War es Liebe für ihn oder für die Norm?

von Kerstin Thost


- Be careful: this written reflection may contain society's standards. -

Illustration von Franzi Schneider

Als wir uns getroffen haben, war ich schon mehrere Jahre auf dem Trip, den ich erst im Nachhinein als einen erkenne. Ich stresse mich - wie man das als “normales Mädchen” mit ständigen “Crushes”, die ich mich nie traue, anzusprechen, eben so macht. Weil in dieser Idealwelt soll die Initiative ja vom Mann und nicht der Frau kommen. Für die ich aber seitenlange Liebesgedichte schreibe und als ich die Windpocken habe, träume ich, dass ER erst erkennt, dass er mich immer geliebt hat, als ich daran verstorben bin. Jane Austen, Outlander und Twilight haben mir das Gefühl gegeben, ich wüsste mit vierzehn bereits, worauf es bei der wahren Liebe ankommt. 

Die anderen Mädels in meiner Klasse und ich machen uns gegenseitig so fertig, dass wir so sehr an uns zweifeln, dass wir uns nichts dringender wünschen, als männliche Bestätigung. Und zwar nicht in Gestalt der creepy Männer, die uns schon beginnen, auf der Straße hinterher zu pfeifen, sondern in Form des ersten “Freundes”. Was wir genau fühlen oder zusammen machen könnten ist eigentlich gar nicht wichtig, sondern nur, dass ich zu den anderen sagen kann: „Ich habe schon und ihr noch nicht.”

Gerade in dem Moment, in dem ich mich eigentlich dazu entschlossen habe, dass ich in meinem Leben noch etwas anderes sein will als boy-crazy, passiert das, was ich damals gar nicht verstehen konnte. Es mag mich mal jemand. Sofort geht der scheinbar vorinstallierte Liebesfilm in meinem Kopf los, ich sehe die Welt durch eine rosarote Brille und alle meine Gedanken drehen sich um dich.

Klar, dein Lächeln überzeugt mich von Minute eins an, aber sonst bin ich mir nicht sicher. Beratungen von Dr. Sommer, Disney und Hollywood hören sich alle ähnlich an: um füreinander attraktiv zu sein, müssen Frauen sich bereits bei der Partnersuche für die Männer als möglichst attraktiv inszenieren und an die patriarchalen Sicherheitsstandards anpassen. Denn es ist eine Ehre, von einem Mann ausge- oder erwählt zu werden. Ja, eine Partnerschaft macht aus einem Mädchen erst richtig eine Frau, weil sie nur in der Zweierbeziehung zu einem Mann die passive, emotionale und gebende Rolle erfüllen kann, zu der sie biologisch prädisponiert ist. Einmal gewollt, verändert sich das ganze Leben und wenn es sein muss auch die Persönlichkeit für immer, und um jeden Preis gilt es diese Partner*innenschaft zu beschützen, weil nur sie dem Leben Sinn verleihen kann. 

Heute ist mir klar, dass sich diese Drehbücher deshalb so sehr ähneln, weil sie einem einheitlichen Narrativ der romantischen Liebe folgen. Dieses vergleichen die Sozialwissenschaftler*innen Stefan Beher und Barbara Kuchler mit einer “irdischen Religion”, weil romantische Liebe kollektiv überhöht und verklärt wird. Und zu was raten mir meine Freund*innen, die natürlich von derselben Hollywood-Scheiße beeinflusst sind wie ich selbst? “Es ist ganz normal, als Frau nicht zu initiieren. Es kann doch gar nicht schaden, es mal auszuprobieren. Lass dich von deiner Skepsis jetzt bloß nicht irritieren! Wenn er dich wirklich will, wirst du dich schon arrangieren.” Und bei diesem Gefühl, rein zu passen und das zu tun, was alle von mir erwarten, werde ich weich und gebe dir nach. Ich gebe dem Patriarchat nach.

Was andere über uns beide sagen, scheint mich dann nicht mehr zu interessieren. Wie sehr mich der Neid meiner Freund*innen als Stellvertreter*innen für das Patriarchat für diese “junge Liebe” beeinflusst hat, verstehe ich erst Jahre später. „Wenn ihr euch je trennt, dann glaube ich endgültig nicht mehr an die wahre Liebe”, sagt eine Freundin zu mir. Dieser Satz verfolgt mich bis in meine Träume. Der Druck auf meinen Schultern erschien mir unerträglich, weil auf uns beiden alle Erwartungen auf ein “gutes Leben” eines ganzen Abschlussjahrgangs unserer Schule lagen. Auch Kritik an unserer Beziehung machte mich nur noch sturer: ich nahm sie als Motivation dafür, uns als tragisches Liebespaar wie Romeo und Julia zu sehen, die es den anderen beweisen können, dass wir es auch trotz möglicher Zweifel schaffen können. Denn der “Wahnsinn zu zweit” muss alle Grenzen überwinden und fordert Bedingungslosigkeit: Wir gegen die ganze Welt. Wenn so viel Erwartung und Druck auf uns liegt und ernst gemeinte Kritik von Menschen, die mich gut kennen, direkt umgekehrt werden soll - wie sollte ich dann je darauf kommen, den Status Quo zu hinterfragen?

Mich interessieren nur noch deine Worte der Anerkennung. Er zeigt mir, dass ich auch dem entsprechen kann, was scheinbar das Wichtigste für mich als Frau ist: Ich kann in den Augen eines Mannes attraktiv sein. „When all you wanted was to be wanted, you wish you could go back and tell yourself what you know now.” Männliche Anerkennung macht meinen Wert aus und kompensiert meinen mangelnden Selbstwert, bis ich vom Begriff Zwangsheterosexualität höre, welchen die lesbische Theoretikerin Adrienne Rich prägte. Sie schreibt von dem Phänomen, dass auch manche queeren Frauen, teilweise nur von der männlichen Anerkennung in einen Zustand ähnlich zur sexuellen Erregung kommen können, nur weil sie so sehr internalisiert haben, dass das die Art und Weise ist, wie sie in einer heteronormativen Welt zu begehren haben. Vielleicht finde ich unter anderem wegen dieser umfassenden patriarchalen Internalisierung erst nach Jahren in unserer Beziehung und lange nach meiner Pubertät heraus, dass ich nicht nur Männer begehre. Aber ich bin eben süchtig nach dieser Anerkennung und du magst eben das Gefühl, so sehr gebraucht zu werden. 

Aber das reicht nicht für ein gemeinsames Hobby aus. Hätte ich mal auf meine Eltern gehört, die immer wussten, dass uns das zum Verhängnis werden würde. Wir haben uns nicht genügend Mühe gegeben, Gemeinsamkeiten zu finden. Wir wollten einfach, dass da jemand bedingungslos an unserer Seite steht. Eine Sache weniger, um die man sich in der verwirrenden Welt Gedanken machen muss. 

Während wir zusammen sind, ziehe ich mich systematisch zurück, weil, wenn ich “zu viele” Leute treffen würden, würde ich vielleicht merken, dass es da draußen Menschen gibt, die besser zu mir passen. Oder Menschen, die mich durch ihre Lebensentwürfe inspirieren, meinen eigenen Weg zu gehen. Ich sabotiere mich selbst, damit ich nicht “auf die falschen Gedanken komme”.

Und selbst, als ich schon lange an uns zweifle, sind die Zweifel wie per Knopfdruck weggewischt, immer, wenn wir uns sehen. Ich bin dann nicht mehr ich selbst als Individuum, sondern das Teil eines heterosexuellen Paares, das ich so oft in den Medien gesehen habe, dass ich es perfekt nachspielen kann, ohne es wirklich zu fühlen. So falle ich immer in alte Gewohnheiten zurück. Wir werden zur einstudierten Performance, zu der natürlich auch eine klare und Jahrhunderte alte Rollenverteilung gehört: Ist es nicht genug, dass ich weiß, dass du immer da sein wirst? Dass du schnell einen guten Job gelandet hast und mich als verrückte Künstler*in supporten könntest, wenn es wirklich mal darauf ankäme? Das Bild, das wir nach außen zeichnen, hat mich so lange erfüllt. Dazu gehört es, dass du mich zu beschützt, meine Technik bedienst und meine Sätze beendest. Obwohl du meine wahre Stärke nicht kennst, mir die Technik auch so gut erklären könntest, dass ich mir dann selbst helfen kann, und überhaupt nicht weißt, was ich eigentlich sagen will. Du kannst meine Sätze nicht komplett machen.

Aber ich habe das Gefühl, ich habe gar nichts besseres als unsere schon lange ausgewaschenen Ideale verdient und sollte “einfach endlich” mit dem zufrieden sein, was wir haben und “mich nicht so haben”. Nicht so kompliziert, nicht so laut, nicht zu que(e)r zur Gesellschaft sein, sondern an dem manchmal scheinbar einzigen festhalten, was mich zum normalen und funktionierenden Teil unserer Gesellschaft macht. Denn: vielleicht bekomme ich diese scheinbar lebenswichtige Anerkennung ja nie wieder! Vielleicht ist er die einzige Person, die mich je wollen wird. Und wenn ich nach dir niemanden mehr finde, dann bin ich als Frau gescheitert. Werde zum Schlimmsten, was ich in den Augen des Patriarchats werden kann: zur eisernen Alleinstehenden, zur einsamen Cat-Lady, zur gruseligen alten Hexe. Eine Frau, die keinen Mann braucht, stellt das ganze System in Frage.

Irgendwann kann ich das System dahinter nicht nur in feministischen Texten sehen, sondern ich muss die Begriffe auch auf mich anwenden. Denn ich kann die Parallelen nicht leugnen. Aber das Hinterfragen ist so schmerzhaft! Besonders, wenn es sich nicht um abstrakte Statistiken handelt. Besonders, wenn man die Ratschläge für mehr Selbstachtung und weniger Selbstverletzung nicht geliebten Menschen im Außen gibt, sondern selbst nach den eigenen politischen Grundsätzen handeln muss. Ich gestehe mir ein, dass ich mich selbst jeden einzelnen Tag verletzte - auch, wenn du es wahrscheinlich gar nicht bemerkt hast: Ich mache mich klein, sodass ich nicht über uns hinauswachse. Ich verbiege und verrenke mich, sodass ich die Last der Erwartungen stemmen kann. Ich verbiete mir, zu träumen und meine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und ihnen zu folgen. “I love myself most”, sage ich mir, weil auf Englisch irgendwie alles besser und empowernder klingt, über ein halbes Jahr wie ein Mantra vor. Aber ich muss es trotzdem riskieren, mich selbst zu entwickeln. Mir selbst zu verklickern, dass ich selbst liebenswert und ich genug bin, egal, was der Male Gaze und das internalisierte Patriarchat mir anderes sagen wollen.

Ich behaupte nicht, dass die gesellschaftlichen Normen der einzige Grund waren, wieso ich dich je wollte. Aber das Ding ist: ich weiß es nicht mehr. Hier will ich auch niemandem die Schuld geben, weder dir, noch mir, noch der dritten Partei in unserem Bett: dem Patriarchat. Es hat mir nur erzählt, das Beste, was ich machen kann, ist, mich “zusammen zu reißen” und die Beziehung noch weiter zu führen. Ein bisschen geht da noch, es wird schon wieder. Das rede ich mir selbst innerlich ein und bekomme es von außen stetig gespiegelt: „Phasen, in denen man zweifelt, sind ganz normal.”

Aber nicht in unserem Fall. Nach gefühlten Jahrzehnten fasse ich den Mut und erzähle dir vom gefühlten Übermaß an künstlich gehypten Gefühlen, Verliebtheit in ein Ideal und von der Diskrepanz zu unserer Realität. Und du sagst, es geht dir eigentlich ganz genauso wie mir. Also weinen wir, weil diese plötzliche Endgültigkeit uns desillusioniert und wir nicht wissen, was jetzt. Aber wir lachen auch während unserer Trennung, weil es so absurd ist, dass wir so lange etwas versucht haben, mit aller Kraft versucht haben etwas zu sein, was wir nicht sind. Aber wir lachen, weil wir uns endlich frei fühlen, frei heraus zu finden, wer wir eigentlich als Menschen sind. Denn niemand kann in diesem einschränkenden System der Kategorien und Normen unbeschwert die Person kennenlernen, die eigentlich in einem selbst steckt. Praktisch alle Medien, Gespräche, Begegnungen zeigen uns ein Bild, an das sowieso niemand heran kommt. Nicht als Individuum und erst recht nicht als zwei Individuen zusammen.

Wir brauchen einen klaren Cut, einen Reset-Button, meinetwegen auch einen Blank Space, in den ich nur meinen eigenen Namen eintragen will. Um endlich Antworten zu finden, die ich bis hierhin immer nur von der Gesellschaft abgeschrieben habe. 

¹ Beher, Stefan/ Kuchler, Barbara (2014): Einleitung: Soziologische Theorien der Liebe. In: Soziologie der Liebe. Romantische Beziehungen in theoretischer Perspektive. Berlin: Suhrkamp.

² Taylor Swift: Fearless

³ Rich, Adrienne (1980): Compulsory Heterosexuality and Lesbian Existence. In: Signs, vol. 5, no. 4. 631–60. JSTOR, http://www.jstor.org/stable/3173834. Zugriff am 22. Juni 2022.

⁴ Mulvey, Laura (1975): Visual pleasure and narrative cinema. In: Screen 16,3, 6-18.


// Kerstin Thost (Autorin) //

Kerstin (sie/they), ist Kulturwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Gender Studies. Sie studiert derzeit Politikwissenschaften in München und macht gerade eine journalistische Ausbildung beim Münchner Lehrradiosender M94,5 und beim Münchner buuh!-Magazin. Kerstin engagiert sich in verschiedenen aktivistischen Gruppen für intersektionale Gerechtigkeit - unter anderem beim Slutwalk, einer globalen feministischen Bewegung gegen victim blaming, und digital bei "Yoga ist politisch". Mehr von Kerstin gibt's unter empowern_statt_auspowern und im gleichnamigen Podcast, weil sie immer das letzte Wort haben muss.


// Franzi Schneider (Illustratorin) //

Franzi arbeitet als Designerin in Kiel und mach in ihrer Freizeit digitale comic art. Hin und wieder illustriert sie auch Gedichte und Texte, wie für die zarte Horizontale. Mehr Bilder und ihren Kontakt findet ihr bei Instagram @illu_frizzle und auf Behance.