maijunijuli
von lenny b.
im Dialog mit einem Bild von Minh Voll
Es ist maijunijuli, ich treffe Yez auf einem Tinder Date. Also, ich bin auf dem Date, sie nicht. Seinen Namen habe ich vergessen - vielleicht Stephan? Es ist Freitag, vielleicht auch Samstag, eigentlich auch egal. Es ist einer dieser Sommerabende, an denen die Luft flirrt und man sich fühlt, als könnte alles oder gar nichts passieren, und beides wäre in Ordnung.
Ich lehne in oversized Jeansshorts, Feinrippshirt und früher-mal-weißen Sneakers am Späti. Die Sonne brennt, auf den Asphalt, auf meine Haut, auf mein schlechtes Gewissen, weil: Was mache ich hier eigentlich? Ja klar, „Raus aus der Komfortzone!“ und so - leicht gesagt, aber wie? Ich habe es mir schon so oft vorgenommen: einfach locker bleiben, einfach nicht drüber nachdenken, einfach ich sein - und dann? Fluchtreflex. Wenn nicht schon beim ersten Hallo, dann spätestens beim Tschüss. Und wenn ich es irgendwie bis dahin schaffe, dann spätestens, wenn ich wieder PMDS kriege und eh alles zu eng, zu hässlich, zu sinnlos wird. Zu viel Druck. Zu viele Erwartungen. Zu wenig Ausweg. Date 1: Küssen. Date 3: Sex. Dann: Noch mehr Sex. Doppel- Dates. Pärchenurlaube. Eltern kennenlernen. Kinder kriegen. Haus bauen. Heiraten. Scheiden lassen. Oder noch schlimmer: gemeinsam alt werden. Tod. Amen.
Ok, chill.
Ich ertappe mich dabei, wie ich meine Schuhsohle immer aggressiver in den Staub kratze und versuche stattdessen bewusst lässig an der Wand zu lehnen. Aber niemand, der sich bewusst lässig an eine Wand lehnt sieht tatsächlich bewusst lässig aus, also gebe ich schnell selbstfremdschämend auf und will gerade gehen –
Aber Stephan (oder doch Philip?) ist pünktlich. Er kommt gezielt auf mich zu, mit schüchternem Lächeln und blau-grün lackierten Nägeln, die mehr Selbstvertrauen ausstrahlen als er. Der Nagellack passt verblüffend gut zu seinem Kurzärmelhemd. Wir umarmen uns, kurz und tapsig, er riecht nach Haribo.„Cooler Nagellack“, sage ich uncool.
Er sagt „danke“ und holt uns zwei Bier.
“Ich hasse Bier”, sage ich nicht, und zwei Minuten später schlendern wir small-talkend zum Platz um die Ecke. Es ist brechend voll, die Stimmung locker, und natürlich sitzen da mindestens zehn Menschen, die ich über Ecken kenne – unter anderem mein Mitbewohner mit seinem Tinder Date und – fragt mich nicht, wie es dazu kam – dessen beste Freundin.
Natürlich wird uns in der Peinlichkeit des Moments angeboten, uns dazu zu setzen.
Natürlich setzen wir uns dazu.
Da schneidersitze ich nun also an einem Freitag- oder Samstagabend, mit meinem Tinder Date, an dessen Namen ich mich nicht erinnern kann, meinem Mitbewohner, seinem Date und der besten Freundin des Dates meines Mitbewohners. Weirder wirds nicht, und trotzdem wird der Abend überraschend amüsant – nicht, weil es mit Stephan oder Philip besonders gut läuft (Spoiler Alert: das bleibt unser einziges Date), sondern weil ich mich an diesem Abend, quer über unseren Sitzkreis hinweg, in Yez verknalle – die beste Freundin des Dates meines Mitbewohners.
Yez hat kurzrasierte, platinblonde Haare mit feuerroten Spitzen, und ich bin sofort eingeschüchtert. Ihre Augen leuchten so intensiv grün, dass ich den ganzen Abend nicht weiß, wo ich mit meinem Blick hin soll, trotzdem landet er immer wieder bei ihr. Sie hat etwas katzenhaftes an sich, die Bewegungen lauernd, als könnte sie jeden Moment blitzartig auf- und jemandem an den Hals springen. Oder verschwinden. Ich wünsche mir ersteres. Yez, wie in ‚Yes, please‘, spring mir an die Kehle, beiß ein Stück von mir ab –
Wait, what?
Ok, ganz ehrlich: Ich weiß schon länger, dass ich „irgendwie wahrscheinlich nicht nur hetero“ bin. Aber mein Queerfahrungswert liegt bei ungefähr null, und ich weiß plötzlich nicht mal mehr, ob ich überhaupt noch weiß, wie Flirten funktioniert. Ach ja, und außerdem sitzt da ja noch mein eigentliches Tinder Date (Johannes, wie sich inzwischen herausgestellt hat) und ich fühle … nichts.
Sehe nichts.
Will nichts.
Außer Yez.
Zu meiner Erleichterung löst sich der zweite Teil des Problems (Johannes) kurze Zeit später von der Gruppe. Ich atme aus und pisse mir vom stundenlangen Atemanhalten fast in die Hose. Dann, gerade auf dem Weg zum Späti-WC, taucht plötzlich Yez neben mir auf. Mein Puls spielt Techno, ich stolpere beinahe über meinen Schnürsenkel.
„Lust auf noch ein Bier?“, fragt Yez.
„Ich hasse Bier“, sage ich, meine Stimme überraschend selbstbewusst.
Sie grinst und zieht zwei Dosen Cola und eine Packung Oreos aus ihrer Tasche.
„Besser?“
„Besser.“
Wir enden sonnensuchend auf dem Graffitibrückengitter, beide mit beiden Beinen überschlagen, nichts-sagend. Im Feuerzeugschein zwischen uns gehen abwechselnd die Zigaretten an und wieder aus, langsam taut mein Blick seitlich an Yez Gesicht auf. Ich merke, ich möchte ihre tätowierten Arme, die Gänsehaut in ihrem Nacken, den Sternenhimmel auf ihrem Buzzcut berühren, aber ich weiß nicht, wie, weiß nicht, ob ich darf, wie ich frag – so Dinge wie:
Darf ich dich küssen?
Stattdessen frage ich: „Ist dir kalt?“. Nervös fummle ich an meinem zerlochten Pulliärmel herum, daneben spielt Yez mit der Lasche ihrer Coladose, bis sie abgeht und steckt sie in ihre Hosentasche. Dann schaut sie mich schmunzelnd an: „Nee, nur aufgeregt.“
Irgendwo in der Nähe fängt eine Kirchenuhr an zu schlagen.
1 „Darf ich dich was fragen?“ – „Klar.“
2 „Was denkst du gerade?“
3 „Ehrlich?“
4 „Ehrlich.“
5 „Ich versuche dich seit ungefähr einer halben Stunde zu fragen, ob du mich küssen magst.“
6 „Dann frag doch.“
6 Uhr. Stille. Nur noch Millimeter zwischen uns. Ihr Atem riecht nach Cola und ein bisschen Kippe, vielleicht auch Zwiebel, Oreo, egal. Ihre Augen, Kristalle, dann zu, und dann ist da nur noch dieses gemütliche Knistern unter meinem Bauchnabel.
Wir stehen am Zebrastreifen. Irgendwo hinter den Dächern lauert die Morgensonne. Yez rasierter Hinterkopf kitzelt in meiner Halsgrube, mein Daumen an ihrem Handrücken. Die Ampel wird rot, dann grün, dann wieder rot. Und dann gehe ich, die Zebrastreifen wie Wolken unter meinen Füssen. Ich drehe mich nicht um.
Und – Plot Twist: Yez, wie in ‚No‘, wie in ‚Yezterday‘, meldet sich nie wieder.
Stilles Leben mit Links von Minh Voll
augustseptemberoktober, mein Herzschmerz hält sich in Grenzen. Stattdessen habe ich chronische Halsschmerzen. Ich verliere meine Energie, meine Lust, meinen Körper an LongCovid/CFS, aka Chronic Fatigue Shithole. Um mich herum rennt die Zeit, alle sind erkältet, werden wieder gesund, gehen auf Festivals und Marathonläufe, diskutieren Polyamorie und Onlinedating – Ich suche immer noch nach dem richtigen Hausarzt.
Ich bleibe stehen und werde trotzdem älter, ziehe mich zurück. Einsame Insel, mitten in der Ostsee, ein großes, leeres Haus ohne Uhren. Neun Glastüren, wo niemand anklopft. Niemand will wissen, wo ich bin, wer ich bin. Keine Fragen, keine Namen, kein Erwarten. Nichts tickt. Nur nackte Inselluft, die aufrichtig an den Fenstern rüttelt. In der Ferne ein Hügel, dahinter das Meer. Ich esse Blaubeermarmeladenbrote ohne zu zählen und schaue den Kranichpärchen zu, den Gänsen und Fasanen.
Auf meiner Insel lerne ich zeitvergessen. Stelle keine Wecker, erlaube meinem Handyakku endlich aufzugeben, mir auch. Ich lasse die Müdigkeit zu. Versuche wiederzufinden, wie sich Anfühlen anfühlt. Körperhaben, Körpersein, nicht spielen. Also schlafe ich. Esse. Sitze. Alleine im Sessel, ganze halbe Tage, 3 Schritte zum Sofa, neue Perspektive, neues Fenster, und warte. Auf Magenknurren, Augenschließen, Beinestrecken. Ich gebe nach, und langsam wird manches leichter, ich, stärker. Die Energie kommt und geht, braust auf, spült weg, schwappt zurück. Bleibt nicht, aber in der Nähe.
Und dann nehme ich mich, und kehre zurück.
Meine Herbstgefühle fühlen sich dieses Jahr wie Frühlingsgefühle an. An einem unspektakulären Wochentag beobachte ich die nachkürbisriechenden Pärchenmassen im Park, finde sie nervig kitschig, aber irgendwie auch ein bisschen cute. Wie wohlig es wohl sein muss in so einer gemusterten Wollpulliumarmung. Friert man draußen überhaupt noch, wenn jemand einen so in seinen Blicken warm hält? Vielleicht weiß ich ja irgendwann, wie sich das anfühlt, vielleicht finde ich es auch stickig und scheiße. Ich wünsche mir was Eigenes, was auch immer das sein kann. Wünsche mir Sonnenkribbeln statt Wollpullikratzen auf meiner Haut. Nacktheit und frei flatternde Bein- und Armhaare. Frieren vergessen. Ich stelle mir vor, wie mich jemand auszieht, mich aus meinem Herbstfell schält und mir Sommer gibt. Das darf gern lange dauern. Und wenn wir uns küssen, ist da ein bisschen maijunijuli im Nachgeschmack.
Und dann kommt Paula.
Paula, die Chick mit der Tschick und dem chronischen Husten. Sie nennt mich auf Türkisch liebevoll Pistazie, fıstık, und kneift mir mit Zeige- und Ringfinger in die Wange. Ihr Lachen ist nie schüchtern und immer ansteckend, und ich lache damit lauter als sonst. Keine Vorsicht, kein sich-ständig-erklären-müssen, keine Entschuldigungen wie Herpes auf den Lippen. Einfach nur sprudelnde Leichtigkeit. Ungefragt. Unaufdringlich. Raumeinnehmend. Rausgeprustet, egal wer dabei aus Versehen angespuckt wird. Hände schlagen auf den Tisch, Çay-Tassen und Zigarettenstummel fliegen durch die Luft und wie und warum sollten wir noch still und gerade auf unseren Stühlen sitzen bleiben, wenn alles einfach so scheiße leicht sein kann? Ich falle tausend Mal zu Boden, krümme mich und Tränen fließen und es ist ausnahmsweise keinerlei Schmerz damit verbunden.
Wir trinken Haselnussschnaps mit Limettensaft in der Bar, die wir hassen, und vergessen zu zahlen. Auf dem Heimweg glotzen uns zwei Macker auf den Arsch und ich starre wütend zurück, bis sie wegschauen. Ich nehme den Lippenstift, den Paula sich eben wieder abgeschmiert hat und male ihn dick und fett nach. Ich schaue ihr tief in die Augen und küsse ihren Mund, bis auch meiner rot ist. Dann nehme ich ihre Hand und wir rennen durch die Straßen, knallrote Lippen, dicke Ärsche, haarige Beine und wackelnde Bauchfalten, weil die genau dafür da sind. Wir tanzen an roten Ampeln vorbei und wenn uns jemand ja dumm anschaut, dann bellen wir ihnen in die Fresse.
Ein Krümel fängt langsam an in mir zu wachsen, klettert in neugierigen Fingern über nackte Gänsehaut, wo früher nur Mauer war. Fasst an, wo sich anfassen gut anfühlt, lässt fallen, weil es gut tut. Sagt ja. Ich will. Ich will das. Ich will, dass...
Auf einmal bin ich noch ein Jahr älter und fühle mich trotzdem wie 17. Ich höre zum ersten Mal zu, wenn mir gesagt wird, ich sei schön. Plötzlich lasse ich das Außen an mich ran, in mich rein, also buchstäblich. Ich sprieße in meine Haut hinein, lasse die Sonne daran knabbern und fange an zu verstehen, was Selbstbewusstsein bedeutet. Ich stöhne, erst ein bisschen vorsichtig, dann brülle ich den ganzen Scham, Zwang, Druck aus mir raus. Ich mache Platz, zwischen Kategorien und Definitionen, zwischen irgendwelchen Diagnosen - Buchstabenkombinationen, meine Haut zieht sich nicht mehr zurück, sondern aus, greift durch sich durch, in sich hinein, und lässt meine aufgestauten Wellen strömen. Sie schwappen über meinen Rand, brechen aus, reißen Mauern, Zäune, Stoppschilder mit, überschlagen sich, wachsen über sich hinaus, schauen nicht zurück, müssen nicht bleiben, müssen nichts bleiben, außer flüssig.
Meine Lust ist keine Last mehr, sondern ein Meer.
Ich will: Mehr.
Mehr von euch, mehr von mir.
Will nackt reden über Freund*innenschaft.
Will Sex mit Klamotten an.
Will dir vertrauen, ohne meinen Namen zu verraten.
Will dich umständlich kennenlernen.
Ich will, dass du mich kennst, aber nicht nur körperlich.
Will an deiner Haut verstehen, wie meine bricht.
Ich will nicht fragen wer du bist, damit du mich auch nicht fragst.
Du fragst und ich zeig dir, wer ich nicht bin.
Ich will, dass du mich missverstehst.
Such weiter und zeig mir wo meine Leberflecke versteckt sind.
Ich will, dass du mich ausziehst, meine Schichten zählst und mir Sommer gibst.
Ich will dich nicht brauchen.
Brauche, dass du mir widersprichst.
Ich will an dir hängen, ohne abhängig zu sein,
will, dass dich alles an mir verwirrt.
Ich will dich nicht perfekt finden wollen,
will mich in dir verlaufen und all das tun, was nicht von mir erwartet wird.
Ich will, dass du mich erwartest, will dich um mich aufbauen.
Will mich endlich trauen, mich selbst nackt im Spiegel anzuschauen.
Ich will, dass du mich spiegelst.
Will damit alleine sein.