goodbye to the good times

Von Helene Slancar


Ich wusste schon am 4. Tag des Urlaubs, dass die Beziehung vorbei war. Ich blieb trotzdem. Ich hatte einen Hang zum Masochismus, oder besser, ich war Perfektionistin. Martin und ich hatten uns nichts zu sagen - ich hatte das Gefühl, etwas Großes käme auf uns zu.
„Was denn“, fragte er. Ich ballte die Hände zu Fäusten.
Es war September und das Hotelbett war riesig. Trotzdem schwitzte er und trotzdem drehte er sich nachts mit betonschweren Armen immer wieder zu mir. Morgens sah ich mich im aufgefalteten Badezimmerspiegel dreimal.
„100 Meter Zahnseide“, sagte Martin, „kannst du dir das vorstellen.“
Mir schien nichts auf der Welt unmöglich.
Meistens spazierten wir. Er schaute in den Himmel und benannte die Formen der Wolken:
„Ein Lamm“, sagte er.
„Ich sehe nichts“, sagte ich.
Am Place de Stalingrad wurde ein Mann erstochen.
Martin küsste meine Oberlippe.
„Ich glaube wir müssen weiter zu Waldo“, sagte ich.
Paris hatte ein aufkommendes Crack-Problem.
„Ist es nicht wunderschön hier“, sagte Martin, „wie im Film.“

Ich ekelte mich nicht unbedingt vor Martin, es war nur der Sinn, den ich nicht mehr sehen konnte. Der Sinn, der darin liegen sollte, unsere Finger so miteinander zu verschränken, unsere Arme in Form eines langen zusammengeschlossenen Gliedes über den Asphalt zu schwingen. Auf dem Weg ins Café flog über uns ein Flugzeug. Ich stellte mir vor, darin zu sitzen.
Es war der letzte Tag vor der Rückreise.

Bonjour mes amis, sagte Waldo. Seine langen Arme schlenkerten auf und ab, von dem Pfahl, der sein Rumpf war. Er hatte sich bereits an sein neues Leben akklimatisiert und sprach nur mehr Französisch, wie wir es alle drei in der Schule gelernt hatten. Wir bestellten café allongé und oeufs durs.
Auf der Schachtel stand: „Das Rauchen schadet Ihrem ungeborenen Kind“.
Ich zündete eine Zigarette an.
Das Frühstück verlief, wie jedes Frühstück in Paris verlief: Waldo und Martin lasen Le Monde und ich versuchte, mich nicht zu Tode zu langweilen. Sie redeten über Politik und die Aussichtslosigkeit unserer Generation und … Ich war vielleicht überheblich: „Wenn wir in einem Film sind, dann bin ich Brigitte Bardot“, sagte ich.
„Nur weil du blond bist?“, fragte Martin.
„Kann man nicht einfach einmal etwas schön finden“, sagte ich.
„Nein“, sagte Waldo. „Nicht in der Philosophie.“
Er machte gerade seinen Master in Wirtschaftspolitik.
Die Kellnerin brachte den zweiten Kaffee.
Martin und Waldo waren empört. Wir waren übrigens alle furchtbar empört.
In einem Nachbarland herrschte Krieg.
„Hast du die neue Single gehört?“, fragte Martin.
„Von wem?“
Er zeigte auf ein Bild in der Zeitung.
„Ah“, sagte Waldo, „ja.“
Hinter hohen Häusern konnte man den Eiffelturm sehen. An den Bäumen die ersten gelben Blätter. Ich fragte mich, wie es kam, dass sich immer alles wiederholte, auf der Welt, ohne dass wir jemals etwas davon lernten. Ich hatte keinen einzigen Pullover eingepackt.
Die Verachtung“, überlegte ich, „von Godard“, in der Brigitte plötzlich klar wird, dass sie ihren Mann nicht liebt, dass sie ihren Mann nie lieben könnte. Sie verachtet ihn.
„Sei doch nicht so“, sagte Martin, „die Verachtung spielt nicht mal in Paris.“
Um die Ecke kam Inez. Sie küsste Waldo auf den Mund.
„Worüber wird geredet?“, fragte sie. An ihrem Arm klimperte ein Goldarmband. Sie legte ihr Handy auf den Tisch, mit dem Bildschirm nach unten.
„Liebe und Tod“, sagte Waldo.
„Godard“, sagte ich. „Ich bin offen für ein neues Thema.“
In einer U-Bahnstation griff ein Mann einer Frau unter den Rock.

„Wo hat er die aufgegabelt“, fragte ich Martin, als er mir erzählte, Waldo hätte ihm am Telefon von der Liebe seines Lebens berichtet:
„Er sagt, wir müssen ihn unbedingt besuchen.“
Der Legende nach geschah es am Fuße des Eiffelturms: Inez soll Waldo nach einer Zigarette gefragt haben. Ich traute ihr so etwas Triviales zu, und ihm, sich in so etwas Triviales zu verlieben. So kam es zu dem Urlaub - Martin und ich mussten Waldo zu seinem Lebenswandel gratulieren. Inez und er zogen nach zwei Tagen zusammen. Er war jetzt bereit, für immer langweilig zu werden.
„Er sagt, wir sind doch auch schon seit acht Jahren zusammen.“
Mich stachen sieben winzige Stecknadeln zugleich ins Herz: Ich nickte.
„Er sagt, er ist es leid, immer weiter zu laufen.“
Ich nickte.
„Er sagt, er will sich mal so richtig lange hinsetzen.“
Ich nickte.


Exterieur. Café des Deux Moulins, Paris 18. Arrondissement. 4 Personen. 2 Pärchen, wie sie einem überall begegnen: Die Männer gestikulieren, die Frauen sitzen, die Arme verschränkt. Die Blonde (type comme Brigitte Bardot) und ihr Freund sitzen sich gegenüber und treten sich gegenseitig mit den Füßen unter dem Tisch. Der Braunhaarige trägt einen braunen Mantel. Seine Freundin hat große Augen. Er zündet ihre Zigarette an.



WALDO
„Unser Kind soll einen russischen Namen haben, etwa Vladimir“

INEZ
„Wir werden kein Kind bekommen”

ICH
„Ich nenne mein Kind Undine“

MARTIN
„Es ist unverantwortlich in dieser Zeit ein Kind zu bekommen“

Besteckklirren, die Kellnerin bereitet die Tische für das Mittagessen vor.

WALDO
„Wenn man kein Kind haben will, sollte man auch keinen Sex haben“

INEZ
„Es ist ein Risiko“

Sie arbeitet in einer Abtreibungsklinik am Rande der Stadt.

MARTIN
„Es ist unverantwortlich“

Schreie. Ein Obdachloser auf der einen Straßenseite. Kinder im Park auf der anderen.

ICH
„Für euch ist es zumindest keine Verpflichtung“

WALDO
„Ich würde mich um unser Kind kümmern“

INEZ
„Wir werden kein Kind bekommen“

MARTIN
„Es ist unverantwortlich, in dieser Zeit ein Kind zu bekommen“

ICH
„Du musst es ja auch nicht austragen“

„Mehr Kaffee bitte“

„Für mich das Tagesgericht“

WALDO
„Wie schwer kann das sein?“

Inez lachte betreten. Ich dachte, dass ich sie eigentlich gar nicht kannte, und ich lachte auch.
„Von welcher Zeit reden wir überhaupt?“, sagte ich.
Wir hatten alle studiert und wollten keine Kinder bekommen. Uns standen alle Türen offen.
„Seien wir uns ehrlich, es geht doch um ein Ideal“, sagte Martin.
„Godard hat das Ideal auch nichts gebracht“, sagte Waldo.
„Man braucht ein Ideal“, sagte Inez.
„Godard ist schon lange tot. Kannst du dich nicht erinnern“, Martin schaute mich an, „als wir Masculin Féminin geschaut haben.“
Waldo: „Die Kinder von Marx und Coca Cola. Es gefällt mir nicht, dass da alle immer durcheinander reden.“
Inez: „Godard ist nicht tot.“
Waldo: „Godard ist hier in Paris begraben.“
Inez: „Godard lebt in der Schweiz.“
Waldo: „Lass doch die Schweiz da raus.“
Martin zu mir: „Das hast du selbst gesagt.“



Ich sagte gar nichts.
Ich dachte an nichts.
Ich dachte an F.
Ich hatte ihn F getauft, weil ich seinen Namen nicht kannte, und weil sein Name ohnehin nicht ins Gewicht fiel. Der Moment mit F war kurz und vorbei, bevor ich ihm eine wahre Bedeutung zuschreiben konnte. Vielleicht hatte er keine Bedeutung. Ich wünschte mir, er hätte eine Bedeutung: F berührte meinen Arsch auf der Rolltreppe zum Place de Clichy. Ich drehte mich um und sah einen bärtigen Mann. Er drängte sich an mir vorbei.
Martin: „Manchmal muss man Sachen einfach geschehen lassen.“
Ich dachte an die Wahrscheinlichkeit, mit der am Nebentisch dasselbe Gespräch stattfand.
„Worauf es sich herunterbrächten lässt“, sagte Waldo, „wie willst du leben und wie kannst du leben. In dieser Welt.“
„Nichts muss die Welt verändern“, sagte Martin, „aber alles kann.“
„Das ist gut. Das hat Potenzial.“
Inez bestellte ein Croissant.
Ich dachte an Fs weltbewegende Hände an meinem Arsch. Ich recycelte den Gedanken so lange, bis ein anderer daraus wurde: Fs Hände um meinen Hals, Fs Finger an meiner Kehle, F, der mich tötete. Morgen könnten wir tot sein, dachte ich, werden wir nicht, aber könnten wir.
„Wir müssen nehmen, was wir kriegen“, sagte Martin.
Und dann fiel der Vogel aus dem Himmel.

Es war eine Taube. Sie landete neben unserem Tisch, zwischen Zigarettenstummeln und einem Blatt.
Sie landete auf dem Rücken.
Ein paar Leute drehten sich um.
„Was jetzt?“, sagte Martin.
Im Hintergrund plätscherte ein Brunnen.
Die Taube drehte sich nach links und nach rechts, sie versuchte sich wieder aufzurichten, vergeblich.
„Interessant“, sagte Waldo.
In der Ferne schrie ein Baby aus einem Kinderwagen.
„Das Phänomen. Etwas passiert, alle sehen es und niemand macht etwas.“
Inez nickte.
Die Taube machte ein paar Verrenkungen. So wie sie lag, konnte sie keine Luft bekommen.
„Wir müssen sie umdrehen“, sagte ich.
„Eigentlich müssen wir sie ganz schnell töten“, sagte Martin. „Zur Erlösung.“
„Mit einem Stock“, sagte Inez.
„Mit einer Gabel“, sagte Waldo.
„Sie erstickt“, sagte ich.
Wir sahen dabei zu, wie ihr Körper langsam abkühlte.
Die Taube war nur mehr ein Stein. Sie war nie mehr gewesen, als ein Stein.
„Kann man nichts machen“, sagte Martin zur Kellnerin.
„Es gibt soundso zu viele Tauben in dieser Stadt. Eine mehr oder weniger, hab ich Recht.“
„Ja“, sagte Waldo. „So schnell kann es gehen. Es ist wirklich willkürlich. Sagt auch Camus. Der ist übrigens bei einem Autounfall gestorben.“
„Mein Traumauto ist der Jaguar XK150“, sagte Martin.
Ich schaute über den Platz hinweg in die Ferne, wo ausschließlich schwarze Wägen fuhren. Aus dem Café kam die Kellnerin mit einer Handschaufel und einem kleinen Besen. Sie kehrte den Vogel auf und ging damit, vom Körper weggestreckt, zum nächsten Mistkübel.
Übrigens hatte keiner von uns Recht: Godard lebte tatsächlich in der Schweiz, aber er starb eine Woche später. Er war 91 gewesen, Le Monde veröffentlichte einen ausführlichen Artikel über sein Leben und Werk. Was dieser Verlust für uns bedeuten würde? Das wussten wir zu dem Zeitpunkt noch nicht. Wir wussten es auch später nicht. Irgendwann würde ich mir wohl lächerlich vorkommen, weiter so zu leben - nach einem Skript, das keinen Autor mehr hatte.
Die Kellnerin kam zu unserem Tisch: „Vous désirez autre chose?“
Ich hatte mir so sehr gewünscht, es würde regnen.
Wir hielten ihr die leeren Tassen hin.