Marktzeit –
Fragmente über Fremde

von Lina Weber

Es war Samstagvormittag, Marktzeit, als er vor einem Blumenstand stehen blieb und ihm einfiel, dass heute ihr Geburtstag war. Wären sie noch ein Paar gewesen, hätte er ihr, wie zu jedem Geburtstag, einen Strauß Pfingstnelken mitgebracht. Sie hätte laut gelacht und ihm mit ihrem Lippenstiftmund einen Kuss zugehaucht. Dass er ihr statt der geliebten Pfingstrosen eine Nelkenart kaufte, war zum Missverständnis mit Tradition geworden. Gemeinsam wären sie dann zum Chinesen um die Ecke gegangen, um Ente in süßsaurer Soße mit extra Cashewkernen zu essen. Ohne Blumen, aber mit einigen Erinnerungen im Kopf, ging er langsam in Richtung seiner Zwei-Zimmer-Wohnung.

Er konnte nicht behaupten, dass er die Tiere wirklich mochte. Wenn schon Hund, dann doch wenigstens in der Größenordnung einer Dogge. Es war ihm auch unbegreiflich, warum es gleich drei Köter sein mussten. Doch sie hatte sich, wie so oft, durchgesetzt. Dennoch war es mittlerweile er, der morgens früh aufstand für den ersten Gassigang, der Hühnerherzen anbriet und der ihnen abends vor dem Fernseher das Fell kraulte.

Pikachu ging am besten weg dieses Jahr. Pikachu und diese Eisprinzessin aus dem gleichnamigen Film, dessen Namen er immer vergaß. Als ob so eine es in einem heißen Land wie diesem überhaupt aushalten würde. Kindern waren solche Dissonanzen natürlich egal, sie liebten die ihnen vorgesetzten Heldenfiguren ohne Vorbehalte. Trotzdem erwischte er sich manchmal bei dem Gedanken, dem nächsten Kind, das nach der blauen Prinzessin fragte, die ganze Traube Ballons einfach in die Hand zu drücken. In seiner Vorstellung schwebte das Kind mit den Ballons langsam davon.

Neun Mal hatte er sie schon angerufen, aber seine Mutter war mittlerweile so schwerhörig, dass sie das Klingeln überhörte. Dabei wollte er unbedingt mit ihr sprechen, bevor sie es von einem der anderen erfuhr: Sie hatten endlich einen Platz für sie gefunden. Er wusste, dass sie sich abgeschoben fühlen würde, und wollte ihren Schmerz darüber wenigstens selbst abbekommen, das war er ihr schuldig. Ihr Schmerz würde sich in einer langen und anstrengenden Schimpftirade entladen, und wenn ihr irgendwann nichts mehr einfiele, würde er sagen: Ich komme vorbei, wir gehen Kaffee trinken.

Er konnte es kaum erwarten, seinen Körper ins Wasser gleiten zu lassen. Seit er klein war, fühlte er sich dem Meer verbunden und hatte sich über die Jahre den Spitznamen el pez, der Fisch, eingehandelt. Allerdings war das Wasser dieses Jahr sogar für Spanien viel zu warm — und genau das machte ihm Sorgen. Auf der App, die er entwickelte, ließ sich verfolgen, in welche Regionen die Fische abwanderten. Und auch er dachte in letzter Zeit immer häufiger darüber nach, auszuwandern.

Von hier oben wirkten sie alle gleich klein: Jugendliche, die auf Treppenstufen lungerten und Joints rauchten; Skater, die gewagte Sprünge vollführten. Eine Alte mit vollgestopften Tüten, die in einem Schaukelstuhl saß, mitten auf dem Platz, und sich mit einem jungen Mann unterhielt. Eine Familie mit bunten Rucksäcken, auf dem Weg ins Museum. Sein Blick blieb an einem jungen Vater hängen, der seinen kleinen Sohn vor sich auf dem Skateboard balancierte. Ob er für Passanten jemals ein ähnliches Bild abgeben würde?