Männerliteratur 

von Toni Quell

 

Das MacBook neben der Couch spielt Videos im Autoplay, die nur für den Inkognito-Modus bestimmt sind. Als sein Wecker um 05:45 Uhr klingelt, ist er schon wach – oder noch. Morgens kann K. nie sagen, wie lange oder ob er überhaupt geschlafen hat, er fühlt sich immer gleich beschissen. Eigentlich ist er zu jung, um sich so alt zu fühlen, aber auch viel zu alt, um noch jung zu sein. 

Vielleicht verhält es sich mit Verlagschefs ähnlich wie mit Politikern, und sie altern überdurchschnittlich schnell. Auf X hat K. neulich zwei Bilder von Robert Habeck gesehen. Das eine war mit 2020 untertitelt, daneben das andere mit der Bildunterschrift 2025. Im Thread hieß es: „Dieser Mann ist in fünf Jahren zwanzig Jahre gealtert. Da soll nochmal jemand sagen, dass Habeck im Amt nichts erreicht hat.“ K. lag auf der Couch und lachte so schallend, dass die Chipskrümel auf seinem Hemd vibrierten – bis er in den Kommentaren „So ne peinlo Alteleutewitze hahah, verpisst euch zurück auf facebook wo ihr hergekommen seid“ las und verstummte. In der Spiegelung des gläsernen Couchtischs betrachtete er sein untersetztes Gesicht und die Wölbungen seines Hemdes dort, wo die Knöpfe es zusammenhalten. Er untersuchte seine fettige Stirn und die roten Backen. Oh je, dachte er, die grüne Flachzange ist nicht der einzige, der zu schnell altert. 

Im Badezimmer rieselt eine neue Schicht Bartstoppeln in eins der versifften Waschbecken. Dass Bartstoppeln nicht von allein verschwinden, fand K. erst kürzlich heraus. 25 silberne Jahre lang wusste er nicht, dass seine Frau sie jeden Mittag wegspülte, nachdem er das Haus verlassen hatte. Seitdem sie es nicht mehr tut, kleben die grauen Dinger an der Keramik wie feuchtes Konfetti, wenn die Party vorbei ist. Die Bremsspuren in der Kloschüssel erinnern an die TK-Pizza von gestern. Beim Zähneputzen fängt K. an, zu husten und zu würgen – die Angewohnheit, die seine Frau vielleicht sogar am meisten an ihm hasst. 

Kalter Kaffee, Schnittwurst und Feuilleton zum Frühstück, danach weiter zur Arbeit. Er ahnt, dass im Verlag ein Scheißtag auf ihn wartet, der geschimmelte Kaffeesatz in der Spüle liest sich nicht gut. An so einem Morgen braucht es ein Zigarettchen, rechtfertigt sich K. Beim Rauchen hat er seine Frau im Ohr, die will, dass er sich mehr um sich kümmert, sonst gehe sie. Das musste jetzt schon ein paar Monate her sein. Es war nämlich kurz bevor sie gegangen war. 

*  

Während sich um ihn herum immer alle krampfhaft verändern wollen, bleibt K.s Büro angenehm gleich. In dem großräumigen, aber vollgestopften Zimmer steht wortwörtlich die Zeit still, seit die ziffernlose Uhr über der Tür keinen Saft mehr hat. Das stört K. nicht, nichts an seinem geliebten Büro stört ihn. Hier oben im siebten Stock kann er über alles hinwegsehen.

Der durchgewetzte Bürostuhl ächzt unter dem Gewicht seines Chefs, genauso wie K. selbst, der jetzt versucht, die Anstrengung des Treppensteigens aus sich raus zu atmen. Sein Blut rauscht ihm durch die Ohren. Als hätte jemand über die Jahre Stufen dazugebaut, grübelt er.

Jemand klopft zaghaft an der Bürotür, aber nichts passiert. Eine Schweißperle plumpst von K.s Kinn in Richtung Bauch. Nach einer so langen Pause, dass man meinen könnte, die Person habe es sich anders überlegt, klopft es erneut.  

„Mein Gott, kommen Sie doch einfach rein.“  

Die Tür geht langsam auf. K. bildet sich ein, den Luftaustausch beobachten zu können, den der vertraute Duft von altem Papier, kaltem Rauch und abgewetzten Ledersesseln jetzt mit der Außenwelt vollzieht. 

„Sparen Sie sich die Morsezeichen, kommen Sie einfach rein, wenn Sie was zu sagen haben.“ 

„Guten Morgen Herr K.“  

"Der Herr Lektoratsleitung, das habe ich mir doch fast gedacht. Das haben Sie hier abgelegt, nehme ich an?“  

K. wedelt mit einem Schnellhefter in der Luft herum, der gerade noch auf seinem Schreibtisch lag.  

„Ich habe diese Woche keine Zeit für Ihr Ringelpiez mit Anfassen. Wenn Sie mir das Manuskript noch einmal vorlegen, beantworten Sie bald Leserbriefe.“ 

„Ich wollte nur sichergehen, dass Sie es zumindest einmal lesen werden, Herr K. Es ist wirklich gut.“  

Der geprügelte Hund, der sich als Lektoratsleitung ausgibt, schlurft aus dem Büro und zieht hinter sich die Tür zu. Beinahe lautlos, mit gedrückter Klinke. Nicht selten fragt sich K., ob der geprügelte Hund wohl der schmächtigste Mann der Welt ist oder ob es irgendwo noch einen Schmalspurigeren gibt. Im Gespräch tut K. manchmal so als wäre der geprügelte Hund verschwunden, wenn dieser den Fehler macht, seitlich zu seinem Chef zu stehen. Dann schaut K. sich fragend um, in gespieltem Erstaunen: Wo denn der Herr Lektoratsleitung plötzlich hin sei – mitten im Satz? Das sei ja seltsam. Die Lektoratsleitung findet das natürlich gar nicht witzig. Im schmalsten Körper der Welt ist ja auch wenig Platz für Humor.  

K. manövrierte das Manuskript schon mehrere Male in den Papiermüll. Der Titel allein reicht, um ihm die Laune zu verderben. Männerliteratur? Irgendwo ist Schluss! Was soll er denn noch alles machen? Er hält sich an die Quoten, nicht nur im Verlag selbst, sondern auch beim Veröffentlichen, beim Lesen und beim Rezensieren. Für die Scheißquote hat er sogar den ITler beauftragt, im System eine Statistik anzulegen. Dass auch alle im Haus schön sehen können, was Sache ist. Fifty Fifty, das war auch das Erste, woran er dachte, als er in der Kaffeeküche seinen Geburtstagskuchen wegfraß. 55. Alles Gute zur Parität, mein Lieber.  

Jetzt liegt das Manuskript wieder auf seinem Schreibtisch. Das Papier um die Heftnadeln ist weich, es muss schon mehrmals gelesen worden sein. Sicher auch von der Dicken im Gesellschaftslektorat, das erklärt die Fettfingerdatschen auf der Klarsichtfolie. Allein, um Frau S. bei der nächsten Gelegenheit widersprechen zu können, liest er es nun doch. Er überfliegt den Einstieg durch seine rahmenlose Gleitsichtbrille. Dann blättert K. wieder zu und liest die ausgedruckte E-Mail der Autorin, die der geprügelte Hund dazu geheftet hat.  

Sehr geehrter Herr K.,  

Saß beim Schreiben schon einmal jemand neben Ihnen, der so laut sprach, dass Ihre eigene Stimme verstummte? Haben Sie je versucht, Worte auf ein Blatt zu bringen, das Ihnen immer wieder aus den Händen gerissen wurde? 

Waren Sie beim Schreiben schon einmal so müde, dass sich der Kontrast zwischen dem Schwarz der Schrift und dem Weiß des Papiers zu einem Farbton mischte? So müde, dass Sie glaubten, die Buchstaben fielen von der Tastatur?  

Wenn Sie all das nicht kennen, dann sollten Sie mein Manuskript lesen.  

– A.  

Auch noch frech. Und was für eine Theatralik! Sein iPhone klingelt und erlöst ihn, bevor er sich aufregen kann. Der Wecker um 11:27 Uhr ist genau so gestellt, dass er ausreichend Zeit an der Essensausgabe hat, bevor sich um zwölf die langen Schlangen bilden, und trotzdem der Dicken nicht allein auf dem Flur begegnet. 

*  

In der Kantine sitzen der geprügelte Hund, die Dicke und noch zwei andere, deren Namen er sich einfach nicht merken kann. Jetzt hören alle vier abrupt auf zu reden. K. nickt im Vorbeigehen, holt ein voll beladenes Tablett, kommt zurück und quetscht sich zur Belegschaft. Allen legt er einen in Plastik verpackten Lotus-Keks neben den Teller. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft, denkt er. Die anderen grinsen mit zusammengepressten Lippen. Sie lassen sich nicht anmerken, ob sie den Mund oder die Schnauze voll haben.  

„Wissen Sie, was ich an dem Text so toll finde? Sie sagt kaum etwas zum eigentlichen Thema. Nicht einmal fällt das Wort „Frau“. Es geht nur ums Schreiben. Und trotzdem ist alles glasklar. Der Text schreit – aber auf eine ganz freundliche Art. Oder der Text ist ganz freundlich, aber schreit einen dabei auch an. Wie mensch’s nimmt.“  

Das Geschwafel der Dicken wird von der nickenden Zustimmung der anderen begleitet, also sagt K. nichts und gibt vor, eine unbekannte Gemüseart in seiner Kartoffelsuppe zu identifizieren.  

„Und ist es nicht Wahnsinn, wie die Frau im Text gleichzeitig jede Frau ist? Sie ist nicht die Mutter oder die Schriftstellerin. Oder die Workaholic, die Fürsorgliche, die Akademikerin, die Arbeiterin, nicht die weiße oder Schwarze Frau, weder queer noch straight. Sie ist jede Frau auf einmal.“  

Weil K. befürchtet, dass ihr niemand außer ihm widersprechen wird, schaltet er sich ein. 

„Das Einzige, was in dem Text schreit, ist der grauenhaft unterentwickelte Ich-Erzähler.“  

Ein wissendes Schmunzeln geht durch die Runde, das K. mit Anerkennung verwechselt. Mit einem falschen Gefühl von Bestärkung und einem vollen Mund wendet er sich der Dicken zu. Die Haut um seinen Hals herum bildet rote Flecken und quillt über den steifen Kragen seines Hemdes. Die 45-Grad-Drehung zur Linken gelingt ihm nicht vollständig, also bewegt er lieber seine Augen statt des Oberkörpers und schielt umständlich über die Gleitsicht hinweg.  

„Wenn eine junge Frau aus der Sicht eines Mannes schreiben möchte, der doppelt so alt ist – ist ja okay, da habe ich ja gar nichts gegen einzuwenden – aber dann muss sie das schon richtig machen. So funktioniert die Geschichte nicht.“  

„Ich finde die Erzählerin gar nicht unterent-“  

„Das Machtgehabe im Verlag? Das Nicht-Ausreden-Lassen? Ich bitte Sie, dieses vollkommen überzogene Chauvi-Getue des Chefs, das ist doch Kitsch. Es ist 2025. Das Buch hätte ich vielleicht vor fünf Jahren gebracht, aber da ist die Autor IN noch im großen Teich geschwommen. Ich werde ihr schreiben, dass es dem Erzähler an Lebenserfahrung fehlt. Sie schreibt von Dingen, von denen sie keine Ahnung hat und das merkt man.“  

„Aber Herr K., das ist doch immer so. Sie verwechseln doch nicht etwa die Erzählperson mit der Autorin? Das ist doch wirklich ein Fehler für Anfänger innen. Es handelt sich um Prosa, Herr K., da geht es immer um Dinge, von denen niemensch eine Ahnung hat. Wenn Sie etwas Wahres hören wollen, dann lesen Sie die Zeitung. Und wenn Sie eine Geschichte hören wollen, dann  

Herrgott, holt die auch mal Luft? Wieso Frau S. so bedingungslos mit dem Text sympathisiert, ist K. klar. Die Dicke weiß ganz genau, dass es das nächste Mal ihre traurige Existenz sein könnte, die auf diese Form der blinden Unterstützung angewiesen ist. Immerhin schreibt sie selbst an einem Roman – das behauptet sie zumindest schon jahrelang. Eigentlich seitdem sie im Verlag angefangen hat. Immer, wenn K. sie nach dem Schreibprojekt fragte, entgegnete die Dicke, sie würde neben der Arbeit und der Pflege ihres Vaters nicht dazu kommen. Dabei arbeitet sie nur 30 Stunden im Verlag und auch nachdem ihr Alter den Abgang gemacht hatte, zeigte sie nie etwas vor. Deswegen hörte K. irgendwann auf, nachzufragen.  

lesen Sie einen Roman.“ K. hatte beinahe vergessen, dass Frau S. noch spricht. „Ich habe darüber was Tolles von Zadie Smith gelesen. Das ‚Ich, das ich nicht bin‘. Also das Ich, das unsere Bewerberin nicht ist. Es geht genau darum: Die Erzählperson ist nie der Autor oder die Autorin, egal wie nahe oder fern der Vergleich liegt. Nur die Leser innen lieben es, das zu vergessen.“  

K. fragt nach dem Salz, das er hektisch vom geprügelten Hund gereicht bekommt, damit seine Lieblingskollegin weiterreden kann.  

„Diese Frau soll Ihrer Meinung nach also lieber nicht aus der Sicht des Verlagschefs schreiben? Dann haben Sie sicher auch ein Problem mit Fontanes Effie Briest und Schillers Maria Stuart? Fehlte denen auch die Lebenserfahrung? Um das Innenleben der Protagonistinnen erzählerisch auszuleuchten? Jetzt, wo Sie es sagen, stimmt. Deswegen hat Schiller nie den Durchbruch geschafft…“  

„Der Vergleich hinkt. Die Bücher sind ja auch nicht so anmaßend schlecht aus der Ich-Perspektive geschrieben wie das Ihrer Bewerberin. Außerdem, darum geht es im Exposé gar nicht.“  

„Tatsächlich geht es genau darum. Frauen schreiben seltener aus der Perspektive anderer Geschlechter. Während Männer das schon immer und sehr häufig tun. Egal, worüber Frauen schreiben, ihre Texte werden als Frauenliteratur abgetan. Während das Schreiben von Männern etwas Universelles, Allgemeingültiges hat. So etwas wie Männerliteratur gibt es ni-“  

„Ach je, ich glaube, das war mein Handy, das da gebimmelt hat. Besten Dank für die schöne Mittagspause. Ich habe leider direkt jetzt im Anschluss einen Telefontermin. Aber wir sehen uns dann hoffentlich alle am Wochenende auf der Sommerfeier?“  

„Leider nein, ich muss meinen Sohn betreuen.“  

„Ach, auch schön.“  

Beim Gehen hört er die Dicke flüstern und versteht die Worte Scheidung und radikale Ansichten. Jetzt erst fällt ihm auf, dass dick eigentlich eine Untertreibung für die Fette ist.  

Fast noch schlimmer findet er den geprügelten Hund, der sich verlässlich wie ein viel zu schmaler Schatten hinter sie stellt und ihre gefühlsgeleiteten Aussagen durch hastiges Nicken bekräftigt. Manchmal nickt er so unkontrolliert, dass K. es als Beweis für sein fehlendes Rückgrat nimmt. Die Lektoratsleitung ist typisch neue Generation im Verlag. Diese softe Sorte Mann, die Mehrweg- und Handcreme-Sorte Mann. Eigentlich würde er viel besser in die Redaktion von Zeit Online passen, wundert sich K. jetzt. Da gibt es wohl einmal pro Woche Rückengymnastik für die Belegschaft – davon wurde in der letzten HR-Sitzung geschwärmt. Schneller als die Fette „Schokosahnetorte” hätte sagen können, war das Thema wieder vom Tisch. K. glaubt nicht an Homöopathie.

*  

„Alte Schule“ hat er im Zusammenhang mit seinem Namen oft gelesen. Das ist ein idiotischer Ausdruck, denn früher war auch nicht alles besser. Trotzdem vermisst K. manchmal den rauen Ton und die klaren Ansagen im Verlag, die unbeschwerte Stimmung. Heute traut er sich nicht mehr, mit der Belegschaft herumzuwitzeln, so wie er es früher gern tat. Das war, bevor die Frauenbeauftragte den ITler beauftragte, eine kummerkastenartige E-Mail-Adresse einzurichten, an die die Angestellten jedes ihrer Wehwehchen tippen konnten. Schon mehrmals ging es in den Mails um ihn, weswegen er sich vorgenommen hat, einfach gar keine Witze mehr zu machen. Die Atmosphäre im Haus ist seitdem deprimierend, aber die Frauenbeauftragte setzte noch einen drauf und forderte Netzwerkmöglichkeiten innerhalb der Arbeitszeit, weil Frauen nach der Arbeit häufig mit anderen Verpflichtungen beschäftigt seien. So, als würde er selbst nicht seine Freizeit opfern, um zu den unbezahlten Abendessen zu gehen – in irgendeinem Scheißrestaurant, das sich auch die Praktis leisten konnten. Das gehört halt dazu. Durch manche Dinge muss man sich eben durchbeißen. 

Sein alter Zögling T. wusste, wie man sich durchbeißt. Der Idiot hatte sich aber schon nach einem halben Volo Jahr bei etwas Schmuddeligem erwischen lassen. Deswegen musste K. ihn rausschmeißen, das war beiden klar. K. war damals so nett und hatte es so aussehen lassen, als wäre T. freiwillig gegangen. Daraufhin hatte das junge Kerlchen schnell eine neue Stelle gefunden. Zwar nicht ganz so vielversprechend wie im Verlag von K., aber durchaus akzeptabel. Dafür dankte T. seinem Vorbild mit einer zweiten Runde Hefeweizen und ausschweifenden Komplimenten, als die beiden sich neulich auf ein Bier trafen. Lieber hätte K. die unangenehme Lobhudelei unterbrochen, aber das gehörte sich nicht. Als K. von dem Treffen nach Hause kam, war er auf eine ungewohnte Art beseelt. Es fühlte sich gut an, zu helfen.  

*

Über die Jahre hat K. sich einen Spaß daraus gemacht, zu erraten, wer den langen Gang bis zu seinem Büro entlangkommt. Der Boden ist durchgehend mit Teppich ausgelegt, was den Schwierigkeitsgrad erhöht. Trotzdem liegt er in 90 Prozent der Fälle richtig. Zu seiner Verteidigung: Zu den übrigen zehn Prozent zählen auch externe Besucher. Die Fette kann es nun gottseidank nicht sein, dafür sind die Schritte zu zart. Der geprügelte Hund aber auch nicht, dafür sind die Schritte zu bestimmt. Es klopft zweimal kurz. Die Tür schwingt zügig auf. Im Türrahmen steht eine Frau, die er noch nie gesehen hat.  

„Guten Morgen. A. mein Name, der junge Mann am Eingang hat mich zu Ihnen durchgeschickt.“  

Er hat sich Frau A. ganz anders vorgestellt. Irgendwie – wie soll er es benennen? – trauriger. Sie könnte eine jung aussehende Vierzigjährige oder eine alt aussehende Zwanzigjährige sein. Glatte Haut und doch schlupfrige Augen. Aus dem zugeknöpften Ausschnitt ihrer Bluse schauen Faltenenden heraus, die kann er selbst ohne Gleitsicht erkennen. Der Form ihrer Brüste nach zu urteilen trägt sie einen dieser Pseudo-BHs, die aussehen wie Arthroserstrümpfe für den Oberkörper. Er muss unweigerlich an einen Begriff denken, über den er neulich auf X gestolpert war. Cockblock.  

„Hundertprozent vegane Seide, sie haben richtig gesehen.“  

„Was? Entschuldigen Sie bitte, nein, nein. Ich war noch ganz in die Zahlen versunken. Da vergesse ich alles um mich herum. Bitte, nehmen Sie platz.“  

Er kommt kaum an das Ende seines Satzes, da sitzt sie schon und kramt in ihrer Tasche. Sie schaut auf einen Stapel Papier mit handschriftlichen Notizen.  

„Frau S. hat mir dankenswerterweise im Vorhinein ausführliche Anmerkungen zukommen lassen, die ich mir zu Herzen genommen habe. Sie meinte, mein Textvorschlag könnte durchaus interessant für Ihr Haus sein.“  

Er spürt, wie ihm Magensäure in die Speiseröhre hochsteigt und unterdrückt einen schmerzhaften Rülpser. Die restliche Luft atmet er in einem hörbaren Seufzer aus. Es schmeckt nach einer Mischung aus Frühstückswurst und Erbrochenem. In ihrem Blick lässt sich nicht erkennen, ob sie etwas davon riecht. Falls doch, lässt sie sich nichts anmerken.  

Seine Lippen verziehen sich zu dem einstudierten Lächeln, das er jede Woche im Gesellschaftslektorat probt und perfektioniert. Er fordert sie auf, sich an den kleinen Saftfläschchen auf der Kommode hinter ihr zu bedienen. Die freie Sekunde nutzt er, um etwas über das Manuskript im Papierkorb zu legen.  

„Jedenfalls, Herr K., wollte ich zwei Dinge mit Ihnen besprechen.“  

Na toll, sie hat Kirsche genommen. Seine Lieblingssorte.  

„Danke, vielen Dank Frau A., dass Sie sich die Zeit genommen haben, extra vorbeizukommen. Auch über Ihre Einsendung haben wir uns wirklich sehr gefreut. Wirklich sehr. Unserem Haus ist es ein Anliegen, weibliche Stimmen zu hören, das wurde die letzten Jahre bedauernswert vernachlässigt. Eine Schande, wenn Sie mich fragen… Sie haben sicher viel um die Ohren, deswegen – was ich sagen möchte: Ihre Einsendung ist wirklich nett, wirklich schön zu lesen. Witzig, gutes Tempo.“  

„Da kommt ein Aber.“  

Sie betont ihre Frage wie einen Aussagesatz. K. findet sie jetzt schon unerträglich und vermisst seine Frau, die das nie gemacht hat.  

Aber Ihren Figuren fehlt der Tiefgang. Der Protagonist – ein alter Verlagschef, der nur an sich denkt, Pornos auf dem Dienstcomputer speichert und die Frauen in der Belegschaft fertig macht? Verstehen Sie mich nicht falsch, aber ist das nicht water under the bridge? Der arme Kerl macht keine Entwicklung durch, er vereint keine Widersprüche, er ist eine durch und durch holzschnittartige Figur, so eindimensional. Ein Wunder, dass er überhaupt stehen kann. Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber vielleicht haben Sie sich mit der Erzählperspektive übernommen. Die Idee mit dem Einblick ins Verlagshaus, die hat was, die ist nicht schlecht, gar nicht.“  

„Aber.“  

„Als jemand, der vom Fach kommt, kann ich Ihnen sagen, der Schwerpunkt ist ein anderer. Durch das Schlüsselloch eines Verlags entdeckt man sicher viele spannende Geschichten – dieses Geschlechterthema finde ich halt irgendwie ausgelutscht. Da hatten wir dieses Jahr erst drei, vier Veröffentlichungen zu. Kennen Sie ‚Ein Zimmer nur für mich‘ von Virginia Fuchs? Schöne Geschichte. Wieso schreiben Sie nicht mehr aus ihrer Perspektive? Weniger anklagend, mehr erzählend.“  

Er steht auf und starrt aus dem Fenster, seine Augen stellen das Treiben auf dem Platz vor dem Verlag nicht ganz scharf. Die Stadt zieht wie eine Ameisenstraße an ihm vorbei. Die kleinen schuftenden Dinger. Für einen Augenblick hat er vergessen, dass Frau A. noch da ist. Nach langer Stille spricht sie. 

„Wissen Sie, was ich interessant finde? Mit Gerüchten verhält es sich ja meist so, dass man im Vorhinein nie wissen kann, ob sie stimmen oder nicht. Es besteht immer die Chance, dass an Gerüchten nichts dran ist. Gleichzeitig sind sie selten ganz aus der Luft gegriffen – eine vollkommene Lüge bedarf einer großen Menge Fantasie, die die meisten Menschen nicht aufbringen können.“ 

„Ich verstehe nicht ganz. Für eine Ich-Erzählung benötigt es tendenziell weniger Fantasie. Also vor allem, wenn sie einfach über etwas schreiben, das Ihrer Erfahrungswelt etwas näher liegt. Näher als der Verlagschef, meine ich. Sie haben da doch diese eine Figur, die Volontärin. Ach, oder noch besser, die Frau aus der Kantine! Die könnte ich mir auch gut als Erzähler vorstellen! Damit könnte man vielleicht diesen Schlüssellocheffekt kreieren, an dem Sie sich versucht haben. Der Verlag durch die Augen dieser „Underdogs“. Da stecken doch sicher interessante Geschichten drin.“  

„Die Gerüchte über Sie jedenfalls stimmen. Es ist wahr, was man über Sie sagt.“  

Noch immer schaut K. aus dem Fenster. Jetzt muss er schmunzeln. Über die Jahre hat er sich einen Namen in der Verlagswelt gemacht, das weiß er. Aber er hätte nicht gedacht, dass selbst so junge Leute wie Frau A. von ihm gehört haben.  

„So? Was sagt man denn über mich?“ 

*

Auf dem Gang kommt ihm die Fette entgegen und sucht seinen Blick, das spürt K. schon von weitem. Er tut so, als hätte er etwas vergessen, klopft hastig seine Hosentaschen ab und dreht um.  

„Herr K., warten Sie mal. Guten Morgen, Herr K., warten Sie mal kurz, bitte. Kleinen Moment, bitte, Herr K.“  

„Ach, guten Morgen. Na, wie war Ihre Woche? Ist ja viel los bei Ihnen im Moment, geht’s gut soweit?" 

„Herr K., ich wollte mich über Ihren Termin mit Frau A. erkundigen. Ich hatte sie beide connected, aber auf meine Mails von ihr nichts mehr zurückgehört. Hat sie sich vielleicht bei Ihnen gemeldet? Wir sollten dranbleiben. Das wäre ein ganz, ganz vielversprechendes Debüt für das Frühjahrsprogramm sechsundzwanzig.“ 

Das war ja wieder klar. Alle wollen sie schreiben, schreiben, schreiben. Aber Kritik, dafür sind sie sich zu schade. Samthandschuhe stehen ihm nicht, sorry.  

„Bei mir hat sie sich tatsächlich auch nicht gemeldet.“  

„Sie hat es sich doch nicht anders überlegt?“  

„So ist das manchmal. Es ist noch kein Erstlingswerk vom Himmel gefallen. Die meisten unterschätzen, wie viel Arbeit das ist.“  

Oder haben eine viel zu dünne Haut, aber das sagt er der Fetten nicht, die zumindest in dieser Hinsicht die dünnste von allen ist.  

„Frau S., ich muss leider weiter, aber wir sehen uns morgen Abend auf dem Sommerfest!“  

„Leider nein, ich muss meinen Kleinsten ins Bett bringen, mit dem mache ich gerade Einschlafbegleitung.“  

„Mit Ihrem Sohn oder mit Ihrem Mann?“  

Prustet K.  

„Kleiner Scherz.“ 

*

Er scrollt durch X. Im Hintergrund streitet Markus Lanz mit Dorothee Bär. Die linke Hand in seiner Unterhose spürt eine angenehme Wärme. Früher hatte er abends immer gelesen, damit er danach besser schlafen konnte. Mittlerweile hilft auch das nicht mehr. Er kann so oder so nicht gut einschlafen. Nachts schwitzt er oft und friert danach. Er spannt im Schlaf seinen Kiefer an, bis er aufwacht und kurz darauf wieder wegdöst.  

Zum Abendbrot gibt es eine Ristorante Pizza aus dem Vorteilspack, dieses Mal mit Salami. Nach dem Essen streckt er sich auf dem Sofa aus und dämmert vor sich hin.  

Sein iPhone vibriert auf dem Couchtisch, was Weinglas und -flasche zum Klirren bringt. Eine Push-Benachrichtigung schiebt sich über das Display, das noch immer seine Frau im Südfrankreichurlaub anzeigt. Seine Augen brauchen mehrere Sekunden, um scharfzustellen. Es ist eine Mail von der Frauenbeauftragten.

„Diese verdammte – Scheiße.“