Max Frisch und das Ungeziefer

Chronik einer Plage

von Melina Brüggemann

 

Ich will einen Text schreiben. Also ziehe ich an einem freien Vormittag Max Frischs Fragebögen aus meinem Bücherregal. Blättere darin, wie ich es schon so oft getan habe, verliere mich zwischen den Seiten, kreise durch meine Wohnung, einzelne Fragen laut vorlesend, lege das Buch schließlich auf das Sofa, verlasse das Haus. 12 Stunden später kehre ich zurück und treffe das Ungeziefer an. Es lauert an der Wand über meinem Sofa, ein undefiniertes Etwas, ein dunkler Fleck, der mir sofort ins Auge springt, als ich die Tür zum Wohnzimmer auf- und das Licht anmache. Ich weiß, dass es weiß, dass ich weiß, dass es da ist. Wir beide wissen es, aber niemand von uns rührt sich. Ich könnte stundenlang so verharren, in Schockstarre, die eine Hand auf der Türklinke, die andere am Lichtschalter. Solange ich mich nicht bewege, so meine feste Überzeugung, wird es sich auch nicht bewegen. Solange es in meiner Sicht bleibt, behalte ich die Kontrolle. Also spielen wir Wer zuerst zuckt; nur ist das Spiel längst ein Kampf geworden – ein Kampf, in dem es für mich - gefühlt - um beinahe alles geht. Um meine Wohnung, meine Würde, mein Leben.

Ich hatte schon immer eine Insektenphobie, mit dem Alter ist sie nur schlimmer geworden, und ich kann sie nicht erklären, kann sie auch nicht wegrationalisieren. Kann und will nicht zwischen meiner Angst vor Spinnen, Faltern, Wespen und Käfern unterscheiden oder ihre Größe gegen ihr Flugvermögen und schon gar nicht ihre Beinanzahl gegen die von ihnen ausgehende Gefahr abwägen. Alles, was klein ist und kriecht oder fliegt, aber kein Schmetterling oder Marienkäfer ist, hat das Potenzial, mich in blanke Panik zu versetzen. Meine Freund:innen lachen, aber ganz im Ernst: Ich würde lieber vor einem Löwen stehen als mit einer Kakerlake im selben Raum zu sein.

Ja, ich kann mich „zusammenreißen“, mich „nicht so anstellen“, wie es so oft und nett heißt. Ich kann die Ruhe bewahren und versuchen, souverän mit der Situation umzugehen (was auch immer das heißen mag), wenn andere anwesende Personen noch mehr Angst und Ekel empfinden oder ich mein Krisenmanagement unter Beweis stellen möchte. Aber am liebsten möchte ich einfach nur auf der Stelle losheulen, alle problematischen Klischees weiblicher Hysterie bestätigen, den Raum verlassen und nie wiederkommen. Denn ein Ungeziefer im Zimmer, so hat noch keine gute Geschichte außer Kafkas Verwandlung begonnen. Und ob die gut endet? Naja. 

Mein letzter Kampf dieser Art liegt schon ein paar Monate zurück. Es war ein großes schwarzes fliegendes Ding – eine Art fliegende Riesenameise mit länglichem, herunterhängendem Zipfel, vermutlich ein giftiger Stachel, also wahrscheinlich doch eher ein fliegender Skorpion –, das sich beim abendlichen Lüften um 23:37 Uhr unerlaubten Zutritt in mein Schlafzimmer verschafft hatte. Über zwei Stunden jagte ich es mit einem Dr. Marten in der einen und einem Philosophie Magazin in der anderen Hand (note to self: Selbstironie markieren) durch das Schlafzimmer, den Flur und das Bad, und dann wieder das Schlafzimmer, verlor es immer wieder aus den Augen, tanzte Stopptanz ohne Musik oder auch Mord im Dunkeln, schaltete das Licht an und aus, um es auf frischer Tat zu ertappen, kurz davor, meine Nachbarn wachzuklingeln, und nach viel Tränen und Schweiß gewann ich schließlich völlig erschöpft gegen zwei Uhr nachts den Kampf. Schlafen zu gehen war schlichtweg keine Option gewesen.

Mein vorletzter Kampf dieser Art liegt ca. 18 Monate zurück, als ich kurz vor meinem Umzug von München nach Berlin mein Kellerabteil räumte und dabei unbemerkt das schlimmste aller möglichen Insekten (Ihr-wisst-schon-was) in meine Wohnung verschleppte, wo ich es später am Abend, aus dem Kino kommend, durch meine Küche krabbeln sah. Mein größter Angsttraum wahr geworden. Aber damals war ich nicht allein und durfte im Zimmer nebenan warten, bis… alles geklärt war. Danach betrat ich eine Woche lang nicht meine Küche. Als ich zur Einarbeitung in meinen neuen Job für zwei Tage nach Berlin fuhr, untersuchte währenddessen jemand für mich die Lage in meiner Wohnung. Zu groß war die Sorge, sie sei in meiner Abwesenheit von so vielen sich stetig vermehrenden Insekten belagert worden, dass kein Weiß an den Wänden mehr zu sehen wäre. Nie fiel mir der Abschied von einer Wohnung so leicht.

An diesem Abend aber, als ich das Ungeziefer an der Wand vorfinde, bin ich allein, und dieses Mal gibt es auch keine Erklärung dafür, wie es in mein Wohnzimmer gekommen ist. Sollte es etwa schon gestern dagewesen sein, oder zumindest in nächster Nähe, als ich entspannt und nichts ahnend auf dem Sofa lag? Der Gedanke ist für mich unerträglich. Anders als andere Menschen brauche ich keine Fluchtwege, um mich sicher zu fühlen, sondern Einbruchstellen.

Ich beschließe also, mich ausnahmsweise mal nicht so anzustellen, schalte meinen survival modus an, hole nonchalant einen Schuh und Küchenrolle und töte das Tier. Ich bin stolz, erstarre jetzt nur noch vor Ehrfurcht vor mir selbst. Kurz überlege ich, welche meiner bewährten Bewältigungsstrategien ich heute wählen soll, entscheide mich für die Verdrängung, und gehe in dem beruhigenden Bewusstsein schlafen, dass ich das einzige sich in meiner Wohnung befindende Insekt gerade umgebracht habe.

Zwei Tage später, wieder abends – und das ist wichtig, weil ich übrigens auch Angst vor Kellern und manchmal Dunkelheit habe –, treffe ich an der gleichen Stelle sein Kind an. Es ist so klein, dass es für mich nicht der Rede wert wäre, wenn es nicht das zweite Ungeziefer in nur einer Woche wäre und mir beim versuchten Mord entwischen würde.

„Ich könnte schreien und heulen. Das zweite kleine Tierchen in einer Woche im Wohnzimmer. Hier gibt es bestimmt ein Problem. Sieht aus wie ein [sehr großer] Silberfisch. Rufe morgen Schädlingsbekämpfer und Hausverwaltung an. Wieso passiert das immer mir?!!“ Mama lacht. „Haha. Harmlos und normal. Dafür holt man weiß Gott keinen Schädlingsbekämpfer.“ Sie schreibt mir, dass ich spinne. Gewagte Wortwahl.

Ich recherchiere alle Hausmittel gegen Silberfische und entscheide mich erst einmal gegen sie, um die Tiere gar nicht erst anzulocken, schaue mir Bilder verschiedener Silberfischarten im Internet an, von denen ich träumen werde, lese zugegebenermaßen weit schlimmere Geschichten in Hilfsforen, betrete drei Tage lang mein Wohnzimmer nur einmal morgens und einmal abends mit iPhone-Taschenlampe, um zu lüften, weil das am besten gegen Silberfische helfen soll. Ich erzähle niemandem außer meiner Mutter davon, weil ich mich ekele und weil ich das Ungeziefer verdrängen will. Ich habe viel zu tun und will es einfach nicht wahrhaben, habe keine Zeit und keinen Nerv, mich mit diesem Problem auseinanderzusetzen. Bald fahre ich in den Urlaub. Wenn ich tagsüber gute Laune habe, bricht aus dem Nichts der Gedanke an das Ungeziefer ein, das in meiner Wohnung auf mich wartet. Ich fühle mich allein und nicht nur das, sondern auch einsam, schließlich wartet aktuell niemand sonst in meiner Wohnung auf mich. Nie wieder werde ich Menschen in meine schöne, neue Wohnung einladen können. Dabei bin ich gerade erst eingezogen, nach monatelanger Suche habe ich endlich eine Wohnung gefunden und das auch noch am Landwehrkanal. Drei Monate lang war alles gut, besser als das, großartig, und nun das. Kein Wunder, dass die Miete relativ günstig ist; kein Wunder, dass ich die Wohnung überhaupt bekommen habe. Ich denke zurück an die guten, nein großartigen drei Monate, die natürlich erst jetzt, im Nachhinein, so großartig werden, aber immerhin waren es ganze drei Monate, in denen ich unbeschwert in meiner Wohnung leben durfte. Ich schwelge in Erinnerungen an bessere Zeiten, so wie man bei einer Erkältung versucht, sich an ein Leben ohne verstopfte Nase zu erinnern, und weinen möchte, weil man dieses Leben nicht genug wertschätzte, als man es lebte. Soll das schon alles gewesen sein? Ist es zu viel, mehr zu verlangen? Ich empfinde Schuld und Scham und Ekel vor mir selbst. Habe ich zu wenig geheizt, zu wenig gelüftet, zu wenig geputzt? Am liebsten möchte ich sofort wieder ausziehen - das ist keine Übertreibung - einfach alles schmeißen, resignieren, vor dem Problem weglaufen und dem Ungeziefer meine Wohnung überlassen. Es kann sie haben. Ich will so nicht leben. 

Aber ich lebe weiter, als wäre nichts gewesen, außer dass ich in jeder der wenigen Sekunden, die ich überhaupt zuhause verbringe, paranoid die Wände anstarre, jede Fuge und jede Öffnung panisch beleuchte und gleichzeitig die Augen verschließe, mich nur im Schlafzimmer sicher fühle – und wer weiß, wie lange noch. Ich werde zum Inbegriff einer Stadtneurotikerin. Zwei Tage später, als ich gerade zu denken beginne, es gäbe keinen Grund zur Sorge mehr, gehe ich duschen und mit dem Shampoo im Haar fällt mir plötzlich auf, dass das Etikett des Duschvorhangs, das ich noch nicht abgeschnitten habe, dunkler als sonst aussieht. Selten fühle ich mich so vulnerabel und nackt. Aber ich bewahre die Ruhe, das Ungeziefer und ich sind mittlerweile ja ein eingespieltes Gegnerteam, es muss schlichtweg eine kleine, nette Familie sein, hoffentlich mit Einzelkind, ja, ja, bestimmt eine Kernfamilie, also dusche ich zu Ende und töte es erst zwanzig Minuten später, als ich in ein Handtuch gewickelt bin und es auf dem Duschvorhang endlich an eine geeignete Stelle gekrabbelt ist. Dass ich deshalb zu spät zur Arbeit komme, ist halt so. Mein Leben beginnt mir zu entgleiten. Ich will nie wieder duschen.

„Beneiden Sie manchmal Tiere, die ohne Hoffnung auszukommen scheinen, z.B. Fische in einem Aquarium?“, fragt Max Frisch.

Haben Silberfische Hoffnung? Leben sie in Familien, schmieden Pläne und haben Wünsche? Wissen sie um ihren bevorstehenden Tod? Beneide ich sie? Ich weiß es nicht, Herr Frisch.

Am Abend vor meinem Urlaub kommt ein Freund vorbei und ich gestehe ihm alles. Er lacht. Hast du ernsthaft geglaubt, du könntest in eine Altbauwohnung in Berlin, Neukölln ziehen, ohne Tiere in deiner Wohnung zu haben? Ich denke: Ja. Aber sehe ein, dass zwei große und ein kleines Ungeziefer in fast vier Monaten vielleicht doch nicht so schlimm sind, wie angenommen. Später kommt noch mein Bruder vorbei. Ich frage ihn betont beiläufig, ob er eigentlich manchmal Tiere in seiner Wohnung habe, und weil er mich kennt, erinnert er mich an die Mäuse in seiner früheren Wohnung in der Schanze. Als ich ihm detailliert schildere, wie ich dem Ungeziefer unter der Dusche geradewegs in sein Antlitz starrte, es in meiner Erzählung immer größer und größer wird, schüttelt er nur den Kopf, weil ich so maßlos übertreibe. Trotzdem tut es gut, mit anderen Menschen zu sprechen, so gut, dass ich die Bewältigungsstrategie wechsele: von Verdrängung zu Gesprächstherapie. Ich spreche mit Freund:innen und befreundeten Kolleg:innen. Und plötzlich merke ich, dass viel mehr Personen in meinem Umfeld von derartigen Problemen betroffen sind, als ich dachte. Ist das einfach kein großes Ding und so selbstverständlich, dass niemand darüber spricht? Tabuisiert unsere Gesellschaft etwa die Rede vom Ungeziefer in den eigenen vier Wänden? Verdrängt die Menschheit kollektiv die Existenz ungewollter Mitbewohner:innen? Ich schaue mir die Menschen auf der Straße genauer an. Einige sehen gepflegt aus, andere weniger. Haben sie Insekten zuhause? Wie wahren sie den Schein? Ich beobachte die Wände im Hintergrund meiner Kolleg:innen in Videokonferenzen und habe nicht den Eindruck, gleich könne ein Insekt ins Bild krabbeln. Eine meiner engsten Freundinnen fängt an mir aufzuzählen, in wie vielen Wohnungen sie bereits Silberfische hatte. Und merkt, dass es leichter ist, die wenigen Wohnungen aufzuzählen, in denen sie noch keine gesehen hat. Ich bin erleichtert, Menschen wollen mich immer noch besuchen kommen, vielleicht kann ich doch noch meine Einweihungsfeier nachholen. 

Im Urlaub erzähle ich meiner Freundin, dass ich längst darüber hinweg und tiefenentspannt sei. Sie gesteht mir daraufhin, morgens in unserem Hotelzimmer einen Silberfisch gesehen zu haben. Sie meint das aufmunternd: Siehst du, die sind überall. Ich erstarre. Abends finden wir ihn vor, er ist so winzig und hell, dass ich laut lache, weil mir dieses Ding nun wahrlich keine Angst bereitet, aber dann kommt die Panik wieder hoch, weil mein eigenes Ungeziefer definitiv nicht so aussah. War es vielleicht doch ein anderes Tier? Oder bilde ich mir das nur nachträglich ein? Ich traue nichts und niemandem mehr, nicht einmal mir selbst und schon gar nicht Silberfischen. Meine Freundin rät mir, ein Kammerspiel zu schreiben, in dem ein Kammerjäger auftritt. Ha ha. Dass wir beim Wandern in Slowenien beinahe von einem Bären gefressen werden – zumindest gefühlt, denn für Übertreibungen bin ich grundsätzlich nicht bekannt – relativiert die Sache vielleicht ein wenig. Eine andere Freundin rät mir, wäre ich ein Kind, würden wir den Silberfischen Namen geben, um die Angst vor ihnen zu verringern. Ich taufe sie Familie Frisch. Das Familienoberhaupt heißt Elmar.

Als ich eine Woche später abends aus dem Urlaub zurückkomme, verabrede ich mich direkt in einer Bar, um gleich wieder aus meiner Wohnung fliehen zu können, die in meiner Vorstellung mittlerweile von Ungeziefer wimmeln muss. Aber als ich ankomme und vorsichtig alle Räume durchschreite, das Licht an- und ausschalte, finde ich nichts.

„Kennen Sie Tiere mit Humor?“ Ja, Herr Frisch. Ich finde viele Tiere ziemlich lustig und bin der festen Überzeugung, dass einige von ihnen auch Humor besitzen. Katzen, Affen, Elefanten, zum Beispiel. Pelikane. Erdmännchen. Aber Insekten?

Warum gehen Ameisen nicht in die Kirche?, lautet einer meiner Lieblingswitze. Weil sie In-sekten sind.

Ich glaube nicht, dass Insekten Humor besitzen. Denn das würde sie sympathisch und nahbar machen, geradezu menschlich. Ich glaube, dass sie genauso viel Angst empfinden wie ich, aber noch mehr Spaß daran haben, mich zu tyrannisieren. Ich glaube, dass sie es gezielt auf mich abgesehen haben, meine Angst spüren können und sich insgeheim über mich lustig machen. (Vielleicht haben sie doch Humor?) Ich fühle mich von ihnen persönlich angegriffen, sie stellen meine Wohnung, meine Würde und mein  Leben infrage und das werde ich ihnen niemals verzeihen.

Bei weiterer Recherche im Internet stoße ich irgendwann auf Papierfische. Und plötzlich wird mir alles klar. Max Frisch auf dem Sofa. Das Ungeziefer an der Wand. Es muss ein riesiger Papierfisch gewesen sein, der aus dem Buch gekrabbelt ist, samt Verwandtschaft. Beruhigend ist das nicht unbedingt, aber wenigstens kann ich nun einen Text schreiben. Und mir endlich ein neues, größeres Sofa kaufen. 


So sollte diese Geschichte enden, so hätte sie enden können. Es wäre ein guter Schluss gewesen, vermutlich sogar besser als der in Kafkas Verwandlung. Aber stattdessen geht es weiter, die Kernfamilie Frisch vergrößert sich in allen Farben und Formen und besucht nach und nach all meine Zimmer. Elmar scheint ein überdurschnittlich potenter Silberfisch gewesen zu sein, der die Frisch-Dynastie vom Aussterben bewahren will. Als ich an einem Samstag beim Putzen und Wäsche waschen erneut auf einen seiner Verwandten stoße, drehe ich schließlich endgültig durch. Nacheinander rufe ich all meine Notfallkontakte an, packe einen Rucksack und verlasse meine Wohnung. Tief und fest schlafe ich bei Freund:innen auf dem Sofa. Am nächsten Tag erobern wir gewappnet mit Essigschalen, Lavendelduft, Palo Santo und Hygrometer meine Wohnung zurück. Gemeinsam lachen wir über meine Neurosen, aber wir sprechen auch darüber, warum die Silberfische diese starke Reaktion in mir auslösen. Warum ich ihr Dasein in meinem Privatraum als Kontrollverlust empfinde, an anderen Orten jedoch nicht. Warum ich mehr Angst vor der Möglichkeit ihrer (Omni-)Präsenz als vor ihrem konkreten Wesen habe. Warum ich mich ihnen allein ausgeliefert fühle, sie aber in Gesellschaft kein Problem für mich darstellen. Und ja, ich könnte diesen Ängsten, diesem Ekel noch tiefer nachgehen und mich fragen, warum ich nicht resilient genug bin. Das Modewort der Stunde. Aber will ich das? Darf ich nicht einfach Angst vor Silberfischen haben?

In den nächsten Tagen und Wochen finde ich heraus, dass ich die netteste Hausverwaltung Berlins habe. Ohne Zögern ruft sie Fliesenleger und Tischler an, um die Silikonfugen und Fußleisten überprüfen zu lassen. Vor allem aber ruft sie einen Schädlingsbekämpfer, der so unglaublich nett ist, dass ich ihn auf der Stelle heiraten möchte. Wir verstehen uns auf Anhieb gut. Geduldig hört er mir zu, wie ich ihm jede Silberfischbegegnung detailliert beschreibe. Dann sagt er liebevoll: „Frau Brüggemann, jetzt lassen Sie mich mal meine Arbeit machen. Und wenn das nicht reicht (ich merke schon, Sie haben da eher so eine Null-Toleranz-Grenze), dann sehen wir uns halt in ein paar Wochen wieder. Wir kriegen das schon hin, ist doch alles nicht so schlimm. Aber ein bisschen arbeiten müssen Sie vielleicht auch an sich, in Ordnung? Und vor allem ganz viel staubsaugen. Viel staubsaugen. Wenn die Viecher ihnen das Leben zur Hölle machen, dann tun Sie das jetzt auch.“ Ich frage ihn neugierig, was viel staubsaugen für ihn bedeutet und stelle mich darauf ein, von nun an morgens, mittags und abends zu staubsaugen. Er antwortet: „Naja, so einmal die Woche schon.“ Ich lache laut und als er fragt, ob ich das viel oder wenig finde, lachen wir beide. Und zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich wieder dieses kindliche Wissen, von dem man als erwachsener Mensch so oft glaubt, man habe es für immer verloren: Es wird alles gut werden. Nachdem das Gift eingewirkt ist und ich ein paar Tage verreist war, wird tatsächlich alles anders. Gemeinsam mit Freundinnen streiche ich meine Küche, esse und koche wieder gern zuhause (was vor allem meinem Kontostand gut tut, denn Silberfische sind teure Zeitgenossen). Ein paar tote Ungeziefer hier und da, wer weiß, wie lange die Wirkung des Gifts anhält, aber vor allem spüre ich, wie sich in mir etwas verändert, wie ich nach und nach meinen Lebensraum zurückgewinne, meine Wohnung wieder so richtig genieße und eine grundsätzliche Gelassenheit verspüre. Der Frühling ist plötzlich da und dann auf einmal schon der Sommer, ich hole meine Einweihungsfeier nach und kenne jetzt immerhin den nettesten Schädlingsbekämpfer in ganz Berlin. Außerdem gibt Der Silberfisch in meinen Augen einen ganz hervorragenden Buchtitel.