Liebe Mama,

von Maria Babusch

Im Auto könne man gut reden, hab ich mal gelesen. Es läge an der Bewegung der Landschaft, die auch die Gedanken in Bewegung bringt. Vielleicht auch, denke ich, weil man sich nicht die ganze Zeit in die Augen sehen muss. Weil man zur Straße reden kann. Meine Mutter und ich sind immer viel Auto gefahren. 

Wir saßen im Auto, als wir über Deinen Vater redeten. Darüber, dass er auch so viel Auto fuhr. 

Ist überall hingefahren, wo was los war. Aber auch: Einfach losgefahren, spazieren gefahren. Für Stunden. 

Er arbeitete auf dem Bau. Er lebte im Winter vom Schlechtwettergeld. Er hat Dich ins Auto gepackt. Daran hast du dich erinnert, als wir durch das Industriegebiet am Hafen fuhren. Da war ein Betriebstor, an das Du Dich erinnert hast. Ich sprach mir Deine Sätze nach, im Auto, wollte versuchen sie zu behalten. Sie und die Bilder, die sie evozierten.

Das war ja die Zeit der Arbeitskämpfe. Krupp, Hoesch, Thyssen. Und er kannte da viele. Da standen wir vor dem Betriebstor. Eine Streikbude hatten sie aufgebaut. Kaffee und Schnittchen. 

Ich stellte mir Dich vor, ein kleines Mädchen zwischen Männern, denen heißer Atem aus den Gesichtern stieg. 

Wir saßen im Auto, als wir über Fotos redeten. Du sagtest, Du hast eine Kiste mit Fotos von früher, sogar ein Foto mit Alice Schwarzer. 

Die habe ich noch nie gesehen. 

Nein, das sind ja auch meine Fotos.


Ich weiß schon, sagte ich, warum ich die nicht sehen soll. Weil Du auf jedem Bild eine Kippe in der einen und eine Pulle in der anderen Hand hast. 

Wir lachten, dann fragte ich mich, warum ich das gesagt hatte. Dann fragte ich mich, ob ich Dich verletzt hatte, dann fragte ich mich, wofür du dich schämst. 

Obwohl es deinen Vater getötet hat, machen wir viele Witze übers Saufen. Über Bildung machen wir keine Witze. Über Bildung erzähltest Du, dass die anderen Frauen auf dem  Fußballplatz dir gesagt hatten, jetzt reiche es mit der Schule. Da warst du dreizehn. 

Manchmal, wenn ich in deiner Wohnung bin – die auch mal meine war, aber nicht für lang, wir sind umgezogen, zurück in das Haus deiner Eltern, und kurz danach bin ich weg von Zuhause und du hattest die obere Etage für dich – manchmal schaue ich auf die Bilder, die du aufgehängt hast. Sehe mir an, wie du ein kleines Tischchen im Wohnzimmer platziert hast, wie die Vasen darauf angerichtet sind, als hätte ich all das noch nie gesehen. Frage mich plötzlich, wie du deine Entscheidungen triffst, woher du weißt, was dir gefällt.  Manchmal denke ich, mir fehlt die Einsicht, dass ich gar nichts weiß über die Einrichtung deiner Räumlichkeiten.  

Wir saßen im Auto als wir über Datingshows redeten. Ich sagte, dass ich “Princess Charming” schaute. Du sagtest, du wolltest das Geld zurück, das du in meine Bildung  investiert hattest. Ich sagte, du bist second wave. Ich versuchte, so viel Abwertung in die Worte zu legen, wie es ging. Ich wollte Distanz schaffen, aber wie sollte mir das gelingen, wenn wir im selben Auto saßen? Jetzt spüre ich die Verletzung, ich hatte dich getroffen, ich hatte einen feministischen Diskurs in unser Auto gezogen und zu einem Streit zwischen einer Mutter und ihrer Tochter gemacht. Ich hörte natürlich genau auf diese Momente deiner Verletzung, auch aus Angst, was sie hervorbringen könnten, Angst vor der persönlich-politischen Ablehnung meiner selbst, meines Transseins. Es war auch Deine Stimme in mir, die zu lange  gesagt hat, das kann nicht sein, Du bist nicht so. Aber, liebe Mama, ich sehe jetzt, dass wir Zusammenhalt im Nebeneinander brauchen, ich will diesen Moment unseres Zusammenhalts suchen. 

Wir saßen nicht im Auto, wir waren auf dem Friedhof, als wir über Klasse redeten. Wir standen vor dem Grab deines Vaters und ich erzählte Dir von den „Feinen Unterschieden“. Und etwas ging auf in dir, deine Augen weiteten sich, wir standen hier vor der im Boden eingelassenen Grabplatte, die allein der Rasen schon fast verdeckte, in der hintersten Ecke des Friedhofs. So hat er es gewollt, so schlicht wie möglich, war der einzige Kommentar zu diesem Grab. Und Du sagtest, es war keine neue Geschichte, nur anders erzählt, wie er, wie Dein Vater, nicht ins Restaurant wollte, wie er es auch da nur in der hintersten Ecke aushielt. Du schienst für Dich etwas verstanden zu haben, das hat mich gefreut. Und es hat mich noch mehr gefreut, wenn wir das Verstehen gemeinsam tun konnten. 

Vielleicht liegt es hier begraben. Deine Biographie ließe sich erzählen als die einer trans Klasse. Denn es ist ja kein Klassenwechsel, das ist nur Gerede. Du verlässt langsam die Körper, die Sprache der einen Klasse, du legst sie kaum merklich ab, sie werden abgelöst, neue Körperlichkeiten, neue Stimmfarben nehmen ihren Platz ein und sie färben auf dich ab, du redest nicht wie deine Eltern, dein Körper hat andere Prägungen erhalten als ihre. Das ist kein Klassenwechsel. Genau wie es nie ein  Geschlechtswechsel war. Es ist Transition. Und vielleicht können  wir uns so an uns erinnern, wie wir im Auto waren und auf dem Friedhof. Eine trans Klasse und ein trans Geschlecht.

Maria Babusch (*1996) ist Autorin und Theatermacherin. Als Teil des Kollektivs Operation Memory entwickelte und inszenierte sie in der Spielzeit 2021/22 die Produktion „Cherchez la FemMe“ am Schauspiel Dortmund. Sie war 2021 zum auftakt festival für szenische texte eingeladen. Prosa- und Dramentexte von Maria erschienen außerdem im Glitter, der Kollektiven Literaturzeitschrift Würzburg sowie in der perspektive. Sie wohnt in der Dortmunder Nordstadt, wo sie als Teil der tonbande e.V. seit 2022 den Rekorder mitbetreibt.