Antworten / Weiterschreiben / Andoc(k)en
Zwei Frauen ihrer Klasse
ein dialogisches Schreibexperiment zwischen Dagmara Budak & Katharina Walser
EINE ART VORWORT Katharina/19.05.22
Dieser Text hat seinen Anfang in einem Gespräch, das sich in unseren Privatnachrichten auf Social Media entsponnen hat und das ich danach unbedingt weiterführen wollte. Danke Dagmara, dass du hier auf diese Weise mit mir weitersprichst. Ich freue mich sehr, dass das Internet uns einander vorgestellt hat.
Wir haben uns dafür entschieden, dieses Gespräch über Klasse nicht in einen geplanten Text zu pressen, keine Gliederung zu erstellen, sondern genau das zu tun, was unsere Chat-Texte auch waren: Ein Drauflosschreiben, ein gemeinsames Erinnern, ein Offenhalten, dessen, wo der Text hin möchte. Ein Rantasten, daran, wie wir uns diesem überwältigend großen Thema über unsere eigenen Erinnerungen und unsere Lektüren nähern können. Ich freue mich jetzt auf dieses Losschreiben, darauf, uns in angrenzenden Themen wiederzufinden, auf das Zurückkommen, auf das Schleifen Drehen; darauf, einander Fragen zu stellen, lose Gedanken in diesen Raum reinzurufen und andere Stimmen zu den Themen zu Wort kommen zu lassen. Der Raum, in dem wir all das tun wollen, ist dabei das Doc, das in seiner offenen Form die Möglichkeit bietet, an einen beliebigen Punkt im Text zu springen, um dort zu antworten, Nachträge zu ergänzen, weiterzudenken oder zu widersprechen – der anderen oder vielleicht vor allem sich selbst, während wir von uns und unseren Lektüren erzählen, Politisches neben Privatem stehen lassen wollen. Am Ende wird es wohl weder ein rein autobiografisches Projekt, noch zur Gänze akademisch oder journalistisch, sondern ein Miteinander all dieser Schreibformen – eine Collage aus Fragen, Antworten, Nachträgen, Intermissionen und Zitaten. Die Stimmen, die uns dabei in Zitatform bei unserem Prozess begleiten sollen, sind deshalb auch nicht als Belege im klassischen Sinne zu verstehen, sondern als Wegbereiter*innen, die das eigene Verstehen unserer sozialen Herkunft erleichtert haben. Wir wollen die Funktion des Stimmeeinholens deshalb so verstehen, wie Daniela Dröscher in Zeige deine Klasse schreibt: „Das Zitat hat viele Gesichter. Es kann die Funktion haben, meine Belesenheit auszustellen oder meine Sicht durch andere, gewichtigere Stimmen zu legitimieren. Für mich waren Zitate immer vor allem eines: Gefährten. Stimmen – an denen ich mich orientiere. Die ich – bewunderte.” Ein vielstimmiger Dialog zwischen uns und unseren Lektürepartner*innen also. In diesem Sinne, so wie auch unser Telefonat neulich endete: Ich bin nervös, aber vor allem bin ich vorfreudig. Hier also der Post, der uns beide so beschäftigt hat, dass wir uns mehrere Wochen schriftlich unterhalten wollen.
Katharina/ 20.05.22
Mir würden viele Dinge einfallen, mit denen ich die oben genannte Liste weiterführen könnte. „Immer ein wenig neidisch auf Menschen mit richtig schicken Rädern sein, so wie auf die Kinder damals, die ständig den Schulranzen wechselten”, „Einen Faber Castell Stifte-Fetisch haben (eigentlich mit allen teuren Stiften)”, „Popcorn im Kino kaufen wollen, aus Prinzip, nicht weil man wirklich Lust darauf hat” usw. Ich glaube aber – entgegen der Überschrift des Posts – nicht, dass man arm gewesen sein muss, um viele dieser Dinge als Erwachsene spüren zu können. Es reicht schon, nicht zu einer bürgerlichen Mittelklasse zu gehören.
Dagmara/ 20.05.22
Ich fühle mich in teuren Restaurants, Hotels oder Geschäften stets fehl am Platz. Ich spüre – nein, ich weiß – ich gehöre nicht hierher und ich glaube zu wissen, dass die anderen es auch wissen. Das Gefühl des Nicht-Dazugehörens hatte ich als Kind nie. Ich bin in einer Kleinstadt im damals noch sozialistischen Polen aufgewachsen. Aber war meine Familie arm?
Was bedeutet „arm”? Es geht mir nicht um amtliche Definitionen, sondern um individuelle Realitäten. Ich habe gestern meinen Vater gefragt: „Waren wir arm?” Er antwortete etwas ausweichend: „Wir hatten immer etwas zu essen, hatten eine Wohnung und deine Mutter und ich arbeiteten. Wir hatten immer Brot zu Hause, also waren wir nicht arm. Aber ja, wir hatten – wie alle anderen um uns herum auch – nicht viel.”
Meine Familie gehörte der klassischen Arbeiter*innenklasse an, sowie alle Menschen, mit denen wir im Alltag zutun hatten – Nachbarn, Freund*innen, Kolleg*innen, Lehrer*innen. Bei uns gab es keine ‘reichen Leute’. Wir gehörten scheinbar alle derselben Klasse an. Selbstverständlich dachte ich damals nicht in Kategorien wie Klasse; ich nahm aber wahr, dass wir irgendwie, mehr oder weniger, gleich waren. Heute weiß ich, dass es nicht so war. Auch im Sozialismus gab es Eliten, allen voran eine kleine politische Elite, die für sich, ihre Familien und Freunde Privilegien – in Form von Freiheiten und materiellen Gütern – beanspruchte.
Über die Klassenzugehörigkeit entscheiden aber nicht nur finanzielle Ressourcen oder Produktionsmittel, die im Sozialismus ohnehin verstaatlicht sind, sondern auch die Ressource Bildung. Formell galten auch in Polen Lehrer*innen, Ingenieur*innen, Akademiker*innen im Allgemeinen und Personen mit höheren Abschlüssen nicht als Angehörige der Arbeiter*innenklasse, sondern als sogenannte inteligencja. Da aber Akademiker*innen zum großen Teil aus der Arbeiter*innenklasse (aber auch aus bäuerlichen Familien) rekrutiert wurden, waren viele von ihnen beides – theoretisch inteligencja, praktisch Arbeiter*innenklasse.
Meine Mutter besuchte ein technikum odzieżowe (Fachschule für Textilwesen), wo sie Abitur machte und zur Textiltechnikerin ausgebildet wurde. Mein Vater studierte Maschinenbau und ist Ingenieur. Theoretisch gehörten also meine Eltern, die zwar beide aus Arbeiter*innenfamilien stammen, aber höhere Abschlüsse hatten, dieser inteligencja an. Einmal fragte ich meinen Vater, wie das denn sein könne, dass wir dieser ominösen inteligencja angehörten, denn schließlich sei doch auch ich in einer typischen Arbeiter*innenfamilie aufgewachsen. Er sagte, dass wir „gefühlt” nach wie vor Angehörige der Arbeiter*innenklasse waren. Nicht nur gefühlt – würde ich sagen –, vielmehr lebten wir mental und materiell weiterhin das Leben einer Arbeiter*innenfamilie – wir waren kein Akademiker*innenhaushalt und keine wohlsituierte bürgerliche Mittelstandsfamilie, trotz der erlernten Berufe. Meine Familie verfügte über keine außerordentlichen finanziellen Mittel, da die Einkommensunterschiede zwischen Akademiker*innen und Arbeiter*innen sehr klein waren; ohnehin herrschte ein allgemeiner wirtschaftlicher Mangel, so dass eben alle im Großen und Ganzen wenig hatten.
Ich verwende hier ganz bewusst nur das polnische Wort inteligencja, weil mich der Begriff und die Vorstellung, die mit ihm einhergeht, zum Schmunzeln bringt – wir waren eher Kartoffelstampf mit Buttermilch als inteligencja. Und das meine ich keineswegs despektierlich. Als Fazit lässt sich zusammenfassen: Du kannst deine soziale Klasse verlassen. Deine soziale Klasse verlässt dich allerdings nie.
Hätten wir in einem kapitalistischen System gelebt und nicht in einem sozialistischen, hätten wir einen tatsächlichen Klassenwechsel bereits früher vollzogen. Vielleicht. In der bürgerlichen Mittelklasse sind wir – zumindest materiell – erst in Deutschland angekommen. Die Ausreise aus Polen bildete also eine doppelte Migration – wir verließen sowohl unser Land als auch unsere Klasse. Mein Vater konnte seinem erlernten Beruf in Deutschland nachgehen, was als Migrant nicht selbstverständlich ist. Ob wir in der Mittelklasse auch emotional angekommen sind, bezweifle ich. Meine Mutter, die in Deutschland als Schneiderin arbeitete, sieht sich weiterhin als Teil der Arbeiter*innenklasse.
Katharina/ 23.05.22
Egal, wo ich anknüpfen will, denke ich an: IMPOSTER SYNDROM. Imposter Syndrom, das man in Räumen fühlt, in denen man sich nicht zugehörig fühlt, wie in den schicken Restaurants, von denen du schreibst, oder Imposter Syndrom in Kategorien, von denen man nicht weiß, ob sie einem überhaupt zustehen, wie das Label der Arbeiter*innenklasse, um das du kreist. Der Kampf gegen den Eindruck, sich etwas unrechtmäßig angeeignet zu haben, ist für mich eine andauernde Bewegung. Auch in diesem Moment denke ich darüber nach, ob es mir zusteht, darüber zu schreiben, was es heißt, wenig(er) zu haben, wo ich doch gerade aus dem ruhigen und bequemen Home Office arbeite – imposter. Darüber zu schreiben, obwohl doch auch wir in meiner Kindheit immer ‘alles’ hatten: Kleidung, Strom, Arbeit und Essen, Spaß, Liebe, Gesundheit und Schutz. Selbst die Möglichkeit, das zu vollziehen, was man den Bildungsaufstieg nennt, hatte ich. Und doch ahne ich schon, dass die Abwehr deines Vaters, sich selbst als ‘arm’ einzustufen, etwas mit meinem Gefühl zu tun hat, nicht genug gelitten zu haben, um über Klasse schreiben zu dürfen. Ich glaube es trotz des Wissens davon, wie es ist, als Erste in einer Familie zu studieren, während Kommiliton*innen auf sorgfältig bestückte Bücherregale ihrer Eltern zugriffen, während ich ein Vokabelheft führte, in dem ich intellektuelle Wörter sammelte. Wie es ist, weinend über einem Ordner voller Texte zu sitzen, die ebenso gut in einer Fremdsprache hätten sein können, wie es ist, bis nachts zu arbeiten, während andere empfohlene Lektüre nachholten. Ich frage mich dennoch, ob ich darüber schreiben darf, wo ich doch weiß, dass andere noch stärker von klassistischen Machtstrukturen betroffen sind, andere, die nie auf Bildungsaufstieg hoffen konnten. Wenn sich die bürgerliche Mitte so viele Gedanken darüber machte, ob ihnen das zusteht, was sie haben, wie der Raum, den sie einnehmen – wenn sie ebenso viele Schuldgefühle hätten, wie (post-)migrantische Aufsteiger*innen, wären wir dann schon näher an einem gerechteren ökonomischen System?
In Vorbereitung auf diesen Text habe ich bell hooks Die Bedeutung von Klasse wieder in der Hand gehabt. Sie schreibt gleich in der Einleitung: „Bürger*innen in der Mitte der Gesellschaft, die ein komfortables Leben führen, luxuriös im Vergleich zum Rest der Welt, haben oft die Befürchtung, dass, allein über Klassismus zu sprechen, ihr Untergang sein wird [...] und es ihnen an den Mitteln ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, mangeln werde.” Hier kommt wieder die Frage nach der Definition von Mangel ins Spiel. Die sogenannten ‘Grundbedürfnisse’ sind ein Aspekt der amtlichen Definitionen, die auch für die Berechnung von Ansprüchen auf Sozialleistungen herangezogen werden und die in die Irre führen können, wenn man über Mangel nachdenkt. Denn sie führen dazu, dass man behaupten könnte: solange die ökonomische Versorgung, die zur Lebenserhaltung (was für ein durch und durch schrecklicher Begriff) dient, gedeckt ist, kann es keine Erfahrung einer Armut geben. Soziale Freiräume und Entwicklungsräume, das Geld, das nicht für die öffentlichen Verkehrsmittel und das Abendessen aufgebraucht wird, sondern zur freien Verfügung steht, treten hinter dieser Definition zurück. Wo die Sicherung der ‘Grundbedürfnisse’ die Verhältnisse lediglich beibehält, wäre es doch aber gerade das Geld, das nicht für die Deckung verwendet werden muss, für die laufenden Kosten, das den Schritt hin zu neuen Möglichkeitsräumen eröffnen würde. Im Bewusstsein dessen, ein Aufwachsen mit all den erfüllten Grundbedürfnissen gehabt zu haben, würde ich den Mangel deshalb dadurch definieren, dass nicht nur das Geld, sondern auch die Sorge um das Geld abwesend sein muss, ein Zustand mit finanziellem ‘Spielraum’ und überschüssigen zeitlichen Ressourcen, die ein direktes Resultat ökonomischer Unabhängigkeit sind.
Dagmara/ 25.05.2022
Eine Frage, die du scheinbar beiläufig stellst, treibt mich um, und zwar die Frage, ob wir näher an einem gerechteren ökonomischen System wären, wenn die bürgerliche Mitte, – ich möchte die Reichen und Superreichen hinzufügen – sich darüber Gedanken machen würde, ob ihr die Räume, ihr Wohlstand und Reichtum zustünde und sie diesbezüglich Schuldgefühle hätte. Die Antwort hängt davon ab, zu welchen Schlussfolgerungen sie kommen würde, wenn sie sich überhaupt mit der Thematik auseinandersetzen würde, was ich allerdings bezweifle. Erfahrungsgemäß glauben sowohl Individuen, soziale Klassen als auch ganze Nationen, dass sie Anrecht auf ihren Wohlstand hätten, dass sie sich ihn verdient hätten – sei es durch harte Arbeit, technische Innovationen oder geistige Höchstleistungen. Selbst ein Erbe gilt qua Geburt als verdient. Dass Wohlstand sowohl von Individuen als auch von gesamten Gesellschaften auf Ausbeutung, ungerechter Verteilung, Ungleichheit oder gar auf Raub und Völkermord gründet (Stichwort: Kolonialismus), wird verdrängt oder negiert. Die Frage nach den Schuldgefühlen ist damit bereits beantwortet.
Wenn ein gesellschaftlicher Konsens darüber besteht, dass der eigene Wohlstand durch Fleiß sowie Leistung begründet sei und damit durch die eigene Überlegenheit anderen gegenüber, was bedeutet das im Umkehrschluss für Armut? Über die Ursachen von Armut gibt es gleichermaßen einen gesellschaftlichen Konsens, der darin besteht, den Armen selbst die Schuld an ihrer Armut zu geben. Arme, erwerbslose, wohnungslose oder in prekären Verhältnissen beschäftigte Menschen gelten als ‘faul’, ‘dumm’ und ‘arbeitsscheu’. Allen voran wohnungslose Menschen, Langzeiterwerbslose und Menschen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, gelten weniger als hilfsbedürftig und viel mehr als verachtenswert. Ergo: Wir werden solange kein gerechtes ökonomisches System realisieren können, solange Wohlstand als persönlicher Verdienst und Armut als persönliches Verschulden betrachtet wird.
Ich habe ebenfalls in bell hooks Die Bedeutung von Klasse reingeschaut und diese, wie ich finde, sehr passende Textstelle gefunden: „Bevor ich unter Angehörigen der Oberschicht und Reichen gelebt hatte, hatte ich noch nie jemanden verächtlich über Arme oder Arbeiter*innen sprechen hören. [...] Unter den Leuten der privilegierten Klassen entwickelte ich ein Bewusstsein dafür, zu erkennen, wie weit sie bereit zu gehen waren, um ihre Interessen zu schützen, oder die Werte ihrer Klasse zu missachten.”
Deine Definition von „Abwesenheit von Armut” möchte ich noch ergänzen bzw. verschärfen: Es ist die Abwesenheit von Angst. Die Abwesenheit von existenzbedrohlichen Zuständen und von dem Gefühl des Ausgesetzt Seins der staatlichen und gesellschaftlichen Willkür. Angst bedeutet Unfreiheit, Armut bedeutet Unfreiheit. Doch selbst wenn man es schafft, Armut zu überwinden, die Angst bleibt.
Leben im Dazwischen
Katharina/ 27.05.2022
Was du schreibst, beschäftigt mich auch stark, nämlich, dass der sogenannte ‘Klassenaufstieg’ kein wirkliches Verlassen der ursprünglichen Klasse darstellt – die Veränderung der ökonomischen oder bildungstechnischen Umstände einen eben nicht von der Angst, den eingeübten Mustern und der Erinnerung an Armut oder Mangel befreien. Der Zustand, in dem man mit einer Art Armuts- oder Klassengedächtnis durchs Leben geht, durch das man sich stetig der eigenen Fallhöhe bewusst ist. So wie man post-migrantisch ist, ist man auch post-Arbeiter*innenkind, denke ich. In der Zeit Campus war vor ein paar Tagen auch ein Text, der dieses Paradigma, von dem du schreibst, im Titel plakativ so beschreibt: „Reichtum ist nicht das Gegenteil von Armut“. Das Gegenteil von Armut ist ein Leben, in dem man sich sicher ist, weich zu fallen.
Aber was heißt es, wenn wir unsere Klasse nie wirklich verlassen? Unser Klassengedächtnis überall hin mitnehmen?
Früher hat meine kroatische Großmutter immer zu mir gesagt: Du bist „halb/halb”. Das kann man natürlich als Bereicherung empfinden – so wie man gerne zwei Sorten Kuchen probiert und deshalb „halb/halb” macht. Der Einblick in zwei verschiedene Nationen, zwei Heimaten, zwei Bezugspunkte. Ebenso könnte man im Klassen-Kontext meinen, das aufgestiegene Arbeiter*innenkind sei ein Chamäleon der Klassen-Codes und könne sich quasi in jedem Raum frei und problemlos bewegen. Dabei ist es oft auch nach ‘geglücktem’ Aufstieg so, dass man eben überall nicht ganz drin steckt. Dass man zwei Hälften eines metaphorischen Klassen-Kuchens hat, die man nicht genießen kann. An die Uni zu kommen und festzustellen, dass man eine ganze Menge Codes aufholen muss, von der Art, wie man Professor*innen auf Tagungen anspricht, mit leeren Floskeln, die eigentlich nur dazu dienen, als Gesicht in Erinnerung zu bleiben, über das Vokabular im Seminarraum, bis zur Mode – als Frau im geisteswissenschaftlichen Bereich idealerweise irgendwo zwischen Diane Keaton in Manhattan und Audrey Hepburn in Funny Face. Es gibt da dieses fantastische Kapitel „Bericht von einer Akademie” in Daniela Dröschers Zeige deine Klasse, bei dem ich aus dem Nicken nicht mehr herausgekommen bin, das ein Fenster aufgemacht hat zu meinen eigenen Erinnerungen und dazu, wie fehl am Platz ich mich in der Uni (eigentlich bis zur Abgabe meiner Masterarbeit) so oft fühlte. Wie hektisch ich darin war, unbedingt alles mitnehmen zu wollen, jedes interessante Seminar, jeden spannenden Text, und doch immer mit dem Gefühl, als wüssten alle außer mir dieses eine Geheimnis, das mir niemand erzählen mag. Dröscher schreibt: „Mein milieuspezifischer Habitus brach sich in Form von Überforderung, Perfektion und Ungeduld ungehemmt Bahn. Ein Aufsteigerkind ist anders ungeduldig als der Adelsspross, es ist anders perfektionistisch als das Bürgerkind [...].” Ich fühle das sehr. Eine Art Getriebenheit, in der ich lange vor allem zwei Dinge wollte: aufholen und nicht auffallen. Dröscher schreibt, sie habe sich immer wie das weiße Kaninchen gefühlt: „Immer war da das Gefühl des Zu-SPÄT. Schon immer war es zu spät gewesen”. Das hat sich auch in der Sprache niedergeschlagen, die ich versucht habe, so gut es ging zu adaptieren, und in den Bemühungen, die Wörter aus meinem Sprachgebrauch verschwinden zu lassen, mit denen ich mich als Aufsteigerin outen könnte, die andere zu vulgär finden könnten usw. (‘oida’ ist ein solches Wort). Aber jeder angestrengte Schritt der Anpassung in eine andere Klasse hinein bedeutet manchmal auch – oder so wird einem das zumindest manchmal zurückgespiegelt – , dass man sich aus der bekannten Sphäre heraus bewegt. Nicht nur, dass das Imposter Syndrom hittet, wenn man sich fragt, ob man jemals bei diesen Kids aus akademisch vorgebildeten Familien anschließen können wird, es ist auch so, dass man bei dem Versuch, sich anzuschließen, von manchen Freund*innen oder Familienmitgliedern Dinge hört wie: „Ach, die ist jetzt Akademikerin, da verstehen wir sowieso nix mehr.“ Bildungsaufstieg bedeutet manchmal auch unfreiwilliger Rausschmiss und ist deshalb auch nicht die richtige Metapher, denke ich. Ich finde, die lineare Bewegung des Aufstiegs wird den Gefühlen, die mit diesen Zwischenerfahrungen einhergehen, nicht gerecht. Der Klassenwechsel ist eher wie ein ewiges Seilspringen, mal hüpft man links, mal rechts, man versucht immer höher zu hüpfen und muss stetig aufpassen, dass man nicht auf einer der beiden Seiten stürzt.
Dagmara/ 29.05.2022
Ich möchte dir „Ja, ja, ja!“ zurufen. Die eigene Existenz ist ein permanentes Dazwischen – zwischen den Kulturen, den Sprachen, den Klassen. Ich bin Akteurin und Zuschauerin, Einheimische und Fremde zugleich. Oft sind es Nuancen, die über Zugehörigkeit oder Ausschluss entscheiden. Manchmal ist dieses Dazwischen eine Bereicherung, manchmal eine Last; ein Balanceakt ist es allemal. Man hüpft und hüpft, und hofft sich nicht zu verheddern, doch über das Gelingen entscheiden nicht nur Leistung und Können, sondern letztendlich ebenso das Wohlwollen der anderen Mitspieler*innen.
Du sprichst beim Bildungsaufstieg von einem „Rausschmiss“ aus der angestammten Klasse. Ich sehe es eher als ein Wegziehen. Ein Auszug aus der sozialen und emotionalen Heimat. Man ist nicht Vertriebene, sondern Auswanderin, manchmal auch Geflüchtete. Das Verlassen ist aber unweigerlich mit Verlust verbunden. Es ist ein paradoxes Gefühl – man lässt einen entscheidenden Teil seiner Identität zurück, trägt diesen jedoch weiterhin in sich und wird ihn letztendlich Zeit seines Lebens nicht los. Ja, man nimmt sein Klassengedächtnis überall mithin.
Zumeist wird das Dazwischen als etwas Defizitäres angesehen – mir scheint, als würdest du das auch tun –, da es nichts Ganzes und Eigenständiges ist. Ich möchte dem zustimmen und zugleich widersprechen. Du erwähnst die Codes, die du während deines Studiums erlernen musstest. Diese musste ich auch erlernen, wie für viele andere Bereiche und Räume auch. Das Erlernen von bürgerlichen und akademischen Codes im späten Alter birgt ähnliche Schwierigkeiten wie das Erlernen einer Fremdsprache als Erwachsene*r. Ein Kind erlernt sowohl Sprachen als auch klassenspezifische Codes durch „Inhalation“ – es nimmt sie mühelos auf. Das Einüben ist ein natürlicher Prozess und kommt ohne Pauken und Auswendiglernen aus – Sprache, Codes, Attitüde, Habitus werden zu einer zweiten Natur. Dieses späte Erlernen ist schwere Arbeit und die eingeübten Sprachen oder Klassen-Codes bleiben oft, ganz gleich, wie gut man sie verinnerlicht, fremdartig und unnatürlich. Ein Fehler, ein Akzent und eine Wissenslücke können einen Menschen ganz schnell als Hinzugezogene, als nicht wirklich Dazugehörige ausweisen. Aus dieser Perspektive ist das Dazwischen defizitär. Aber: Zwei Klassen, zwei Sprachen, zwei Heimaten, zwei Kulturen sind auch ein „Viel“ und ein „halb” und „halb” ergibt immer ein Ganzes. Das Dazwischen ist eine eigenständige Existenz, die von der Dominanzgesellschaft allerdings mit Argwohn und Misstrauen beäugt wird.
Die Worte, die Aladin El-Mafaalani in Mythos Bildung dazu findet, sind sehr passend: „Der Habitus entsteht vor dem Hintergrund sozial ungleicher Erfahrungen in Kindheit und Jugend und prägt die Persönlichkeit eines Menschen und damit sein gesamtes Leben. Der in den frühen Lebensphasen entwickelte Habitus ist – so die Theorie – dauerhaft und kaum noch wandelbar, aber es handelt sich nicht um eingleisige ‘Schienen’, sondern vielmehr um ‘Leitplanken’, die einen Raum für Kreativität und Innovation offenhalten, aber auch Grenzen manifestieren, die nicht mehr ohne Weiteres verschiebbar sind.” Ich merke bei mir selbst, wie sich mein natürlicher Arbeiter*innenklasse-Habitus und der erlernte bürgerlich-akademische Habitus wellenartig abwechseln – mal wird der eine hochgespült, mal der andere und ich würde gerne berichten, dass ich sie stets im Griff habe, aber dem ist nicht so. In besonders emotionalen Situationen gewinnt immer der natürliche Habitus die Oberhand - ich bin ihm (fast) machtlos ausgeliefert. Ich empfand diesen Umstand früher oft als belastend, denn ich fühlte mich in meinem natürlichen Habitus unsouverän und meiner Umgebung schutzlos ausgeliefert. Lebensjahre und Erfahrungen lehren mich jedoch gelassener mit diesen zwei – manchmal unberechenbaren – Ichs umzugehen.
Nur noch eine Anmerkung zum Titel in der Zeit Campus „Reichtum ist nicht das Gegenteil von Armut”. Das stimmt – das Gegenteil von Armut ist Gerechtigkeit. Dieser Satz stammt von dem Schwarzen US-amerikanischen Rechtsanwalt Bryan Stevenson. Er schreibt in seinem Buch Ohne Gnade: „Meine Arbeit mit den Armen und Inhaftierten hat mich gelehrt, dass das Gegenteil von Armut nicht Reichtum ist: Das Gegenteil von Armut ist Gerechtigkeit.“
Doch noch etwas: deine Wortkreation Armutsgedächtnis gefällt mir sehr gut. Können wir näher darauf eingehen?
INTERMISSION/ Cannes
Dagmara
Ich habe heute einen Beitrag über die Internationalen Filmfestspiele in Cannes gesehen. Im Mittelpunkt des Beitrags standen nicht die Filme, sondern die Schönen & Reichen, die sich an der Côte d’Azur tummeln. Als Teenager war ich von der Welt der Reichen (die Schönen klammere ich hier mal aus) fasziniert. Eigentlich waren es weniger die Reichen an sich, die ich faszinierend fand, als vielmehr der Gedanken, so reich zu sein, dass man unantastbar und vollkommen souverän ist; denn genau das war damals mein Eindruck von reichen Menschen – sie standen über den Dingen, sie waren über allem erhaben. Ich erkannte, dass für sie andere Regeln galten als für uns Normalsterbliche. Heute sehe ich das – abgesehen von der Sache mit den Regeln – anders. Das, was ich für Erhabenheit und Souveränität hielt, ist tatsächlich Gleichgültigkeit und Übermut. Aus Faszination ist inzwischen eine teils amüsierte, teils gereizte Verachtung erwachsen.
Zugangscodes zur gesellschaftlicher Teilhabe
Katharina/ 31.05.22
Das Dazwischen als eigene Existenz, wie du es beschreibst, gefällt mir und es stimmt sicher – hier jetzt mit dir, im Schreiben, fühle ich sie als solche, ich hab einen Deckel aufgemacht und aus dem darunterliegenden Fass sprudeln Erinnerungen an einige Gefühle heraus, aber Legitimation bekommen sie für mich erst in deiner Spiegelung und im Gegenüber. Dieses Gegenüber hat mir in meiner Jugend lange gefehlt, weshalb ich mich oft in Situationen wiedergefunden habe, in denen ich – wie du so treffend schreibst – nur Zuschauerin war. Ich habe meinen Kommiliton*innen dabei zugesehen, wie sie scheinbar mühelos mit den Redner*innen auf Konferenzen ins Gespräch kamen, habe rüber gespickt, als sie sich für Stipendien beworben haben, habe abgeschrieben, wie sie ihr Leben geplant haben (Praktika, Volontariat, Auslandsaufenthalt etc.). Irgendwann habe ich so lange abgeschrieben, dass es fast so aussah, als wäre mir das alles selbst eingefallen. Und in diesem irgendwann wusste ich nicht mehr, was eigentlich auf meinem eigenen Mist gewachsen ist. Ein aus der Luft gegriffenes Beispiel, weil ich sie gerade im Blick habe, sind meine Fake Thonet Stühle – kennst du die? Mit diesen Rattan Einsätzen? Sie gefallen mir ehrlich und ich freue mich jedesmal, wenn ich den dunkelblauen Tischläufer heraushole, bevor Freund*innen kommen, weil er so gut zu den beigen Tönen des Rattans passt. Aber würden mir die Stühle auch gefallen, wenn ich sie nicht vorher in den Wohnungen von Bekannten und lieben Freund*innen gesehen hätte, die diese Stühle (die echten natürlich) geerbt hatten oder schlicht mal geschenkt bekamen. Oder bei diesem einen Ex-Partner einer guten Freundin, der scheinbar immer Zeit hatte, tagsüber zu malen, obwohl er dabei war, an der juristischen Fakultät zu promovieren. Diese Freund*innen und Bekannte wohnen in Wohnungen, in denen jeder gestalterische Griff leicht wirkt; to entertain gehört zum guten Ton, man weiß, welchen Schaumwein man kauft und auch, welche Kerzenhalter gerade in sind. Und irgendwie stehen immer leere Vasen rum?
Was für Mode und Mobiliar gilt, wiegt noch schwerer, wenn es um größere Entscheidungen geht, als die, welche Stühle man kauft. Wie die Entscheidung, alles daran zu setzen, ein paar Monate auf einer sogenannten Elite-Universität zu studieren, als sich die Gelegenheit aufgetan hat. Ich habe mich oft gefragt, wie viel ich in meinem Leben entschieden habe, um mich als Akteurin fühlen zu dürfen statt als Zuschauerin, und auch, welche Gelegenheit ich mir erlauben durfte vorüber streichen zu lassen, wo doch andere so hart gearbeitet hatten, damit sie sich mir auftun konnten. Das klingt nach Gastarbeiter*innen-Kitsch – aber so habe ich es immer wahrgenommen. Ich bin dann mit einem unendlich schlechten Gefühl in den Flieger in die USA gestiegen, zum einen wegen meiner immensen Flugangst, zum anderen weil ich ahnte, dass ich diese Entscheidung nicht nur getroffen hatte, weil ich es intrinsisch und nur für mich tun wollte.
Vielleicht kommt hier wieder das ins Spiel, was ich mit dem Armuts- oder Klassengedächtnis assoziiert habe. Die Entscheidungsprozesse bleiben mit ihm verwoben, selbst, wenn ökonomische Knappheit keine Rolle mehr spielt. Du hast mir in unserem ersten Telefonat einmal erzählt, dass du die Löcher in den Kleidern deiner Kinder immer wieder stopfst, aus Ehrfurcht vor dem Material und aus Angst, zu verschwenderisch sein zu können. So empfinde ich es mit Gelegenheiten – wäre es verschwenderisch gewesen, zu sagen: „Ach, naja, mache ich eben ein Auslandssemester, wenn es mir besser passt?” Vermutlich. Aber weiter noch meine ich mit dem Klassengedächtnis auch, dass ich Entscheidungen aufgrund von Erfahrungen getroffen habe, die ich teilweise gar nicht selbst machte, aber mit deren Erzählungen ich aufgewachsen bin. Meine Großmutter kam das erste Mal als Gastarbeiterin aus Ex-Jugoslawien nach Deutschland, und als meine Mutter sich mit Anfang 20 für mich entschied, habe ich sehr viel Zeit mit meiner Baka verbracht, während meine Eltern auf Jobsuche waren oder Schichtdienst machten. Die Geschichten meiner Großmutter sind deshalb die, die sich mir ins Gedächtnis gewebt haben – Geschichten von gestrecktem Getreidekaffee, fehlenden Medikamenten und von der Scham, mehr zu wollen. Aber auch schmecken und sehen konnte ich ihre Vergangenheit, wenn ich versucht habe, den Brei aus Maismehl zu essen, den sie so gern mochte, oder ihr dabei zugesehen habe, wie sie sorgfältig neue Knöpfe an alte Kissenbezüge nähte. Und auch die Erfahrungen, die meine Mutter machte, haben sich als panische Angst vor Krediten und dem Schuldig-Sein in mein Gedächtnis geknüpft, die mich einigen Situationen vorsichtiger begegnen lässt, als ich es heute müsste.
Dagmara/ 04. & 05.06.2022
Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, denn ich kenne alles, was du beschreibst – außer die Thonet Stühle. Ich musste sie googlen. Ich habe sie schon mal hier und da gesehen, aber der Name war mir nicht geläufig, wie vieles, was mit Design, Kunst oder Mode zu tun hat. Obwohl ich mich durchaus dafür interessiere und vermutlich mehr darüber weiß als der Durchschnitt, kommen all diese Dinge aus einer Welt, zu der ich nie richtig Zugang gefunden habe. Es ist eine Welt – ja, eine Kultur –, die nicht für die Arbeiter*innenklasse gemacht wird. Bei den Thonet Stühlen musste ich an den Beitrag denken, den du mir neulich zugeschickt hast. Er bezieht sich auf den Artikel von Ilija Matusko Wenn die Klasse entscheidet – Nach den Regeln der Kunst, in dem sie beschreibt, wie stark die Klassenzugehörigkeit und die fehlenden Kenntnisse klassen- und kulturspezifischer Codes über den Erfolg im Kunstbetrieb (wo nicht?) entscheiden. Sie schreibt: „Wenn ich heute vor einem Bild stehe, das viel wert ist, passiert meistens nichts. Ich könnte genauso gut eine Wand anstarren. Das wäre auf eine Art sogar angenehmer, weil Wände keine Scham erzeugen. Mir fehlt das kulturelle Wissen, die Bildung, der Zugang zur sogenannten Hochkultur.“ Genauso geht es mir auch. Nicht nur im Bereich der Kunst, sondern bei allem Schöngeistigen und Kreativen. Es ist, wie das Lesen eines Textes, der in einer Sprache verfasst ist, die ich nicht ausreichend beherrsche. Ich verstehe mehr oder weniger den Inhalt, jedoch schaffe ich es nicht, die Quintessenz zu erfassen. Man kann sich das Verständnis für Kunst selbstverständlich durch formelle Bildung erarbeiten – genauso wie man klassenspezifische Codes erlernen kann –, kulturelles Kapital, von Haus aus mitgegeben, lässt sich damit allerdings nicht ersetzen.
Der Begriff Kultur umfasst allerdings für mich nicht nur die geistigen und künstlerischen Leistungen einer sozialen und kulturellen Gemeinschaft, sondern auch ‘profane’ Dinge, wie die Einzigartigkeit der Zubereitung von Speisen, die Art des Wohnens und des Feste Feierns sowie die Form des allgemeinen Umgangs miteinander.
Aber auch die Arbeiter*innenklasse hat kulturelles Kapital, es sieht nur anders aus als das der bürgerlichen Mittel- und Oberklasse. Ein sozialistisch geprägtes kulturelles Kapital unterscheidet sich nochmal von einem westlich und kapitalistisch beeinflussten kulturellen Kapital. Im sozialistischen Polen hatten alle theoretisch Zugang zu Kunst, in Form von Büchern, Theater, Museen und Kino. Abgesehen von Büchern (wahrscheinlich nicht die ‘richtigen’) wurden diese Angebote von meiner Familie jedoch kaum genutzt. Ähnlich wie im kapitalistischen Westen bestimmte auch im real existierenden Sozialismus eine Elite – in diesem Fall die politische –, was als Kunst galt. Während es im Westen die „Freiheit der Kunst” gibt, durften wir nur ideologisch konforme Kunst konsumieren. Apropos „Freiheit der Kunst“ – sie ist nicht so frei, wie es erscheinen mag, denn auch diese hängt von diversen Ressourcen ab. Sowohl finanzielle, kulturelle als auch soziale Ressourcen bestimmen, wer Kunst machen darf und was überhaupt als Kunst gelten darf. Die vom Staat geförderte sozialistische Kunst wurde von meiner Familie teils aus politischer Überzeugung abgelehnt, teils aus fehlendem Bewusstsein und Bedürfnis, Kunst konsumieren zu wollen. Wenn man seit Generationen zeitlebens hauptsächlich mit Maloche beschäftigt war, fehlen Bildung, Zeit, Muse und Kraft, sich mit ‘nutzloser’ Kunst zu beschäftigen. Kunst muss man sich leisten können – auf materieller, körperlicher, geistiger und zeitlicher Ebene. Das gilt für beide politischen Systeme. Selbstverständlich haben auch Arbeiter*innen eigenständige kulturelle Fähigkeiten, Werte und Traditionen, also ein kulturelles Kapital, dieses gilt aber meist ‘nur’ als volkstümlich, folkloristisch oder profan und daher der ‘wahren’ Hochkultur nicht ebenbürtig.
Der schöngeistige und der ‘profane’ Teil meines kulturellen Kapitals wurden, als ich nach Deutschland kam, allerdings bedeutungslos. Sie wurden bedeutungslos, weil sie für die deutsche, bürgerliche und weiße Dominanzgesellschaft bedeutungslos sind. Osteuropäische und südosteuropäische Kulturen gelten, obwohl sie weitestgehend in Deutschland unbekannt sind, nicht nur als uninteressant, sie werden als minderwertig angesehen. Ein paar berühmte Namen – es sind in erster Linie russische –, bilden die Ausnahme. Die grundsätzlich skeptische bis ablehnende Haltung gegenüber slawischen Kulturen ist auf weitverbreiteten Antislawismus bzw. anti-osteuropäischen Rassismus zurückzuführen, der seit Jahrhunderten ein fester Bestandteil deutscher und westeuropäischer Kultur ist. Das vom Westen konstruierte „Osteuropa“ galt als primitives und kulturfreies Hinterland. Für den sogenannten „Balkan“ galt das gleichermaßen. Der Historiker Hans-Christian Petersen schreibt dazu in seinen Aufsatz Rassismus gegen Weiße? Für eine Osterweiterung der deutschen Rassismusdebatte: „Das Othering Osteuropas begann schon mit der Aufklärung, die die Region überhaupt erst als solche erfand. „Osteuropa“ galt im westlichen Denken als ‚Europe but not Europe’, wie Larry Wolff es formuliert hat. Eine Art Zwischenwelt zwischen Okzident und Orient, vermeintlich gekennzeichnet durch Rückständigkeit und Barbarei. Ähnliche Befunde hat Maria Todorova zu Südosteuropa bzw. dem „Balkan” vorgelegt. Deutschland stellt hierbei aufgrund seiner langen Verflechtungs- und Expansionsgeschichte mit und im östlichen Europa einen besonders relevanten Fall dar. Ein hierarchisierender Blick und kulturalistisches Othering bildeten eine Konstante im deutschen Diskurs im ‚langen‘ 19. Jahrhundert.“ Die Deutschen sahen sich selbst als ‘Kulturträger’, „die das Licht der Kultur in den ‘dunklen Osten’ bringen würden“, ergänzt Petersen in einem Beitrag in der taz. Die daraus erwachsenen Stereotypen und Vorurteile fanden in der Eroberungs- und Vernichtungsideologie der Nationalsozialisten ihren Höhepunkt und sind nach dem Ende des NS-Regimes nach wie vor im Bewusstsein Deutschlands und Westeuropas lebendig.
Warum der plötzliche Exkurs zum Antislawismus? Klassismus und Rassismus, zu dem Antislawismus zählt, sind ineinandergreifende Unterdrückungssysteme. Klassistische Abwertung geht oft mit rassistischer Abwertung einher und umgekehrt. Sowohl das kulturelle Kapital der Arbeiter*innenklasse als auch das kulturelle Kapital von Slaw*innen ist in einer klassistischen und rassistischen Gesellschaft unbedeutend. Wir empfinden nicht Scham oder haben Minderwertigkeitskomplexe aufgrund unserer sozialen, kulturellen oder geografischen Herkunft, sondern vielmehr, weil diese soziale, kulturelle und geografische Herkunft von der deutschen Dominanzgesellschaft seit jeher als minderwertig konstruiert wurde und weiterhin wird. Wir haben alle Diskriminierungsformen, die sich gegen uns richten, selbst verinnerlicht und wenden sie gegen uns selbst an.
Eigentlich wollte ich etwas zum Armutsgedächtnis schreiben – beim nächsten Mal. Nur so viel: Mir ist vor einiger Zeit bewusst geworden, dass ich das Armutsgedächtnis lange unberechtigterweise für Geiz gehalten habe.
Katharina/ 07.06.2022 & 08.06.2022
Das erste woran ich denke, wenn es darum geht, die „Quintessenz” von Kunst erfassen zu können, ist ein Satz, den ich zuerst von einem Mitstudierenden gehört habe – und den ich mir selbst eine Weile immer wieder vorgesagt habe, in der Hoffnung, er würde mich aus der Unsicherheit im Angesicht mit Kunst retten: „Kunst soll man nicht verstehen, man soll sie fühlen.” Ich habe ihn mir immer wieder vorgesagt, zuerst auf Studienausflügen in Pinakotheken, später auf Städtereisen mit Freund*innen, bei denen der Besuch von lokalen Ausstellungen irgendwann zum Standardprogramm gehörte. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis ich ausdrücken konnte, was mein Problem mit diesem Satz ist. Denn so sehr ich mir wünschen würde oder soweit ich vielleicht sogar denke, dass er in Teilen wahr ist, ist er den Klassenregeln gegenüber ignorant, negiert er die Unzugänglichkeit von Codes. Und es überrascht mich im Nachhinein nicht, dass er als Ratschlag von jemandem kam, der in einer 6-Zimmer-Villa auf dem Land aufgewachsen ist. Natürlich wäre es mehr als erstrebenswert, sich Kunst genauso nähern zu können, aber der Kunstbetrieb hat lange, und tut es teils noch immer, sein Übriges getan, um den Zugang zu ihr möglichst zu erschweren. Ein Beispiel sind die Beschreibungstexte, die meist neben einem Gemälde oder einer Skultpur hängen, und die so oft nichts mit einer Beschreibung oder historischen Rahmung zu tun haben, sondern vielmehr mit einer überakademisierten Analyse des Werkes. So gerne man also ein Kunstwerk „einfach fühlen” möchte, erwartet wird schon immer etwas anderes – so war es auch bei den ersten Berührungspunkten mit Kunst. Schulausflüge, bei denen man gewisse Motive nach Epochen sortieren oder sich fragen soll, welche Farbe den Tod symbolisiert. Die Annahme, dass es überhaupt eine Quintessenz zu erfassen gebe, ist ein Witz – aber der Witz geht auf die Kosten derer, die sich ihr ganzes Leben lang bemühen, Kunst in den gleichen Codes zu beschreiben wie Menschen, die mit ihnen aufgewachsen sind. „Transzendenz”, „Oszillation”, „Durchdringung” sind Code-Wörter zu dieser Welt, die kein Stück näher dran ist an der Quintessenz – aber sehr viel geübter darin ist, so zu tun als ob.
Dass dieses kulturelle Kapital, das den einen vermeintlich fehlt und anderen in die Wiege gelegt wird, auch etwas damit zu tun hat, welche Kultur hier eigentlich gemeint ist, stimmt natürlich. Sowohl was deren Herkunft angeht als auch die Labelung dessen, was die sogenannte “Hochkultur” anbelangt. Ich bezweifle, dass jemand in einem Seminar interpretieren würde, worum sich die Erzählungen der Ganga drehen – dem traditionellen Chorgesang, der bei uns im kroatischen Hinterland an feuchtfröhlichen Abenden aus den alten Steinhäusern in die sternenklare Nacht hallt. Ich bezweifle auch, dass sich die singenden Bauern und Bäuerinnen als Verständige der Kunst bezeichnen würden. Und doch gibt es ein ganz fest in den Alltag eingeschriebenes kulturelles Dasein, ein rituelles Beisammensein, ein gemeinsames Erzählen, Bühnen und Zuschauerräume – selbst, wenn die Bühne der Kneipentisch ist und der Zuschauerraum der Fußboden. Ich erzähle das hier nicht, um über die grundlegende Problematik von Hochkultur vs. ‘niedere Kunst’ zu diskutieren, eher um, anschließend an deine Ausführungen zum Antislawismus, zu betonen, dass Klassencodes, genauso wie Rassismen, keiner Logik folgen, sondern, wie alle Regeln, von Machtinhaber*innen willkürlich gesetzt werden, um manche Wenige ein- und den Rest auszuschließen. So kann ein bildungsbürgerlicher Münchner ein russisches Ballett an der Staatsoper genießen und in den höchsten Tönen loben, um anschließend beim Digestif einen Witz über die immer nur saufenden ‘Ostblockler’ zu machen. Oder in den Urlaub fahren und die fantastische kroatische Küche loben, um sich anschließend darüber zu wundern, wieso denn hier nur immer alle so laut seien. Oder so wie dieser eine Ex-Kommilitone, der immer große Reden auf seine postkoloniale Ausbildung schwingt, aber am laufenden Band ‘Jugo-Betrugo’ Witze reißt. Wie dieser Typ, der meinem Lachen mal eine „slawische Rauheit” attestierte – und wir wissen, von dieser Exotisierung ist es nicht weit zum Rassismus; Willkür der Zuschreibungen. Die Antislawismus-Debatte bekommt erst seit Kurzem und wegen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine flächendeckende Aufmerksamkeit in deutschsprachigen Gerechtigkeitsdiskursen. Vorher bewegten sich die Diskriminierungsformen gegen Slaw*innen quasi im toten Winkel der inländischen Rassismus-Debatten.
Im richtigen bildungsbürgerlichen Jargon für besser gestellte Kunstinteressierte aus mittelständigen Familien – mit den passenden Kunstanalyse-Wörtern – müsste ein Abend mit Gangagesang den folgenden Beschreibungstext bekommen: „Es entspinnt sich, im nebulösen Taumel des Substanzexperiments, eine Performance der Vielstimmigkeit. Das Echo einer kulturellen Vergangenheit oszilliert durch den Raum, der Chor wirft in seiner Gleichzeitigkeit Bilder eines gemeinsamen Erinnerungskapitals auf, während die Pausen und Leerstellen weiße Flecken auf der Landkarte nationaler Zugehörigkeit hinterlassen.”
Arbeiter*innenkind sein oder nicht sein
Dagmara/ 14.06.2022
Vor einigen Tagen flammte in den Sozialen Medien eine kurze Debatte darüber auf, wer sich Arbeiter*innenkind nennen dürfe und wer nicht. Die Frage ließe sich schnell und einfach beantworten, wenn man konstatiert: Wenn die eigenen Eltern oder ein Elternteil Arbeiter*innen sind – also einer weitestgehend körperlichen und nicht einer geistigen Tätigkeit nachgehen –, dann darf man sich Arbeiter*innenkind nennen. Doch wie so oft, ist auch diese Frage nicht so einfach zu beantworten, wie es anfangs erscheinen mag, denn wer genau darf sich nun Arbeiter*in nennen? Ist eine Person, die unbezahlte Care- und Reproduktionsarbeit leistet, Arbeiter*in? Ist eine erwerbslose Person, die ein Ehrenamt ausübt, auch Arbeiter*in? Ist man nur Arbeiter*in, wenn man eine bezahlte und Mehrwert abschöpfende Arbeit leistet? Ist eine Person mit einem akademischen Titel, die aber einer sog. unqualifizierten Arbeit nachgeht, ebenfall Arbeiter*in? Sind Menschen, die nicht in formellen Strukturen der Wirtschaft (Schattenwirtschaft) beschäftigt sind, auch Arbeiter*innen? Eventuell haben wir eine noch recht reduktionistische Vorstellung von der Arbeiter*innenklasse.
Legen wir die traditionelle Definition der Arbeiter*innenklasse (= körperliche Lohnarbeit) zugrunde, darf ich mich formell nicht Arbeiter*innenkind nennen, emotional muss ich das allerding – ich bin in einer Familien von Arbeiter*innen aufgewachsen, ich habe ihr Leben, ihre Sprache und ihren Habitus verinnerlicht. Der bürgerliche und akademische Habitus war ihnen, auch wenn einige Wenige höhere Abschlüsse hatten, fremd. Ich bin in der Arbeiter*innenklasse verwurzelt, ihr inzwischen entwachsen, heute in der bürgerlichen Mittelklasse verortet, ihr emotional aber nur halbherzig zugehörig. Ich lebe im Dazwischen. Es fällt mir schwer, meine Existenz zu beschreiben, denn wie jede andere Existenz auch besteht sie nicht nur aus äußeren Umständen und Begebenheiten, sondern ist zum größten Teil ein Mosaik aus Gefühlen und Gedanken-Clustern, die ich so wie hier noch nie gezwungen war zu verbalisieren. Als Dazwischen-Mensch bin ich ein Chamäleon, das sich seiner jeweiligen Umgebung anpasst. Je nach Klasse, Kultur oder Sprache bin ich eine Andere und doch immer ich selbst. Grundsätzlich ist das nicht ungewöhnlich, denn wir erfüllen Tag für Tag unterschiedliche, manchmal sogar widersprüchliche soziale Rollen. Obwohl der permanente Rollenwechsel zu unserer sozialen Natur gehört, sind die äußeren und inneren Wechsel zwischen Klasse, Kultur und Sprache für die Mehrheitsgesellschaft oft nicht vollständig nachvollziehbar. In diesem Zusammenhang fällt mir die immer wieder mal aufflammende Debatte um die doppelte Staatsangehörigkeit ein, die übrigens sowohl klassistisch als auch rassistisch ist. Verkürzt zusammengefasst geht es immer wieder darum, dass zumeist von konservativen bis reaktionären Kreisen verlangt wird, sich zwischen der deutschen und einer meist mit geringeren Privilegien verbundenen Staatsangehörigkeit zu entscheiden. Sie können oder wollen nicht verstehen, dass man sowohl als auch sein kann. Kleine Einschränkung: Dass ein Mensch sowohl Amerikanerin als auch Deutsche sein kann, können sie sich sehr wohl vorstellen, jedoch sowohl Polin, Türkin oder Kroatin als auch Deutsche? Gott behüte, das scheint eine schier unmenschlich emotionale und staatsrechtliche Zerreißprobe zu sein. Es ist aber möglich, denn Millionen Menschen leben als sowohl als auch-Menschen, als Dazwischen-Menschen. Das gilt für Staatsangehörigkeiten, Sprachen, Kulturen und eben auch Klassen.
Du hast in einer Sprachnachricht bezüglich der Arbeiter*innenkind-Debatte zurecht bemängelt, dass es für das Dazwischen-Sein keine Begriffe gebe. Arbeiter*innenkind, Bildungsbürger*in oder Akademiker*in sind griffige Beschreibungen, die es für Menschen im Dazwischen nicht gibt. Freilich existieren Bezeichnungen wie ‘Aufsteiger*in’, ‘Pervenü’ oder auch abwertend ‘Emporkömmling’, jedoch umschreiben diese Begriffe – zumal sie alle problematisch sind – unsere Existenz nicht annähernd.
Du hattest weiter oben eine Begriffskreation ins Spiel gebracht und zwar Post-Arbeiter*innenkind. Beim ersten und zweiten Lesen gefiel mir die Bezeichnung, inzwischen stört mich etwas daran, ich kann nur noch nicht sagen, was genau es ist.
NACHTRAG Katharina/ 21.08.22
Ich habe gestern Sharon Dodua Otoos Essay Klassensprecher gelesen und musste sofort an deine Ausführungen zur Debatte um den Begriff Arbeiter*innenkind denken. Sie schreibt darin unter anderem davon, dass sie lange annahm, der Begriff Klassismus treffe auf ihre eigenen Erfahrungen gar nicht zu. „Anfänglich schien mir der Begriff nur für ganz bestimmte Bevölkerungsgruppen zu gelten. Bergmänner, Fabrikarbeiter, Handwerker – alle männlich, alle weiß, alle Gewerkschaftsmitglieder.” Sie schreibt auch davon, dass diese Unverbundenheit, die sie gegenüber den Arbeitenden, die prostentierend in den britischen Abendnachrichten zu sehen waren, auch durch die Thatcher-Politik verstärkt wurde, die das Narrativ des ‘Verdienen-Müssens’ immer wieder affirmierte und an das ihre ghanaischen Eltern glaubten. Es hat mich beim Lesen sehr beschäftigt, inwiefern auch eine konservative und migrationsfeindliche Politik, die von Einwander*innen erwartet, sich als Arbeitshilfen zu erweisen, sich unter Beweis zu stellen, dazu beiträgt, dass selbst die Betroffenen und Opfer des kapitalistischen (und kolonialen) Märchens von Nützlichkeit an dieses glauben. Vielleicht ist genau nach 16 Jahren mit einer Bundeskanzlerin aus der CDU die Zeit, diese Erzählung radikal zu dekonstruieren. Aber auch die limitierten Bilder von der Arbeiter*innenklasse; denn was tut es für einen Klassenkampf, wenn diejenigen, die die körperlich belastende Schichtarbeit und Ausbildung ohne die Unterstützung eines Bildungsbackgrounds kennen, sich mit den handwerklich und körperlich Arbeitenden nicht solidarisch sehen, weil sie de facto nicht als Arbeiter*innen gelten? Otoo schreibt weiter: „Immer wieder merke ich, dass meine gelebten Erfahrungen nicht zu den Theorien passen.” Das ist exakt das Gefühl, das ich habe, wenn ich meine eigenen Erfahrungen mit Begriffen beschreiben muss, die nur in generationalen Mustern funktionieren, wie dem des „Arbeiter*innenkindes”. Er passt nicht, denn er denkt die Sozialisierung nur durch die Eltern. Es passt auch nicht zur Selbstwahrnehmung deiner Familie und deines Umfelds während der Kindheit, zu den vielfältigen Bezugspersonen und Biografien, von denen du erzählt hast, mit denen man fern von bildungsbürgerlichen Kernfamilien immer schon aufwächst. Wenn man also daran festhält, dass man für die Arbeiter*innenklasse immer schon zu gut gestellt war, aber für die Mittelklasse immer schon zu schlecht, werden Zugänge zu einem Gemeinschaftsgefühl versperrt. Oder wie Otoo formuliert: „Mein Zugang zur Solidarität wird sowohl durch diese beiden Perspektiven auf mich – also die Unter- und die Überschätzung – als auch durch meine eigene Scham verhindert. Denn: Wie soll ich über all das berichten, ohne mich bloßzustellen und mich noch verwundbarer zu machen?”
Wie soll ich über all das berichten, ohne Begriffe zu verwenden, die nicht ganz passen? Du hast des Öfteren Seeck zitiert; Zugang verwehrt geht mit diesen Begriffen differenzierter um, als ich es bisher kannte. Alleine schon, weil es nicht darum geht, abschließend kategorisierbare Klassen zu charakterisieren, sondern um eine Annäherung und Standortbestimmung an und von den diversen Gründen, die zu Klassismus führen, nämlich die Abwesenheit „verschiedener Kapitale”. Das steckt in unserem Text schon überall drin, aber so klar benannt haben wir es noch nicht, denke ich. Klassismusbetroffene leiden an einem Mangel an
1. ökonomischem Kapital (niedrige Einkünfte, keine Rücklagen oder Erbschaft) und/oder
2. kulturellem Kapital (keine oder wenig akademische Bildung) und/oder
3. sozialem Kapital (was man wohl als Vitamin B bezeichnen würde, Verbindungen und Kontakte zu Personen, die einen beraten, einem Wissenszugänge ermöglichen). Das Bürgertum wächst mit all diesen Kapitalen auf, wohingegen die aufgestiegene Arbeiter*innenklasse erst einmal nur eines, maximal zwei dieser Kapitale aufbauen kann. Das führt dann wiederum dazu, dass selbst studierte Arbeiter*innenkinder schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben usw., das würde nun zu weit führen, aber ich denke, dass die Aufschlüsselung helfen kann, Klassismus nicht starr zu kategorisieren, sondern den verschiedenen Lebenswegen, die Klassismus ausgesetzt sind, gerechter zu werden.
NACHTRAG Dagmara/ 22.8.2022
Ich habe Otoos Essay letztes Jahr das erste Mal gelesen und gestern nochmal reingeschaut und merke, dass ich ihn heute ganz anders lese und verstehe als noch vor einem Jahr. Beim ersten Lesen sah ich vor allem die strukturellen und individuellen Probleme einer Schwarzen, alleinerziehenden, freischaffenden Schriftstellerin; bei der erneuten Lektüre erkenne ich nun auch den inneren Konflikt einer Person, sich selbst zu einer bestimmten sozialen Gruppe bzw. Klasse zuordnen zu wollen, es aber nicht zu können, weil starre Begriffe, Vorstellungen sowie Vorurteile ihr Grenzen setzen.
Du hast mir gestern geschrieben, dass du das Gefühl hättest, dass du durch diese Lektüre endlich deine Haltung zum Begriff des Arbeiter*innenkindes verstanden hättest. Mir geht es genauso.
Begriffe und Bezeichnungen werden oft als starre Gebilde wahrgenommen, dabei unterliegen sie gleichen Gesetzen wie Sprache im Allgemeinen – sie sind organische Gebilde, die sich sowohl aus sich selbst heraus als auch durch äußere Einflüsse verändern (können). Wir müssen manchmal Begriffe benutzen, die nicht exakt passen, weil es (noch) keine anderen, zutreffenden Begriffe gibt oder vielleicht, weil sich ihre angestammte Bedeutung langsam verändert. Vielleicht verstehen wir auch Wörter anders als andere – auch dann, wenn wir die gleiche Sprache sprechen –, weil wir aus unterschiedlichen Lebensrealitäten kommen. ‘Arbeiter*innenkind’ könnte unter anderen so ein Begriff sein, der, je nachdem, welche Klassenposition wir innehaben, seine ganz eigene Bedeutung bekommt. Eventuell wirst du mir hier nicht ganz zustimmen, denn weiter unten sagst du, „wenn wir Klassenkampf ernst meinen, müssen wir gut aufpassen, die richtigen Begriffe zu verwenden”. Doch wie wir bereits festgestellt haben, stehen uns die richtigen Begriffe vielleicht noch nicht zur Verfügung, die wir brauchen, um zu verstehen, wie tief der Klassismus in unserem Alltag steckt.
Klassen-Begrifflichkeiten
Katharina/ 21.06.22
Ich musste noch ein wenig weiter darüber nachdenken, welche Begriffe fehlen, und habe dann weitergedacht über Wörter und Floskeln, die entweder Personen bezeichnen, die aus einer ‘unteren’ Klasse kommen oder auf den ‘Klassenaufstieg’ referieren, die im Alltagssprache andauernd verwendet werden und somit vielleicht unschuldig daherkommen, die aber im Kern hoch klassistisch sind. Ich habe hier ein paar von Ihnen festgehalten:
„Aus bescheidenen Verhältnissen kommen”
Also ganz ehrlich, ich komme lieber aus ‘wütenden’ Verhältnissen. Das ist natürlich erst mal nur eine Wortspielerei, aber hinter dem Begriff der Bescheidenheiten verbirgt sich viel, unter anderem, wie stark die Vorstellung, dass Menschen, die aus wenig stabilen ökonomischen Umständen kommen, in irgendeiner Weise dankbarer bzw. mit weniger zufrieden sind, in unserer Sprache und unserem Alltag verankert ist. Ich denke dabei an den Bobo-Stereotyp eines Lorenz, der aus bürgerlichem Hause stammt und zwischen Abitur und Studium eine Reise durch Südamerika macht, um zurückzukehren und allen zu erzählen, dass die Leute dort zwar wenig haben, aber dafür viel, viel glücklicher sind. Das ist ein klassischer Fall von Armuts-Romantisierung und diese verwässert (wie viele andere toxische Narrative, die sich um Armut/Verzicht/Einfachheit ranken, wie zum Beispiel der ‘mittellose Künstler’) unser Bild auf prekäre Lebensverhältnisse ebenso wie auf die Personen, die in diesen Verhältnissen leben müssen. Ich denke, es geht bei diesen Zuschreibungen von Bescheidenheit um eine besonders perfide Form des otherings, die sich hinter einer Verehrung maskiert.
„Es geschafft haben”
Vielleicht zu obvious, aber ich wollte es dennoch aufschreiben, weil es A: ein so häufig gehörter Satz im Zusammenhang mit ‘Klassenaufsteiger*innen’ ist und weil ich B: diesen so internalisiert habe, dass er mir selbst manchmal rausrutscht. Ähnlich wie der Begriff ‘Aufsteiger:in’ selbst ist es auch mit der Vorstellung von der verdienten Leistung im Zusammenhang mit Klasse, mit dem „sich behaupten”, mit dem „geschafft haben”. Sure, Klassenaufstieg ist anstrengend, aber erstens hat man seine Position sicherlich nicht mehr verdient als jemand, der es nicht geschafft hat diesen ‘Aufstieg’ zu vollziehen und zweitens ist es ja so, wie wir schon ein paar Mal angedeutet haben, dass dieser Aufstieg nie wirklich beendet ist. Ich will keinen Schulterklopfer von anderen, weil ich die Erste meiner Familie war, die studiert hat, oder weil ich seit ich 15 bin durchgehend gearbeitet habe, will nicht, dass sie mir sagen, wie toll es ist, dass ich das alles ‘geschafft’ habe. Weil meine Erfahrungen in mir nicht das Gefühl von Erfolg zurücklassen, sondern die Wut auf ein System, das nur den Weg in die Vertikale kennt. Und Erfolg nur für Personen, die sich an der Schwelle zur anderen Klasse bewegen. Machtstrukturen werden sich nicht ändern, nur weil einige mit der Hilfe anderer, Glück und harter Arbeit ihre Klasse verlassen können, denn das käme einer reinen Umkehr von sozialen Verhältnissen gleich. Wie für liberale Feminist*innen, die ihren Feminismus dann geglückt sehen, wenn sie die selben Chancen für sich erlangen, die auch der weiße cis Mann hat, aber ihre Schwarzen, behinderten und trans Schwestern in ihrem Kampf außen vor lassen, halten auch diejenigen, die es großartig finden, es in einem korrupten System geschafft zu haben, an dem fest, was Maria Barankow und Christian Baron in ihrer Einleitung zu Klasse und Kampf als den „zentrale[n] Mythos der marktkkonformen Demokratie” benennen. Diese Formulierung des Schaffens, der Errungenschaft, bejaht die Idee, dass diejenigen, die nicht vom System profitieren, etwas falsch machen, versagt haben, gegen die Regeln verstoßen. Dabei ist es so, wie Barankow und Baron weiter schreiben, dass Ausbeutung keinen „Verstoß gegen kapitalistische Regeln” bedeutet, sondern notwendig „aus der Befolgung dieser Regeln” resultiert, aus der Befolgung der Regeln eines ausbeuterischen Systems. Statt der weiteren Anpreisung der Erfolgsmärchen braucht es deshalb die Dekonstruktion eines solchen vertikalen Berg-Systems, das man besteigen soll; des Systems, in dem nur diejenigen, die oben sind, selbstermächtigt sind – ich will die horizontale Revolution.
Katharina/ 22.06.22
„Jede:r ist seines Glückes Schmied”
Das ist ein weiterer Satz, der immer noch präsent in der Alltagssprache vieler ist und von dem ich mich jedes Mal, wenn ich ihn höre, persönlich angegriffen fühle. Seine Implikationen gehören auch zu denen des ‘Schaffens-Narrativs’. Es meint, dass jede:r auch das verdient, was er oder sie hat. Ich habe heute morgen einen Video-Ausschnitt gesehen, in dem Marlene Engelhorn über die Vermögenssteuer spricht. Und ganz unabhängig von ihrer Person, die den Großteil ihres Erbes spendet, hat sie in diesem Interview etwas über Personen mit hohem Vermögen gesagt, das meiner Meinung nach auch den Kern der Strukturiertheit von sozialer Ungleichheit trifft: „Verlust wird sozialisiert und Erfolg privatisiert”.
NACHTRAG Katharina/ 25.8.2022
Das ist etwas, das im Falle der aktuellen Energiekrise mehr als deutlich zutage tritt. Mineralölkonzerne, die ihre Gewinnmargen teilweise sogar erhöhen und nicht gezwungen sind, die Hilfestellungen von Staatsgeldern an die Verbrauchenden weiterzugeben. Die Verbrauchenden wiederum werden wie selbstverständlich aufgefordert, die Margen der Konzerne zu sichern und Summen in Höhe von Monatsgehältern zur Seite zu legen, um die erhöhten Kosten abzufangen. Andersherum wäre es so, dass eine Übergewinnsteuer bis zu 100 Mrd. Euro jährlich frei machen würde (das Wochenmagazin quer berichtete). Spanien finanziert mit solchen Geldern in etwa einen kostenlosen ÖPNV, um Haushalte mit niedrigem Einkommen zu entlasten. Aber der Glaube an das Recht auf Gewinn hält sich selbst in der Krise hartnäckig. Übertragend ist es so, wie du bereits früher im Text angemerkt hast, dass auch das Prekariat nach wie vor mit dem Label der Eigenverschuldung belegt ist, obwohl es unter den Nachwirkungen von Engelhorns angesprochener Sozialisierung leidet. Flächendeckend hält sich der Glaube, andere seien schlicht zu faul oder zu desinteressiert und leben deshalb in Armut, was du als große Abwehr-Geste im Angesicht der Angst gedeutet hast. Angst vor der Realität, in der Armut wirklich jede*n treffen kann, weil unsere Auffangnetze bzw. unser Sozialsystem noch lange keines ist, das diesen Titel stolz tragen darf. Es ist so absurd, dass selbst jetzt, wo eine Vielzahl der Krisen (Pandemie, Klima, Krieg, Inflation) zeigen, wie vulnerabel der gesamte Mittelstand wirklich ist und wie radikal sich die Armutsbetroffenheit ausweitet. Der Paritätische Armutsbericht 2022 schreibt davon: „Noch nie wurde auf der Basis des amtlichen Mikrozensus ein höherer Wert gemessen”. Ich habe mal nachgesehen – diese Messung wird seit 1957 durchgeführt. „Auffallend sei ein ungewöhnlicher Zuwachs der Armut unter Erwerbstätigen, insbesondere Selbständiger (von 9 auf 13,1 Prozent), die während der Pandemie in großer Zahl finanzielle Einbußen zu erleiden hatten. Armutshöchststände verzeichnen auch Rentner*innen (17,9 Prozent) sowie Kinder und Jugendliche (20,8 Prozent).” Also all diejenigen, die entweder ohnehin gearbeitet hatten oder nicht arbeiten sollten. Auf der anderen Seite haben, wie auch Francis Seeck schreibt, die 10 reichsten Deutschen Ende des Jahres 2020 „eine Steigerung ihres Vermögens um 35 Prozent” gegenüber dem Vorjahr verzeichnen können.
#Leistung. Es ist das Festhalten am kapitalistischen Märchen, in dem jeder alles schaffen kann, das so viele dazu bringt, die gerade skizzierte Diskrepanz nicht als schreiende Ungerechtigkeit zu empfinden. Aber es ist wohl auch eine unwillkürliche Reaktion auf eine spätkapitalistische, popkulturelle Moderne, die uns ständig einzureden versucht, dass mit genug Motivation und Self Care alles schaffbar wäre und uns in Filmen und Büchern über Jahre hinweg das Märchen vom Tellerwäscher erzählt hat.
Fallen dir auch Begriffe oder Floskeln ein, die dich im Zusammenhang zu Klassenfragen auf die Palme bringen? Vielleicht mache ich zu einem späteren Zeitpunkt ein Bullshit Bingo daraus…
Jetzt ist mir doch noch eine eingefallen, die weniger eine Floskel ist, als ein ganzer Satz, den ich so oder so ähnlich schon in verschiedenen Kontexten gehört habe: „Ich würde so gerne mal [insert working class job here], um zu erfahren wie das ist.”
Mir hat neulich erst wieder eine Bekannte erzählt, dass sie gerne mal kellnern wollen würde, einfach so, um mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen und vielleicht auch für…Inspiration. Solche Sätze treffen mich auf einer Ebene, auf der ich nicht mehr groß rationalisieren kann und im ersten Moment mein Gesicht völlig entgleist. Als jemand, die seit sie 15 war durchgehend gearbeitet hat, in unzähligen Restaurants, Bars und im Einzelhandel zwischen genervten Kund*innen und Lagerarbeit, die in den Semesterferien keine Praktika machen konnte und früh chronische Rückenprobleme bekommen hat, ist ein solcher Satz nicht nur nicht sensibel genug, was Class Issues angeht, ich empfinde ihn als blanken Hohn.
Dagmara/ 24.06.2022
Mir fällt auf Anhieb keine weitere Floskel zum Klassenwechsel ein. Ich werde aber jedes Mal wütend (ich komme aus ‘wütenden’ Verhältnissen), wenn ich den Spruch „Jeder ist seines Glückes Schmied” lese oder höre. Es ist eine Floskel, die sich als Volksweisheit ausgibt, doch so falsch der Inhalt ist, so gut passt sie dennoch in unser gesellschaftliches und wirtschaftliches System. Gesellschaftliche Verantwortung wird auf das Individuum gewälzt und es sagt nichts anderes aus, als das, was wir schon weiter oben geschrieben haben: Wohlstand (Erfolg) wird als persönlicher Verdienst und Armut (Misserfolg) als persönliches Verschulden erachtet.
Francis Seeck, Autor*in des Buches Zugang verwehrt, sagt in einem Interview mit der Berliner Zeitung über dieses Sprichwort folgendes: „Das ist ein Mythos, weil Menschen unterschiedliche Ressourcen mitbringen. Erbschaften bestimmen den Lebensweg immer noch sehr. Im Bildungswesen kommt es sehr auf die soziale Herkunft an. Es wäre schön, wenn alle ihres Glückes Schmied wären. Aber leider sind die Möglichkeiten durch die Klasse, in die wir hineingeboren werden, beschränkt.”
Ein Klassenwechsel bzw. ein sogenannter sozialer Aufstieg ist in Deutschland kaum möglich; es dauert statistisch sechs Generationen, bis Personen aus einkommensarmen Familien das Durchschnittseinkommen erreichen, schreibt Seeck im Zugang verwehrt.
Reichtum wird in Deutschland nicht ‘hart erarbeitet’, sondern größtenteils geerbt. Laut Statistischem Bundesamt wurden 2020 Vermögen in Höhe von 50,2 Milliarden Euro geerbt, weitere 34,2 Milliarden Euro wurden als Schenkungen veranlagt; das bedeutet, dass es Menschen gibt, die insgesamt 84,4 Milliarden Euro – als Zahl ausgeschrieben: 84 400 000 000 Euro – einfach so erhalten haben, ohne etwas dafür getan zu haben, außer als Kind in eine wohlhabende oder reiche Familie hineingeboren zu sein oder weil sie durch andere zufällige Umstände des Lebens üppig beschenkt wurden. Thomas Piketty erkennt in seinen opulenten Werk Das Kapital im 21. Jahrhundert folgerichtig, wer „Hausbesitzer wird, in welchem Alter, mit welchem Lebenspartner, in welcher Wohngegend – all das hängt nun ganz wesentlich, zumindest ungleich stärker als in der Generation ihrer Eltern davon ab, was und wie viel sie erben – oder eben nicht. Ihr Leben, ihre Karriere, ihre persönlichen und familiären Entscheidungen sind sehr viel stärker, als es bei den Baby-Boomern der Fall war, von der Erbschaft – oder ihrem Ausbleiben – beeinflusst.”
Bei „Jeder ist seines Glückes Schmied” muss ich übrigens zwangsläufig an „Jedem das Seine” denken – nicht an das aus der Antike stammende Prinzip, sondern an das zynische Motto am Eingangstor des KZ Buchenwald. Begriffe wie ‘asozial’, ‘arbeitsscheu’ oder ‘unwertes Leben’ wurden von den Nationalsozialisten für Angehörige der Arbeiter*innen- und Armutsklasse benutzt; diese Bezeichnungen finden im offiziellen Sprachgebrauch keine Verwendung mehr, im Alltäglichen allerdings schon. Sie werden nicht ausschließlich für arme, obdachlose oder erwerbslose Menschen verwendet, sie haben aber stets eine abwertende und klassistische Bedeutung. Klassistische Kontinuitäten finden wir bis heute, wie Francis Seeck betont: „Klassismus zeigt sich auch darin, dass die nationalsozialistische Verfolgung von Sexarbeiter*innen, Bettler*innen, Jugendlichen aus Heimen sowie Menschen, die sich nicht in das Lohnarbeitssystem einfügten, bis heute kaum aufgearbeitet ist. Nach wie vor gibt es für diese Opfergruppe keine offizielle Gedenkstätte.”
INTERMISSION/Sammlung
Dagmara
Als Kind hatte ich eine kleine Sammelleidenschaft. Ich sammelte Heiligenbilder, die wir bei Gottesdiensten und im Religionsunterricht bekamen sowie die Verpackungen von deutschen oder US-amerikanischen Süßigkeiten, die wir gelegentlich via Care-Pakete aus Deutschland bekamen. Ich hatte einen kleinen Pappkarton, in den ich die säuberlich aufgeschnittenen und penibel geglätteten Umverpackungen all dieser kostbaren Schokoriegel, Gummibärchen und anderer Süßigkeiten aufbewahrte. Ich holte sie immer wieder heraus, betrachtete sie und schnupperte an ihnen – sie waren so schön bunt und rochen noch lange Zeit nach ihrem süßen Inhalt. Als ich viele Jahre später als erwachsene Frau mit meiner Mutter unsere Heimatstadt besuchte, fiel mir bei einem Spaziergang diese Sammlung ein und ich erinnerte meine Mutter daran: „Weißt du noch? Damals, als ich die Süßigkeitenverpackungen sammelte… hahaha… mein kleiner Schatz … hahaha.“ Es war eine amüsante Erinnerung, doch plötzlich machte es in meinen Kopf klick und ich fing unvermittelt an zu weinen. Ich empfand tiefe Trauer: „Wie armselig das doch war“, schluchzte ich. Ich meinte das System, in dem wir damals leben mussten, nicht das Kind, das Abfall sammelte.
INTERMISSION/Klasse und Schreiben
Katharina
Klasse bzw. Ressourcen ist auch ein Thema, was diesem Text irgendwie untergebaut ist und weshalb wir uns entschieden haben, dass wir uns weder in regelmäßigen Abständen schreiben noch Romane schreiben müssen, weil Zeit zum Schreiben manchmal so knapp ist. Wenn ich dann die Zeit zum Schreiben finde, fühlt es sich ungehörig luxuriös an. Jetzt sitze ich hier von Ruhe umgeben, meinen Eiskaffee schlürfend und nichts zu tun, als einem lieben Menschen zu schreiben, wie unverschämt schön.
Klassengedächtnis
Katharina/ 26.06.2022
Puh, das wird jetzt ein harter brake, aber ich verspreche, es gehört am Ende zusammen und führt zurück auf Fragen, auf die ich bisher nicht antworten konnte. Zurück zu deinem Kartoffelstampf mit Buttermilch, deinem Zugehörigkeitsgefühl einer Klasse zu der du per Definition nicht gehört hast. Du hattest geschrieben, dass es eine Divergenz gibt zwischen ‘Klassenzugehörigkeit fühlen’ und ‘sozialwissenschaftlich dazuzugehören’. Ich habe das sehr gefühlt und glaube, es gehört stark dazu, was ich versucht habe anhand von Otoos Essay darzustellen. Nämlich zum sprachlichen und theoretischen Problem, weder Arbeiter:innenkind noch Mittelklassekind zu sein, auf keinen Fall aus dem Bildungsbürgertum zu kommen und doch mittlerweile immer wieder in diesen Gruppen unterwegs zu sein. Es gibt eine krasse praktische Kluft, die unsere Begriffe wie das ‘Arbeiter*innenkind’ nicht abdecken können, weil A: generationale Übertragungen nicht nur chronologisch stattfinden und B: Migrationsbewegungen eine elementare Rolle in unserer beider Familiengeschichten spielen. Was meine ich damit?
Es geht darum, dass Klassenaufstiege immer extrem einseitig gedacht werden, nämlich linear, und scheinbar immer von der älteren zur jüngeren Generationen aufsteigend. Wo passt da die Geschichte hinein, in der meine Mutter heute Studierte ist, es aber noch nicht war, als ich anfing zu studieren und noch lange nicht war, als ich den Wunsch fasste, studieren zu wollen? Wo passt die Geschichte einer promovierten Vater-Figur in meinem Leben hin – quasi das Privileg schlechthin, wenn es um access ins Bildungsbürgertum geht –, wenn diese Person aber erst am Ende meiner Jugend in mein Leben getreten ist? Wie passt die Geschichte, dass es die Erzählungen und die Lebensumstände meiner Oma sind, die mich zu einem großen Teil mit sozialisiert haben, meine Wünsche und meine Sorgen geprägt haben, weil ich bei ihr die Zeit verbrachte, in der meine Eltern Geld verdienten und an ihrem eigenen ‘Aufstieg’ arbeiteten? Wie passt die Geschichte, dass meine Mutter zwar kurz nach ihrem Schulrausschmiss (man legte ihr nahe, dass sie als Schwangere ein schlechtes Vorbild für die anderen Schüler*innen abgebe) Angestellte war, aber zusätzlich jahrelang abends in Hotels und Restaurants arbeitete, um die Familie in Kroatien bei ihren Ausgaben unterstützen zu können?
In dieser Bredouille kommt für mich das ins Spiel, was ich sowohl mit post-Arbeiter*innenkind als auch zu Teilen mit dem Klassengedächtnis gemeint habe. All diese ‘post’-Begriffe sind etwas überakademisiert und ich verwende sie so, wie ich es in Seminaren zu postcolonial studies meine verstanden zu haben: nämlich als einen vermeintlich vergangenen Zustand, der Begebenheiten in der Gegenwart allerdings weiterhin betrifft, dort sein Echo findet oder noch tief in den Strukturen steckt. Im Falle von Postkolonialismus heißt das, dass Macht- und Unterdrückungsmechanismen kolonialer Herrschaft ins Jetzt fortbestehen bzw. nachwirken. Im Falle des Post-Arbeiter*innenkindes wollte ich zum Ausdruck bringen, dass die Erfahrungen und Erinnerung meiner Großmutter, die als Gastarbeiterin in Münchner Hotels putzte, oder die Erfahrungen, die meine Mutter bei nächtlichen Gastronomie-Schichten machte, eine große Rolle darin spielen, wie ich mit Arbeit und Geld im Allgemeinen umgehe, wie ich über Rückengesundheit denke und vieles mehr, unabhängig davon, dass ich nach theoretischer Definition kein Arbeiter*innenkind bin und mich infolgedessen auch nicht so nennen will. Denn ich denke, wenn wir Klassenkampf ernst meinen, müssen wir gut aufpassen, die richtigen Begriffe zu verwenden – irgendwie müssen ja dummerweise immer diejenigen aufpassen, die marginalisiert sind.
Aber ich will nicht nur genau aufpassen, welche Begriffe für mich, für uns, für die Dazwischen-Lebenden richtig sind, um nicht falsch verstanden zu werden, sondern auch, weil ich glaube, dass wir gemeinsam neue Begriffe erfinden müssen, um das Dazwischen zu beschreiben. Und ja, so pathetisch es vielleicht für Außenstehende klingen mag, um uns besser zu verstehen; um unseren Erfahrungen einen Namen zu geben und immer weiter zu kreisen, bis wir eine grobe Skizze von dem haben, was eigentlich alles zwischen den zu limitierenden Begriffen Arbeiter*innenklasse – Mittelklasse und hinter dem verflachten Bild von Aufstieg alles an Spektren, Wendungen und Abzweigungen liegt.
Das ‘Klassengedächtnis’ (oder vielleicht auch das ‘Arbeitsgedächtnis’) ist für mich insofern ein Hilfsbegriff, als ich eben im Hier und Jetzt, eigentlich angekommen in einer anderen Klasse, sowohl im Sinne des ökonomischen als auch des kulturellen Kapitals, meine Situation dennoch als trügerisch und unzuverlässig empfinde. Meine Klassenzugehörigkeit nur die halbe Wahrheit erzählt, fragil ist. Du hattest zu Beginn dieses Textes einmal geschrieben, dass dein Vater sehr irritiert war, als du ihn nach eurer ‘Armut’ gefragt hast. Man vergisst sie, aber manchmal hat man sie auch nie gespürt. Deshalb verwende ich für mich diesen Begriff von ‘Gedächtnis’, weil Dinge wie Geldsorgen, ein Ausgeschlossen Sein in gewissen akademischen Blasen und vieles mehr in meinem Denken eine Rolle spielen, ich aber als Kind nie gefühlt hätte, das etwas fehlt. Er ist mir damals als Abgrenzung zu dem von der Journalistin Mareice Kaiser in einem Feature vorgeschlagenen Begriff ‘armutsgeprägt’ eingefallen. Geprägt von Armut bin ich nicht, arm waren wir nie, aber ich habe große, große Angst vor ihr, weil ich viele Fallgeschichten kenne, die nicht von irgendwelchen ‘Anderen’ erzählt wurden, sondern von den Menschen, mit denen ich gelebt habe, die mir nah sind, die mir Essen gekocht haben, weil wir die Armut geschrammt haben, weil wir lange verschuldet waren, weil wir nie etwas hatten wie großzügige Rücklagen, weil die Armut nie etwas war, von dem ich dachte, dass es unendlich weit weg sei.
Armut als Spektrum
Dagmara/ 29.06.2022
Ich habe mich lange vor dem Thema Armutsgedächtnis gedrückt, weil ich zunächst noch lose Fäden in meinem Kopf zusammenbinden musste. Ich musste für mich klären, ob wir wirklich arm waren und woher mein Armutsgedächtnis kommt. Das klingt merkwürdig, aber die Tatsachen, dass es uns damals an essentiellen Gütern (Essen, Kleidung, Wohnung, Gesundheitsversorgung) nicht fehlte, auch wenn diese nicht in Fülle vorhanden waren, und ich – wie du auch – keine Armut gespürt habe, halten mich davon ab, uns als wirklich arm zu betrachten. Ich scheue mich davor, weil ich gegenüber wirklich armen Menschen nicht despektierlich sein und ihre Armut unsichtbar machen möchte.
Hinzu kommt, dass das Leben in einem ärmlichen sozialistischen Land, wie Polen der 80er Jahre, die Wahrnehmung und das Erleben von Armut, Mangel und Prekariat einen Menschen anders prägen als ein Leben in einem reichen kapitalistischen Land wie Deutschland. Wie bereits anfangs erwähnt, lebte meine Familie und unser Umfeld in sogenannten ‘bescheidenen Verhältnissen’. Das Erleben von Armut oder Mangel war ein Kollektives, ein Gesamtgesellschaftliches – ich erlebte keine ausgeprägten Unterschiede, keine augenfällige Kluft zwischen Arm und Reich. Anders als in reichen Ländern, wurden wir nicht beständig mit einer Vielfalt an (Luxus-)Gütern und unerreichbarem Reichtum konfrontiert. Der Mangel und die Armut, die wir als Gesellschaft erfuhren, war zum größten Teil Auswirkung einer sogenannten Mangelwirtschaft. Während in einem kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem der Wohlstand und Reichtum der einen auf der Ausbeutung anderer beruht und somit Wohlstand und Armut in einer Wechselbeziehung zueinander stehen, korrespondiert der Mangel in einem sozialistischen System – sehr vereinfacht zusammengefasst – größtenteils mit einer verfehlten Wirtschaftsplanung, fehlendem Wettbewerb und eingeschränktem wirtschaftlichen und fachlichen Austausch auf internationaler Ebene. Selbstverständlich gab es auch damals Profiteur*innen, doch es gab keine augenfällige Schlucht zwischen Arm und Reich.
Obwohl wir nicht Tag für Tag mit unermesslichem Wohlstand konfrontiert waren, wussten wir trotz alledem – auch ohne Internet, ohne freie Medien und nur mit beschränkter Reisefreiheit – vom reichen Westen. Als Kind war für mich der ‘verheißungsvolle Westen’ wie eine Märchenwelt, die, trotz Care-Paketen aus Deutschland, unerreichbar und unwirklich erschien. Der Westen war faktisch und emotional zu weit weg, um ein Bedauern über unseren Mangel und eine Sehnsucht nach dem westlichen Reichtum zu verspüren. Ich weiß nicht genau, ob es meine individuelle oder eine allgemeingültige kindliche Praxis ist, seine Lebensumstände als ‘natürlich’ und ‘richtig’ zu erleben – vermutlich eher letzteres – aber ich glaube, dass man ohne die Erfahrung des Überflusses bei anderen den eigenen Mangel nicht verspüren kann. Ein Bewusstsein für Mangel und Armut kam erst auf, als ich mit meiner Mutter Polen verlassen durfte und wir nach Deutschland kamen, wo mein Vater bereits seit einiger Zeit lebte. Ich erinnere mich noch genau, wie unwirklich Deutschland auf mich wirkte – es war heller, sauberer, bunter und vor allem so viel reicher. Der offensichtliche und zur Schau gestellte Überfluss war für mein kindliches Gehirn kaum zu fassen. Die ersten Monate verbrachte ich wie im Rausch – ich wollte alles haben, alles sehen und alles probieren.
Ich habe bis jetzt vorrangig über die materiellen Aspekte der Armut oder des allgemeinen Mangels in einem sozialistischen Land geschrieben und habe die immateriellen Faktoren ausgeklammert. Abwesenheit von Armut ist nicht gleichbedeutend mit ‘genug Essen, Kleidung und ein Zuhause haben’; für ein erfülltes und würdiges Leben brauchen Menschen Frieden, persönliche Freiheit, die Möglichkeit einer freien geistigen und emotionalen Entwicklung, die Chance sein Leben eigenständig zu gestalten, Schutz vor staatlicher Willkür, Denunziation und Repressalien, kurz: der Mensch braucht das, was im Grundgesetz als „unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte” bezeichnet wird. Das alles hatten wir nicht – wir waren unbestreitbar arm an persönlicher Freiheit, Sicherheit und Rechten.
Ich glaube, dass in Deutschland ein defizitäres Bild von Armut vorherrscht. Bei Armut denken viele an Hunger, Verwahrlosung, Obdach-, Wohnungs- und Erwerbslosigkeit. Du erzähltest letztens, dass du einen Beitrag über Armut gelesen hast, der mit löchrigen Kindersocken bebildert war. Ich habe das Wort „Armut” gegoogelt und mir Bilder zu diesem Suchbegriff anzeigen lassen. Zu sehen waren Menschen, die auf der Straße leben, schlafen oder betteln, die in Mülleimern nach Pfandflaschen oder auf Mülldeponien nach Brauchbarem suchen – löchrige Socken, kaputte Schuhe und leere Brieftaschen und natürlich waren als arme Menschen allen voran die armen Kinder des sogenannten globalen Südens zu sehen. Solche Bilder sind ein Problem. Warum? Sie zeigen nur eine Facette des Spektrums Armut. Ein Beitrag über Armut könnte genauso gut mit einem Foto von einer weißen bio-deutschen Familie am Esstisch, einer lohnarbeitenden Person oder einem Kind in einer Schulklasse bebildert werden. Auch solche Bilder können für Armut stehen: eine Familie, die sich kein frisches Obst und Gemüse leisten kann und zu fünft in einer viel zu kleinen Wohnung leben muss; eine Person, die trotz Vollzeitstelle ihren Lohn mit Hartz IV aufstocken muss; ein Kind, dem aufgrund seiner Klassenzugehörigkeit ein Leben in Wohlstand und Sicherheit verwehrt wird. Armut ist nicht nur mit materiellem Mangel gleichzusetzen, sondern auch mit einem Mangel an Chancen, einem Mangel an psychischer und physischer Gesundheit aufgrund von Armut sowie der Unmöglichkeit, sein Leben nach eigenem Gutdünken zu gestalten. Armut bedeutet psychische und physische Unfreiheit.
Doch nun endlich zum Armutsgedächtnis. Armutsgedächtnis oder auch Armutserinnerung ist, so wie ich es verstehe, mit einem Trauma gleichzusetzen, das aus erlebter Armut und/oder auch ‘vererbter’ Erinnerung an Armut herrührt. Ich glaube, dass mein Armutsgedächtnis teilweise aus eigener Erfahrung und teilweise aus den meiner Eltern und vor allem meiner Großmütter mit Armut stammt. Ich verbrachte einen Großteil meiner Kindheit bei meinen Großmüttern, die von Krieg, Armut und Prekariat geprägt waren. Sie waren – bezugnehmend auf Mareice Kaisers Begriff – armutsgeprägt und zusätzlich kriegsgeprägt. Das Zusammenleben mit ihnen hat mich bezüglich meines Umgangs mit materiellen Gütern, Geld und meiner Einstellung zum Leben tief beeinflusst. Ihre Armuts- und Kriegserfahrungen finden sich in meinem Armutsgedächtnis wieder – Armut- und Kriegserfahrungen sind transgenerationale Traumata, also Traumata, die auf nachfolgende Generationen vererbt werden.
Doch wie äußert sich das Armutsgedächtnis konkret bei mir? Der Gedanke, das Geld zusammenhalten zu müssen, ist mein treuer Begleiter, ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ich größere Geldsummen für ‘unnützes Zeug’ ausgebe, aber auch ein Widerwille, große Summen für nötige Dinge auszugeben (früher hielt ich das für Geiz), Kleidung und Gebrauchsgegenstände bis zum Maximum zu nutzen, sie zu reparieren oder flicken, bis es keinen Sinn mehr macht, ich kann Dinge nur sehr schlecht wegwerfen, einen Kredit würde ich nur im äußersten Notfall (z.B. für eine notwendige medizinische Behandlung) aufnehmen und ich habe Angst vor Armut, und ich meine damit nicht, sich keinen Urlaub oder kein Auto leisten zu können, sondern Angst vor Wohnungslosigkeit und davor, kein Geld fürs Essen zu haben. Ich glaube, dass Menschen, die in steter materieller Sicherheit aufgewachsen sind, die Angst vor existenzbedrohender Armut niemals so tief und nachdrücklich nachempfinden werden wie Menschen, die Armut und Mangel schon früh kennengelernt haben. Außerdem geht aus dem Armuts- und Klassengedächtnis ein tiefsitzender Glaube hervor, dass für mich viele Türen immer geschlossen bleiben werden, Chancen auf gute Jobs – trotz Uni-Abschluss – nur sehr begrenzt sind und ich da, wo andere Chancen sehen (z.B. Jobwechsel), nur Risiken erkennen kann. Das Armutsgedächtnis macht mich unfrei, vorsichtig und pessimistisch.
Ich möchte deinen Gedanken aus deinem letzten Beitrag noch ein paar lose Gedankenfetzen von mir hinzufügen:
„Klassenkampf” – ein schon fast aus der Zeit gefallener Begriff. Er lässt vermutlich viele an Arbeitskämpfe, Marx und an längst vergangene Zeiten denken. Ich denke, der Klassenkampf tobt nach wie vor, leider nur von oben nach unten.
„Aber ich will nicht nur genau aufpassen, welche Begriffe für mich, für uns, für die Dazwischen-Lebenden richtig sind, [...] um das Dazwischen zu beschreiben und [...] uns besser zu verstehen” – Begriffe lassen uns erst erkennen, wer wir sind und was mit uns und um uns herum passiert. Sie lassen uns unsere eigene Existenz begreifen und, was noch wichtiger ist, sie erzeugen ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Begriffe, Bezeichnungen oder Definitionen – auch wenn sie manchmal etwas schwammig, unscharf oder eindimensional sind – sind stets Kategorien, in die sich eine Gemeinschaft zusammenfassen lässt. Ein Begriff vertreibt die Einsamkeit.
„All diese ‘post’-Begriffe sind etwas überakademisiert und ich verstehe sie so, wie ich es in Seminaren zu postcolonial studies meine verstanden zu haben: nämlich als einen vermeintlich vergangenen Zustand, der Begebenheiten in der Gegenwart allerding weiterhin betrifft, dort sein Echo findet, oder noch tief in den Strukturen steckt” – ich schrieb, dass mich etwas an dem Begriff Post-Arbeiter*innenkind stört, obwohl er mehr oder weniger zutreffend ist. Ich glaube nun zu wissen, was es ist: Er zentriert das Vergangene, das, wie du so schön als sein Echo im Jetzt beschreibst, gleichwohl sagt er zu wenig über das Gegenwärtige aus. Er sagt mehr, was war, als was ist.
INTERMISSION/ 9-€-Ticket
Dagmara
Ich habe mir heute wieder das 9-€-Ticket gekauft, das ich im Juni bis zum Maximum genutzt habe. Ich frage mich, ob das maximale Ausnutzen eines Angebots auch Folge einer Armuts- oder Mangelerfahrung ist? Das 9-€-Ticket als All-you-can-eat des öffentlichen Nahverkehrs.
INTERMISSION/ Alptraum
Katharina
Ich hatte bis zu meinem Master-Abschluss und eigentlich auch noch ein gutes Jahr darauf immer wieder einen wiederkehrenden Alptraum – immer dann, wenn eine Druck- oder Prüfungssituation bevorstand, auch schöne Dinge, wie etwa eine Präsentation oder eine Vortragseinladung. Ich sitze in meinem üblichen Seminarraum in dem kleinen Kellerraum, in dem die Münchner Literaturwissenschaft zuhause ist. Ich sitze gegenüber von der Tür und kurz bevor die Professorin zu sprechen beginnt, stürmen zwei schwer bewaffnete Offiziere herein, zeigen auf mich und erzählen dem gesamten Seminar, dass ich eigentlich gar nicht hier sein dürfte – ich hatte das Mathe-Abitur nicht bestanden. Und so muss ich mit Mitte 20 zurück an die Schule und alles von vorne machen. Ich hatte schon Alpträume, die wesentlich besser in das Horror Genre passen als dieser, aber keiner hat mich regelmäßig mit einem solch realen Panikgefühl zurückgelassen wie dieser.
Katharina/ 11.07.2022 (das Datum habe ich so gewählt, weil ich diesen Beitrag schon bei der Kaffeepause in der Lohnarbeit auf einen Zettel gekritzelt hatte, aber tippen passiert erst jetzt, am 13.07.2022)
Ich habe sehr lange darüber nachgedacht, was es heißt, den Begriff der Armut nicht claimen zu wollen – selbst, wenn die Familie, wie in deinem Fall, mit sehr wenig Geld auskommen musste oder, wieso man sich immer wieder im Reflex wiederfindet, wie es mir beim Schreiben an diesem Text oft geht, sich zu fragen, ob man sich denn überhaupt ‘beschweren’ sollte, nur weil man, wie in meinem Fall, ein bisschen mehr neben dem Studium arbeiten musste als andere oder keine Ahnung hatte, wie man Stipendien beantragt. Ich denke darüber nach, wieso ich nicht davon loskomme mich zu fragen, ob ich die richtige Person bin, um über Klassenaufstieg und Mangel an bildungsbürgerlichem Kapital zu schreiben – was es mit unserer beider Reaktion auf sich hat, immer und immer wieder zu betonen, dass andere es sehr viel schwerer hatten als wir, ob ökonomisch oder im Bereich der Bildung.
Zum Teil denke ich, dass wir es aus einem sehr starken Drang heraus tun, das Spektrum sichtbar zu machen – und eben nicht bei dem einfachen Claim zu verharren, „dass andere halt mehr hatten”. Aber ich denke, es zeigt auch, wie die Bilder von Mangel und von Armut gesellschaftlich konnotiert sind, Konnotationen, denen wir auch nicht entkommen – singuläre Bilder des einen Mangels, der einen Armut. Die Journalistin Marija Latković hat in ihrem neuesten Newsletter darüber geschrieben, dass auch sie beobachte, man spreche allgemein in Familien mit wenig ökonomischen Ressourcen lieber davon „wenig Geld” zu haben, als „arm zu sein”. Ich denke zum einen deshalb, weil das „arm sein” einer Charakterisierung gleichkommt – wie ein Urteil, von dem man sich nicht mehr erholen könne, wie man klein oder groß ist, dick oder dünn, müsste man dann für alle Zeiten mit dem „arm sein” leben. Zum anderen liegt es wohl auch daran, was mit diesem „arm sein” verbunden ist, bzw. wie es nach wie vor repräsentiert wird. Ich habe vor ca. einem Jahr diese Story des Deutschlandfunk Kultur gelesen, von der ich erzählt hatte, in der es um relative Armut in Deutschland ging. Trotz des Versuchs des Beitrags, Armut nicht als Randphänomen zu diskutieren, sprachen die beigestellten Bilder zum Beitrag, wie du schreibst, eine andere Sprache. Man sah dort ein paar Füße mit durchlöcherten Socken und ein paar wenige Münzen. Du hast neulich am Telefon auch von der Repräsentation von Armut auf Werbeplakaten zu Spenden-Vereinen erzählt: zur Schale geformte Hände, abgemagerte Körper, traurige Gesichter. Wer will schon so sein? Wer will schon sich selbst diesen absurd verzerrten und voyeuristischen Bildern zuordnen, die von ökonomisch Schwachen im öffentlichen Raum am laufenden Band gezeichnet werden? Das Adjektiv „schwach” bezieht sich auf die Person, die wenig hat und nicht auf das ausbeuterische Prinzip, dessen Opfer sie ist. Wäre es besser, immer im Passiv zu sprechen? „Ökonomisch geschwächt” (durch andere), zum Beispiel. (Den Ausdruck der „sozialen Schwachheit” verwerfe ich generell – denn dieser scheint mir schon immer ein absolut unredlicher Konnex zwischen ökonomischem und sozialem Kapital zu sein.) Wenn ich darüber nachdenke, weshalb diese Bilder existieren, komme ich lange nicht weiter, bis ich mich frage, wem sie nutzen – du hast von Profiteur*innen geschrieben. Und ohne zu sehr linear zu argumentieren, denke ich, dass diese Exotisierung der Armut, diese bildliche Darstellung des ‘Andersartigen’ immer schon dient, um zu trennen – und zwar von der ‘Schicht’ direkt darüber. Diese spielt meiner Ansicht nach eine Schlüsselrolle darin, wie Armut nach wie vor als singuläres und immer gleich aussehendes Phänomen dargestellt wird – wo Armut immer mit zu wenig Essen, löchriger Kleidung, Alkoholismus und ebenfalls extrem häufig mit ‘Faulheit’ gleichgesetzt wird. Arm, das sind die Hilflosen und Kranken oder die, die nicht wollen. Das sogenannte – allein der Name ist menschenverachtend – ‘Hartz-IV-Fernsehen’ ist das beste Beispiel für so eine Exotisierung. Ich glaube, was den Profiteur*innen, und damit meine ich die Gewinner*innen einer kapitalistischen Wirtschaftsstruktur, nutzt, ist, dass die Mittelklasse in einem ewigen Irrglaube festhängt und zwar darin, dass sie denen oben näher sei als denen unten. Ich nenne das gerne den FDP-Trugschluss. Darin glaubt man – faktisch zu Unrecht –, dass man mit einem mittleren Einkommen weit von der Armut weg ist. Vor kurzem habe ich einen Vortrag mit einer Mitarbeiter*in der Münchner Caritas gehört, die davon sprach, dass den wenigsten klar ist, dass sie – wenn Schicksalsschläge wie Tod oder Krankheit sich häufen oder extrem genug sind, die meisten Menschen in der sog. Mittelklasse maximal zwei Monate Zahlungsausfall – durch fristlose Kündigungen, Todesfälle der Partner*innen etc. – vom Armutsrisiko entfernt sind, aufgrund von fehlendem Kapital. Immer wieder schlägt mir in Gesprächen mit Ex-Kommiliton*innen ein Unglaube entgegen, wenn ich ihnen sage, dass sie (und ich) während unseres Studiums an der Armutsgrenze oder darunter zu verorten waren. Das Wirtschaftliche und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler Stiftung markierte für das Jahr 2020 – meinem letzten Studierendenjahr – die Armutsgrenze für Einzelhaushalte bei 1126 Euro monatlich, für Paare ohne Kinder (meine damalige Wohnsituation) bei 1688 Euro. Rechnen wir ein Gehalt von 650 Euro und eines von 450 Euro (unsere damaligen Beschäftigungsverhältnisse) zusammen und addieren die Unterhalte, die unsere Eltern uns zur Verfügung stellen mussten, kommen wir nur ganz knapp über diesem Richtwert heraus. Ich denke, die genauen Ausführungen dazu, wieso wir damals keinen Bafög-Anspruch hatten, da das Bafög-Amt nur die Gehälter der Eltern von vor 2 Jahren ausliest (und nicht einmal beachtet, dass ein Elternteil mittlerweile chronisch krank und arbeitslos ist), spare ich mir an dieser Stelle. Dass es dennoch viele Personen gibt, die glauben, dass man vor diesen Schlägen gefeit ist, vor der Armut gefeit ist, passt natürlich all jenen gut, die einem nach wie vor einreden wollen, dass harte Arbeit die Erlösung bietet. Es passt ihnen gut, dass die Mittelklasse um nichts bemühter scheint, als das Streben nach oben. Ob in der Wahl ihres Hemdes oder der Politiker*innen. Selbst in der Sprache gibt es diese Bemühungen, an der Aufnahme ‘oben’ zu arbeiten. Daniela Dröscher erklärt, dass die Soziolinguistik diese Aufwendungen als „Keeping up with the Joneses” benennt. Dieser Titel „beschreibt das mittelständige Phänomen des >Mithalten-wollens<, sozial, ökonomisch, kulturell und habituell”. Dieser Arbeit liegt der Glaube zugrunde, dass man sich aus seinen Verhältnissen tatsächlich herausarbeiten kann. bell hooks sagt, Klasse ist auch deshalb so unsichtbar, da es keinen organisierten Klassenaufstand gibt. Sein Fehlen liegt, denke ich, unter anderem daran, dass die Mehrheit der Leute gar nicht weiß, wer ihnen und ihren Interessen nahe steht, mit wem sie sich organisieren sollen. Spoiler: Es ist nicht die Oberschicht.
Wie extrem diese Exotisierung bzw. Narrativierung von Armut als das Problem der ‘Anderen’ ein bloßes Machtinstrument ist, zeigt seine absolute Willkür – denn die stereotypischen Bilder, die von Armut gezeichnet werden, sind nicht konsistent. Neben dem angesprochenen Fremdheitsbild von Faulheit, Schmuddeligkeit und Krankheit der Armen, wird ökonomisches Prekariat zudem von manchen Akteur*innen absurd glorifiziert.
Lorenz, 20, kommt gerade von seinem Auslandsjahr in Tansania zurück und behauptet am laufenden Band Dinge wie: „Wenn wir alle kein Geld hätten, würde es uns besser gehen – die Leute ‘dort’ haben so wenig, aber sind so glücklich. Es sind einfache, aber bessere Menschen” Blablabla. Auf perverseste Weise führt man also die Personen, die weniger haben, auch noch vor, in dem man Ideale verkehrt, ohne natürlich wirklich so leben zu wollen wie sie. Besonders krass in diesem Zusammenhang ist dieser YouTube Trend aus den USA, bei dem verschiedene Streamer durch die Gegend fahren, obdachlosen Personen Geld schenken und ihre Reaktionen filmen – weil die sich so lieb freuen. WTF, wie geil kann man sich fühlen und wie wenig Respekt vor Menschen haben, die wenig materiellen Besitz haben. Ich habe davon mal eine besonders schlimme Version gesehen: Unter dem Namen MD Motivator veröffentlichte ein Mann ein Video, in dem er sich länger mit einer obdachlosen Person unterhielt und ihn anschließend um einen Dollar für einen Kaffee bittet. Die obdachlose Person gibt ihm daraufhin den Dollar, woraufhin der Streamer wiederum ihm sagt, er könne den Dollar zurück haben und zusätzlich 1000 Dollar, weil er so herzlich und menschlich war. Worauf will ich hier hinaus? Menschen sind im Angesicht der Armut gnadenlos und zynisch. Die Bilder, die wir von Armut haben, führen dazu, dass es Leute gibt, die denken, es sei okay mit Kameras herumzulaufen und Menschen mit weniger ökonomischem Halt für ihr Geld tanzen zu lassen, wie Affen in einem Zirkus. Arme Menschen sollen dankbar sein, sie sollen alles ertragen, alles annehmen und bloß still sein.
NACHTRAG Dagmara/ 26.08.2022
Du schreibst von der „Narrativierung von Armut als das Problem der ‘Anderen’” und dass es „ein bloßes Machtinstrument” sei. Armut wird darüber hinaus von politischen und staatlichen Institutionen aktiv als ein politisches Instrument, als Droh- und Schreckensszenario eingesetzt, um Menschen zu disziplinieren und sie dazu zu bringen, alles zu erdulden, um bloß nicht den Alptraum Armut erleiden zu müssen. Die Journalistin Marija Latković machte mich vor einiger Zeit auf eine weitere Funktion von Armut aufmerksam. Nachdem ich einen Beitrag über Erwerbsarmut verfasst habe, schrieb sie mir in einer Nachricht: „Es geht längst nicht mehr darum, Armut zu bekämpfen. Das Ziel politischer Bemühungen gegen Armut ist deshalb auch nur noch die Mittelschicht, der man mit Armut droht, auch um zu verhindern, dass sie sich mit Armutsbetroffenen solidarisiert.” In einer Gesellschaft, in der vermeintlich „Jeder seines Glückes Schmied” ist und es vermeintlich jede*r schaffen kann, wenn nur hart genug gearbeitet wird, ist eine Solidarisierung mit denen, die angeblich zu ‘dumm’ oder zu ‘faul’ sind, sehr schwierig und – was noch wichtiger ist – politisch nicht gewollt.
Der weite Horizont des Chamäleons
Katharina/ 13.07.2022
Weißt du, was ich dich schon seit Tagen fragen will? Gibt es etwas an dir oder dem, was du tust, dass du liebst, gerade weil du ein Chamäleon bist? Wir haben sehr viel darüber geschrieben, dass dieser Wechsel wehtut, dass die Wachstumsschmerzen vielleicht nie ganz weggehen, gerade weil es im big picture nichts hilft, nach ‘oben’ zu kommen, wenn die Strukturen korrupt sind. Aber gibt es etwas, das du nicht missen wollen würdest? Etwas, das du so nicht hättest, wenn du in einer Mittelklassefamilie oder der sog. Oberschicht aufgewachsen wärst?
Dagmara/ 21.07.2022
Ich kaue seit Tagen auf dieser Frage herum und weiß immer noch nicht, wie ich sie beantworten soll und ob ich sie überhaupt beantworten kann.
Was mir gerade einfällt: Ich glaube, dass es nicht korrekt ist, von einem Klassenwechsel zu sprechen, wir sollten eher von einem Klassenhopping (dein Vergleich vom Seilspringen war zutreffend) sprechen, denn wie wir wissen, verlassen wir unsere Ursprungsklasse nie wirklich und vor allem verlässt sie uns nicht.
Zurück zu deiner Frage: Sie lässt sich schwer beantworten, weil mir eine Vergleichsgröße fehlt. Ich lebe nur dieses eine Leben und weiß nicht, wie ich geworden wäre oder was mir fehlen würde, wenn ich ein ganz anderes Leben gelebt hätte. Was du nicht vergessen darfst, ist, dass mich nicht nur der Klassenwechsel bzw. das Klassenhopping geprägt hat, sondern im großen Maße auch die Erfahrung der Migration. Beide Umstände haben mein Leben maßgeblich bestimmt; wie und welche Facetten meines Lebens und meiner Persönlichkeit durch was geprägt wurden, kann ich nicht genau nachvollziehen. Ich habe das vage Gefühl – ich möchte betonen, dass es ein sehr vages Gefühl ist –, dass die Migration einen größeren Einfluss auf mein Leben hatte als der Klassenwechsel. Vielleicht bilde ich mir das aber auch nur ein. Wahrscheinlicher ist es, dass die Migration, der Klassenwechsel und viele andere Aspekte des Lebens ein Potpourri bilden, einen Cocktail, dessen einzelne Zutaten – in unterschiedlichen Gewichts- oder Volumeneinheiten – untrennbar zu einem Gemisch verbunden sind und gemeinsam eine einzigartige Wirkung entfalten, daher kann ich die Frage ohne den Aspekt der Migration nicht beantworten.
Ich möchte nun endlich versuchen, dir eine halbwegs befriedigende Antwort auf deine Frage zu geben: die Wanderungen zwischen Klassen, Ländern, Sprachen und Kulturen führen zwangsläufig zu einer Horizonterweiterung und damit zu einem inneren Reichtum. Auch, wenn das Folgende etwas kryptisch daherkommt, glaube ich, dass die Dazwischen-Menschen mehr sehen und mehr verstehen als Menschen, die ihr Leben lang alles immer nur aus einer begrenzten Perspektive betrachten. Man kann sich ein breites Wissen anlesen, dieses kann jedoch niemals die gelebte Erfahrung ersetzen. In der Dominanzgesellschaft ist allerdings die Expertise der Erfahrung nicht nur vermeintlich überlegen, es wird geradezu ein Widerspruch zwischen ihnen konstruiert. Etwas, was Rafia Zakaria in ihrem Buch Against White Feminism in Bezug auf den Liberalen Weißen Feminismus feststellt, ließe sich auch auf die Dominanzgesellschaft, bestehend aus Mittel- und Oberschicht, übertragen: Da der Zugang zu Bildungs- und Berufschancen asymmetrisch zugunsten der Mittel- und Oberschicht verteilt ist, „wird dieses Beharren auf Fachwissen zu einer Art Gatekeeping der Macht, das Personen of Color ebenso ausschließt wie Personen der Arbeiterklasse, Einwander*innen und viele andere Gruppen”. Die Erfahrungen (und das kulturelle Kapital) marginalisierter Menschen kleinzureden und geringzuschätzen, ist eine Methode, um die Vorherrschaft der Dominanzgesellschaft zu zementieren und zu erhalten. Wir beide und viele andere haben mit diesem Phänomen bereits Erfahrungen gemacht.
Ich schätze meine Erfahrungen als Dazwischen-Mensch sehr und möchte sie auf keinen Fall missen. Ich möchte allerdings genauso wenig Diskriminierungen, Anpassungsschwierigkeiten, das Gefühl des Ausgeschlossenseins und andere negative Aspekte des Klassenwechsels und der Migration (wie sehr sich diese menschlichen und sozialen Bewegungen doch gleichen) romantisieren – dieser innere Reichtum hat seinen Preis.
Katharina/ 25.07.2022
Eigentlich wollten wir schon lange aufhören zu schreiben, aber deine letzten Zeilen haben mich sehr berührt und ich wollte dir noch kurz sagen, wieso ich dir diese Frage gestellt habe. Ich selbst kann ebenfalls nichts mit der Romantisierung von Klassenhopping, ‘niedriger’ Bildungsherkunft oder Migrationserfahrungen anfangen. Vor allem aber, weil es in meinem Empfinden oft gerade die Leute sind, die von all diesen Dingen keine Ahnung haben, die davon sprechen, dass mehrere Kulturen, mehrere Klassenblickwinkel etc. ja so bereichernd seien. Ich denke dann oft, sie sagen das, um sich gewissermaßen freizukaufen davon, mit Betroffenen ernsthafte Gespräche über ihre Hindernisse zu führen und sich die eigenen Privilegien bewusst zu machen. Aber ganz ablehnen will ich diese Frage nach einer Bereicherung nicht, weil ich selbst weiß, dass es Dinge gibt, die mal ein großes Hindernis waren, ich aber nun schätzen kann. Das wohl griffigste Beispiel ist die Art, wie ich Texte lese. Ob feuilletonistische, literarische oder akademische, ich lese nicht in einem riesigen Kanon – weil ich den zu großen Teilen schlicht nicht kenne. Als ich früher bei Mitstudierenden zuhause war und deren Eltern eine große philosophische Bibliothek hatten, dachte ich oft: „Klar, dass die so gut sind”. Später, als ich frustriert genug war und genug Begriffe hatte, um das System an sich zu kritisieren, das denjenigen mit großer Eltern-Bibliothek einen immensen Vorteil verschafft, habe ich angefangen, meinen in manchen Hinsichten sehr unverstellten Blick auf Literatur zu schätzen. Dass ich keine Hemmungen hatte, Autor*innen zu kritisieren, nur weil sie ein angeblich großes Lebenswerk geschaffen haben, dass es mir total Wurst war, ob ein verurteilter Sexualstraftäter ein gutes Buch geschrieben haben soll und ich nicht mit einer feministischen Lesweise Angst bekommen habe, irgendwelche weißen privilegierten Dudes, die man als Genies abgefeiert hat, während ihre Frau gekocht, geputzt und erzogen hat, könnten ihren Status abgesprochen bekommen. Ich bin aufgrund einer Sozialisation fern von ‘akademischen’ oder ‘gut-betuchten’ Kreisen unbeeindruckt von leeren Hüllen und großen Namen; und das finde ich gut.
Vielleicht noch eine Sache – nämlich zu dem vermeintlichen Widerspruch von Expertise und Erfahrung. Vor kurzem ging wieder das Thema des White Feminism durch die Literatur-Bubble, weil eine reichweitenstarke Autorin in einem Interview internalisierte Rassismen geäußert hat – dann wurde sich online gestritten, weil das nicht alle so gesehen haben und dann weiter gestritten, weil die, die es nicht so gesehen haben, den Aktivist*innen of color nicht zuhören wollten, die gesagt haben: Doch, das ist Rassismus. Der Rahmen der Rassismus-Äußerungen bestand unter anderem in der Behauptung der Autorin, dass wir aktuell zu viel Erfahrungs-Journalismus hätten, und die Schilderung von Diskriminierung noch lange nicht mit einer faktenbasierten Recherche mithalten könne. Was mich unendlich daran aufgeregt hat, ist die entweder-oder Argumentation dieser Aussage. Sie vergisst, wie viele Schreibende es gibt, die beides haben: Erinnerung und Ausbildung; wie viele Journalist*innen es gibt, die halt kein großes Interview in einem Magazin mit über 20.000 Followern in den sozialen Medien bekommen. Die Aussage von gemeinter Autorin ist also nicht nur ignorant, sondern geradezu Existenz-negierend; negierend, dass es Menschen gibt, die beides tun – erzählen und einordnen. Dabei liegt sie dem alten Irrtum auf, es gebe Journalismus, der komplett selbstvergessen, rein faktisch funktioniert. Aber auch diejenigen, die die Erfahrung nicht haben und berichten, berichten ja aus ihrer Erfahrung – aus der Sicht von Privilegien, die eine mindestens so vorbelastete Weltsicht reproduziert wie diejenigen, die sie kritisieren. Ich habe erst vor ein paar Tagen wieder einen Text auf der Webseite einer großen Wochenzeitung entdeckt, den ich vor einigen Wochen dort gepitcht habe und der nun von einer bio-deutschen Mittelklasslerin umgesetzt wurde. Es geht nicht um Expertise bei diesen Diskussionen – es geht darum, wer mit am Tisch sitzen soll. Die Wütenden sollen es nicht.
Dagmara/ 26.07.2022
Nein, die Wütenden sollen es nicht sein. Als eine der Wütenden möchte ich auch gar nicht am besagten Tisch sitzen, ich möchte ihn vielmehr zerschlagen.
Wir schreiben und schreiben über Armut und Klasse und ich denke seit längerem, wann kommen wir, wann komme ich endlich zum Kern des Themas? Aber was genau ist der Kern? Die Tiefe des Themas erschlägt mich. Ich habe den Eindruck, dass ich permanent an der Oberfläche kratze, jedoch nicht zum Wesentlichen komme. Ich erwähnte bereits, dass ich über meine Herkunft noch nie auf diese Weise nachdenken musste und nun für Gefühle, Erinnerungen, Gefühlserinnerungen und vor allem für Bilder in meinen Kopf Worte finden muss, die es zum Teil (noch) nicht gibt oder die ich nicht kenne. Was ich weiß, ist, dass Armut ein Spektrum ist und dass es nicht die eine Armuts- oder Klassengeschichte gibt, es gibt nicht hundert oder tausend, sondern Millionen Geschichten, die viel zu selten erzählt werden. Vermutlich, weil sie zu Wenige hören wollen und zu Wenige Möglichkeiten haben, ihre Geschichte zu erzählen.
„Obwohl ich mich anstrengte, eine Ausbildung zu bekommen, die es mir ermöglichte die Reihen der Armen und der Arbeiterklasse hinter mir zu lassen, war ich in dieser Welt doch mehr zuhause als in der Welt, in der ich nun tatsächlich lebte. Meine politische Solidarität und Treue gehörte den Arbeiter*innen.”
bell hooks „Die Bedeutung von Klasse”