oder Nichtsein.« 

»In Ihrem Fall Nichtsein?«

»Auf den Buchcovern leuchten die Menschen. Sie lächeln, wie es gewünscht wird. Sie verkaufen ihr Leben, ihre Intimität, ihre Einzigartigkeit. Sie sprechen bereitwillig ihre Ängste an, und auf fast all diesen Büchern prangt ein Bestselleraufkleber. Wir lieben unsere Helden. Wir wollen in ihre Leben eintauchen. Wir wollen diese Menschen sein. Selbst ihre Zusammenbrüche erscheinen uns besser als das, was wir haben. Ruhm hat etwas Magisches. Unsere Sucht nach Anerkennung. Dieser eine Augenblick im Zentrum der Aufmerksamkeit. Aber was passiert danach? Wenn die Scheinwerfer aus sind, wenn die Sichtbarkeit endet. Ich habe wenig damit zu tun. Ich verblende nur das Bild, gestalte es. Auch wenn es die ganze Zeit regnet, schreibe ich über die Sonne, trage dazu bei, dass man weiterhin an seine Vorbilder glauben will.«

»Gleichzeitig erhalten Sie keine Würdigung.«

»Richtig, diese Form der Wertschätzung wird mir im Verborgenen nie zuteil. Ich operiere im Hintergrund. Hinter dicken, lichtundurchlässigen Vorhängen. Man könnte mich nicht einmal als Schatten bezeichnen. Vielleicht als Gespenst. Ich trage über Monate das Gesicht eines anderen. Werde zu einer Maske. In der Hoffnung, sie rückstandsfrei wieder ablösen zu können. Auf einem Flug lernte ich einmal eine Psychotherapeutin kennen, die mir erzählte, dass wir immer Kinder bleiben, auch wenn wir es zu verstecken lernen. Das gleiche habe ich mit meinen Erwartungen an mich als Autor gemacht.«

»Was hat Sie nun dazu gebracht, Ihr eigenes Buch unter einem Pseudonym veröffentlichen?«

»Letzten Endes war es nicht meine Entscheidung.«

Sie kennen ihn nicht. Dabei haben Sie möglicherweise schon unzählige Bücher von ihm gelesen. Er ist der Unsichtbare, derjenige, dessen Name nur im Kleingedruckten erscheint. Von Verlagen beauftragt, verzichtet er auf das Rampenlicht. Man nennt ihn Ghostwriter, Auftragsschreiber, Fälscher. Ihm ist es nicht wichtig, wie man ihn nennt, denn nur er kennt seinen wahren Namen. Für ihn ist Ruhm nichts anderes als ein Wort mit vier Buchstaben, dem man nicht zu viel beimessen sollte. Auch wenn er immer mal wieder mit dem Vorwurf des Plagiats konfrontiert wird, verlässt er derartige Debatten stets unbeschadet. Nach dem Gespräch verschwand er ähnlich unauffällig, wie er gekommen war. 

Illustration von Victoria J. Steiner