Maskiertes Selbst.

Gedanken zu Max Frischs Fragebögen

ein Beitrag zu Schreibprojekt II

von Corinne Theis


„Wissen Sie sich einer Person gegenüber, die nichts davon zu wissen braucht, Ihrerseits im Unrecht und hassen Sie eher sich selbst oder die Person dafür?“ (7)

„Halten Sie Geheimnislosigkeit für ein Gebot der Ehe oder finden Sie, daß gerade das Geheimnis, das zwei Menschen voreinander haben, sie verbindet?“ (18)

„Halten Sie sich für einen guten Freund?“ (55)

„Was fürchten Sie mehr: das Urteil von einem Freund oder das Urteil von Feinden“ (56)

„Wieviel Aufrichtigkeit von einem Freund ertragen Sie in Gesellschaft oder schriftlich oder unter vier Augen?“ (57)

Max Frisch von @vjsillustration


Diese Fragen sind nur eine kleine Auswahl aus Max Frischs Fragebogen[1]. Sie sind ehrlich und direkt – greifen in die Intimsphäre der Leser:innen ein und fordern diese zur Beantwortung der Fragen sowie zu Ehrlichkeit auf. Doch warum empfinden wir solche Fragen als ein Eindringen in unsere Privatsphäre? Warum fällt es uns schwer, über solche Fragen offen zu reflektieren beziehungsweise sie mit anderen Menschen zu besprechen? Weil die Fragen zu privat sind? Zu ungewöhnlich direkt? Fest steht: Frischs Forderung nach Aufrichtigkeit hat bis heute, mehr als 30 Jahre nach der Ersterscheinung seines Werkes, immer noch nicht an Aktualität eingebüßt.

Doch was genau bedeutet es, aufrichtig zu sein? Das authentische Selbst zu zeigen? Und was bedeutet wiederum Authentizität? Der Begriff ist jüngst in interdisziplinären Forschungsbeiträgen wie beispielsweise von Erik Schilling oder Michael Hofer und Christian Rößner zerpflückt worden und scheint sich darüber hinaus auch im Wortjargon der Gesellschaft eingebürgert zu haben. Dabei scheint jeder mit dem Begriff Unterschiedliches zu verbinden. Ich persönlich verstehe unter Authentizität ein Zeigen von Wahrheit, dem Ungekünstelten und Realen. Drei Termini, die mittlerweile nur noch selten gemeinsam in Erscheinung treten – zumindest dem Anschein nach. Unter anderem in Zeiten von sozialen Medien, im Rahmen derer Nutzer:innen sich selbst von der besten Seite inszenieren, klafft der Zwiespalt von Realität und Virtualität – in Form einer Diskrepanz zwischen dem äußeren Erscheinungsbild und dem inneren Selbst – zusehends auseinander. Das authentisch Wahre wird hier eher selten gezeigt, weil es immer schon bearbeitet und inszeniert erscheint. Und auch im Zuge von Modernisierungs- und Kapitalisierungsprozessen, wo Schnelllebigkeit und Hektik den Alltag bestimmen und der oder die Einzelne vom Job oder auch von gesellschaftlichen Stereotypen her dazu animiert wird, sich von seiner oder ihrer besten Seite zu zeigen, scheint nur das bereits optimierte Selbst vorzeigbar zu sein. Doch warum ist dies so? Eigentlich wünschen Menschen sich in den meisten gegenwartspolitischen Diskussionen heutzutage doch genau dies: mehr Aufrichtigkeit und Transparenz, weniger gekünstelte Perfektion. Das erlebe ich zumindest im eigenen Bekanntenkreis. Regelmäßig bemerke ich, und höre von Vertrauten, dass wir alle – ich schließe mich hierbei gewiss nicht aus – von unserem gesamten Umfeld seit geraumer Zeit mehr Wahrheit, mehr greifbare Authentizität fordern. Kunst soll beispielsweise nicht nur ästhetisch ansprechend sein, sondern auch die Grenzen von Künstlichkeit überschreiten und aktuelle Probleme widerspiegeln; Politik soll nahbar, klar und direkt sein, und selbst das private Umfeld soll sich frei entfalten und sich uns offen und ehrlich präsentieren. In Entsprechung behaupten wir von uns selbst, jedweden Menschen gegenüber vorbehaltlos tolerant zu sein; ihre persönlichen Entwicklungen, inneren Gedanken und Antworten zu Fragen wie den obigen genannten „Halten Sie Geheimnislosigkeit für ein Gebot der Ehe?“ oder „Halten Sie sich für einen guten Freund?“ uneingeschränkt hinzunehmen. Frei nach Frischs Eigeninterpretation des biblischen Gebotes: „Du sollst dir kein Bildnis machen“, bilden wir Menschen uns ein, unser Umfeld mitsamt all seiner Fehler und Schwächen zu akzeptieren und diesem gleichermaßen authentisch zu begegnen.

Und doch suggerieren die elf Fragebögen Frischs, dass sich eine solche Idealvorstellung als Trugbild oder zumindest als Wunschvorstellung erweist. Allzu oft ertappen wir uns selbst dabei, wie wir voreilig über andere Menschen urteilen und diesen infolge unseres ersten Eindruckes ein subjektives, aber gegebenenfalls verzerrtes Bildnis zuweisen. Zugleich erleben auch wir selbst, dass Menschen aus unserem Umfeld uns in ähnlicher Weise begegnen und sich Meinungen über uns bilden, noch bevor wir das, was wir als unser wahres Selbst empfinden, gezeigt haben. Ähnliches passiert auch im engeren Freundeskreis. Wie würden wir reagieren, wenn die engsten Vertrauten plötzlich die obigen Fragen Frischs anders beantworten würden, als wir es von ihnen erwartet hätten? Wenn sich einst gemeinsame Vorstellungen plötzlich nicht mehr decken, weil mein Gegenüber oder Ich uns unterschiedlich weiterentwickelt haben? Könnten wir und unsere Engsten tatsächlich mit der persönlichen Entfaltung des jeweils Anderen umgehen? Wie viele Freundschaften oder Beziehungen sind schon zerbrochen, weil das Gegenüber uns weniger die Möglichkeit einer Weiterentwicklung zugestand, als uns vielmehr eigene Erwartungen aufzubürden? Scheint es daher manchmal nicht leichter zu sein, am Status Quo festzuhalten, als dass ein langjährig geliebter Mensch sich uns aufgrund ansammelnder Divergenzen plötzlich entzieht? Allein deshalb schwingt beim Lesen dieser persönlichen Fragen Frischs der latente Zweifel mit, wie ehrlich wir uns selbst und anderen gegenüber tatsächlich sind, aber auch, wie greifbar – verständlich – die Menschen für uns sind, die wir kennen oder von denen wir zumindest überzeugt sind, sie zu kennen.

Derartige Erwägungen, nicht immer sein ehrliches Selbst zu zeigen oder aber das des Gegenübers nicht immer kennenzulernen, erinnern mich an die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, ein 1954 erschienener Roman von Thomas Mann. In ihm führt der Protagonist Felix Krull ein Doppelleben, das zwischen dem Dasein als Commis de salle (Kellner des Speisesaals) eines Pariser Sternehotels und dem eines wohlhabenden „Herrn von Distinktion“, der abends erlesene Salons aufsucht und sich mit der gehobenen Gesellschaft trifft, pendelt. Dabei gelangt der Ich-Erzähler Krull zu dem Schluss, dass er sein tatsächliches Ich in keinem der beiden Leben wahrlich nach außen trägt, und bezweifelt sogar, ob ein solches Ich überhaupt existiert: „Verkleidet also war ich in jedem Fall, und die unmaskierte Wirklichkeit zwischen den beiden Erscheinungsformen, das Ich-selber-Sein, war nicht bestimmbar, weil tatsächlich nicht vorhanden.“ [2]

Felix Krull führt damit eine Scheinexistenz, ein Dasein hinter Masken und Illusionen. Ein solches Zusammenspiel von Identität und Maskierung ist keine zufällig gewählte Kombination Thomas Manns. Beide Motive verschmelzen in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts zu einem künstlerischen Programm, in das die Diskrepanz zwischen Sein und Schein, simulatio und dissimulatio [3] eingeschrieben ist. Felix Krull nutzt die (verschleiernde) Simulation, um über die nicht vorhandene eine, wahre Identität hinwegzutäuschen, und genießt dadurch die Vorzüge beider Leben. Die Situation spitzt sich zu, als ein Hotelgast namens Marquis de Venosta von der Doppelexistenz Krulls erfährt und ihm anbietet, in seinem Namen eine Weltreise anzutreten. Diese Reise wurde dem Marquis von den eigenen Eltern oktroyiert, die sich erhoffen, ihrem Sohn das Pariser Dilettantenleben zu entziehen und seiner Liebschaft zur Pariser Sängerin Zaza ein Ende zu bereiten. Um der Gefahr einer Enterbung zu entgehen und dennoch das von ihm geschätzte Leben in Paris fortführen zu können, unterbreitet der Marquis Felix nun den Vorschlag, seine Identität vorübergehend anzunehmen und an seiner Stelle die geplante Weltreise zu unternehmen. Felix, als spontaner Lebenskünstler, nimmt das Angebot an und macht sich als adeliger Marquis zu seiner ersten Reisestation nach Lissabon auf. Das Vorhaben des Identitätstauschs gelingt; über längere Zeit verkehrt Krull täglich mit Professor Kuckuck und anderen Vertretern der portugiesischen Gesellschaft, ohne je seine wahre Identität preiszugeben.

Inwiefern erkennen sich Leser:innen des Romans in der Figur Krulls wieder? Ist eine Identifizierung heute anders möglich als zur Erscheinung des Romans? Handelt der nicht-fiktionale Mensch völlig anders oder gleicht er nicht bis zu einem gewissen Grad dem durchaus repräsentativen Charakter des Felix Krull, beziehungsweise – um es mit den Worten des italienischen Schriftstellers Luigi Pirandellos zu formulieren – ist er nicht tatsächlich „immer maskiert, auch wenn er es nicht will und es nicht weiß“[4]? Natürlich geht es im Fall von Maskierung, wie auch bei Felix Krull, nicht um das tatsächliche Fehlen einer persönlichen Identität. Aber im Rückbezug auf Max Frisch lässt sich doch beobachten, dass es gesellschaftliche Bereiche gibt, in denen es besonders schwer fällt, man selbst zu sein. Genauso deuten die Fragen Frischs an, dass es spezifische Themen gibt, die wir nicht gern ansprechen oder gar öffentlich beantworten. Indem wir als Gesellschaft Angst vor möglichen Folgen der Ehrlichkeit haben, wir uns in speziellen Bereichen vor Veränderungen fürchten, die durch diese Ehrlichkeit entstehen könnten, entwickelt sich ein unausgesprochener Konsens, eine Einigkeit darüber, Stillschweigen zu bewahren – gegenüber anderen, auch gegenüber den engsten Vertrauten, letztlich sogar gegenüber sich selbst. Dabei wirkt jedoch jenes Schweigen destruktiv; es schränkt die zwischenmenschliche Kommunikation erheblich ein, erschwert es, sich näher zu kommen, und (re-)produziert Tabuisierungen. 

Innere Gedanken offen preiszugeben und anderen authentisch gegenüberzutreten, erfordert für die meisten Menschen viel Mut. Mit jedem Versuch, das Selbst transparent zu machen, tritt der oder die Einzelne auch immer ein Stück weit die Selbstkontrolle ab, macht sich angreifbar und verwundbar. In einer Welt, in der Authentizität zwar verlangt, jedoch täglich Perfektion propagiert wird, gestaltet es sich für Menschen zusehends schwieriger, sich so zu zeigen, wie sie sich selbst fühlen, und den eigenen Träumen, Ängsten oder sonstigen imperfekten Zügen Raum zu geben. In Anlehnung an den Titel der Ende März 2022 ausgelaufenen Sonderausstellung zu Fotografien von Barbara Niggl Radloff im Münchner Stadtmuseum bevorzugen Menschen, einander in „vertrauliche[r] Distanz“ statt in unmittelbarer Nähe zu begegnen. Die „vertrauliche Distanz“ – ein Oxymoron, wie er, finde ich, nicht treffender und interessanter hätte formuliert werden können. Denn eigentlich setzt Vertrauen im Sinne einer uneingeschränkten Zuverlässigkeit in meinen Augen eine Art Distanzlosigkeit voraus. Wenn ich – und da bin ich hoffentlich nicht die Einzige – zu anderen Abstand halte, tue ich dies, weil ich es – aus Angst vor vernichtenden Urteilen anderer Menschen – nicht wage, meine eigenen Komfortzone zu überschreiten. Wem ich vollends vertraue, fühle ich mich emotional verbunden, beziehungsweise habe ich das Gefühl mich fallen lassen und ich selbst sein zu können. Fehlt dieses Gefühl, dann fehlt auch das nötige Vertrauen. Damit will ich jedoch nicht prädestinieren, dass die Termini “Distanz” und “Vertrauen” einander gänzlich ausschließen. Vielmehr kann die Kombination beider dabei helfen, einen Zwischenweg von bedingungslosem Vertrauen einerseits und vollkommener Distanz andererseits zu finden. Mich also nicht gänzlich anderen Menschen preiszugeben, mich jedoch auch nicht vollends zu verschließen – eben eine vertrauliche Distanz aufzubauen. Vertraulich und persönlich, aber nicht zu persönlich, nicht zu angreifbar. 

Eine ähnliche Aussage lässt sich bei Helmuth Lethen lesen. In seiner Studie Verhaltenslehren der Kälte: Lebensversuche zwischen den Kriegen (1994) analysiert Lethen gesellschaftliches Verhalten und konstruiert dabei die Komplexität einer ‚kalten persona‘. In den 20er Jahren habe das Individuum in Deutschland eine auf Distanz bedachte und kühle Attitüde eingenommen, um so die eigene Verletzbarkeit und Unsicherheit vor der Öffentlichkeit zu dissimulieren; eine Beobachtung Lethens, die seither nicht an Relevanz eingebüßt hat. Denn eine derartige Maskierung erscheint auch mit Blick auf die Gegenwart, in der der gesellschaftliche Druck sowohl auf privater wie beruflicher Ebene wieder vermehrt wahrgenommen wird und zwischenmenschliche Erwartungen kontinuierlich wachsen, oft als ein Weg, allem und jedem gerecht werden zu können.

Sollen diese Überlegung nun also bedeuten, dass wir alle auf gewisse Weise Lügner:innen und Betrüger:innen sind? Sollen sie bedeuten, dass wir keinem und keiner – auch nicht uns selbst – vertrauen können, weil jeder und jede den anderen hinters Licht führt, wir einander nicht so akzeptieren, wie wir wirklich sind, und uns gegenseitig permanent die Wahrheit verschweigen? Nein, sicherlich nicht. Aber die Fragebögen Frischs geben den Anstoß, Mut zur Ehrlichkeit zu beweisen, brisante Themen zu erörtern, Gedanken zu teilen und Ansichten zu verteidigen. Auch fordern sie dazu auf, die Masken abzulegen, einander zuzuhören und zu verstehen, das vielfältige Wesen anderer Menschen anzuerkennen. Dazu, Vorurteile und Erwartungen anderen Menschen gegenüber abzulegen, sie nicht versuchen in ein Bildnis zu zwängen, das ihrer Person nicht gerecht wird. Und letztlich sollen auch wir uns von keinem ein Bildnis aufbürden lassen. Bildnisse von anderen Menschen zu hegen bedeutet, lieber Trugbilder von ihnen anzufertigen, als ihr wahres Selbst kennenzulernen. Allein diese Konstruktionen zu unterbinden, Ehrlichkeit und Gespräche zu initiieren und zu fördern, war womöglich Max Frischs Vorhaben, diese Fragebögen überhaupt zusammenzustellen. Was uns den anderen näher bringt, sind offene, in die Intimsphäre eingreifende Gespräche, sind Fragen nach der Vorstellung von Freundschaft und Liebe, nach persönlichen Gedanken und Gefühlen. Weshalb machen wir es uns also nicht zum Vorhaben, Max Frischs Fragen öfters zur Aussprache zu bringen und zu beantworten?

 


[1] Frisch, Max: Fragebögen, Frankfurt am Main 1992.

[2] Mann, Thomas: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Memoiren erster Teil, Frankfurt am Main 2010, S. 245.

[3] Zu den beiden Begriffen vgl.: Hüls, Ansgar Michael: Maske und Identität. Das Maskenmotiv in Literatur, Philosophie und Kunst um 1900, Trier 2012, S. 30.

[4] Hertl, Michael: Totenmasken. Was vom Leben und Sterben bleibt. Stuttgart 2002. S. 12.