von Katharina Walser

Mamice /

Wann liegen wir wieder auf bunten, aufgerauten Decken, 

in kühlen, unverputzten Häusern /

Grillen Klang, Grillgeruch, in der Sonne grillen,

zerlaufen zwischen Kirschpita und Olivenöl / 

wenn sich die Gedanken verzweigen, wie die Arabesken der Decken, 

es macht einen ganz blödsinnig, dieses gradlinige Denken. 

(Digitale) Postkarte an meine Mutter, Juli 2021


I // Runter


Im Sommer 2021 fuhr ich für sechs Wochen runter – also nach Kroatien. Runter hat sich so etabliert. Nicht nur für mich, sondern auch für die meisten anderen mit ex-jugoslawischer Geschichte, die ich bisher kennengelernt habe, für die sich im Laufe der Jahre durch geografische Bewegungen auch sprachliche Blickpunkte verschoben haben. Der Standort, von dem aus diese Blicke geworfen werden, ist oft Deutschland: das Land Westeuropas mit den größten Einwohnerzahlen der kroatischen Diaspora.  

Runter gefahren sind wir in meiner Erinnerung immer schon, doch eine ganze Zeit lang standen der obligatorischen Sommerfahrt erst Hausarbeiten und Semesterjobs, dann familiäre Krankheitsfälle und schier endlose Bewerbungsprozesse im Weg. Nun, nicht gänzlich im Weg, denn gefahren sind wir meist trotzdem, nur eben wesentlich kürzer und ich immer mit einem Laptop auf dem Schoß. Meine Tastatur klebt mittlerweile in den Zwischenräumen – wegen der zeremoniellen Pipi Limo, die ich an der ersten Raststätte nach der slowenischen Grenze kaufen muss, trotz der unebenen Straßen, die teilweise vor uns liegen.  

Nun nahm ich, zum ersten Mal in vertraglich und finanziell stabileren Verhältnissen, den Laptop zwar mit (denn so stabil, dass man einfach sechs Wochen unbezahlten Urlaub nehmen könnte, waren die Verhältnisse dann auch wieder nicht), aber während der Fahrt habe ich nicht geschrieben oder korrigiert, sondern aus dem Fenster gesehen. In beinahe Proustsche Melancholie vertieft, die der Geschmack der viel zu süßen Orangen-Limonade ausgelöst hat, beobachtete ich endlich wieder aufmerksam die Veränderungen im Landschaftsbild und der Architektur, die vor dem Fenster vorbeiflogen. Slowenien ist das Zwischenstück zwischen deutschsprachiger Sauberkeit und slawischer Rauheit, wo sattgrüne Vorgärten und gepflegte Fassaden, Apfelbäume und Zwiebeltürme mit Autogrill Restaurants, Balkonen ohne Putz und Geländer, felsigen Kanten und breiten Pinien konkurrieren. Der Blick aus dem Autofenster war weniger ein Betrachten, in dem man mit neugierigem Interesse auf unbekannte Umwelt blickt, sondern ein versunkenes Zusehen, wie bei einem Film, den man schon unzählige Male gesehen hat, den man immer und immer wieder bewusst in sich aufnimmt, um in dieser vertrauten Stimmung der Bilder baden zu gehen – comfort binge einer Topografie. Denn die Fahrt runter ist auch immer eine Fahrt zu all den vorherigen Malen, in denen ich diesen Verlauf beobachtet habe, ein gleichzeitig nostalgisches Erinnern und vorfreudiges Ausmalen der kommenden Zeit unten


Das letzte Mal, als ich diesen Landschaftsverlauf so bewusst zelebriert hatte, war ich noch ein Kind – als mehrere Wochen in Kroatien noch Teil des jährlichen Deals waren. Dass dieser Deal der Sommerferien zwischen Schule und Lohnarbeit leistenden Elternteilen ein problematischer und durch und durch auf die heteronormative, klassische Kernfamilie ausgerichteter war, wusste ich damals natürlich nicht. Aber ich wusste, dass es mehr gab als die sorglosen Sommerferien. Denn zum einen war ich auch ohne meine Eltern unten gewesen, und zum anderen war dieser Aufenthalt schon immer anders gerahmt als die Sommerferien einiger Mitschüler:innen. Selbst wenn sich mein deutscher Vater stets vorgenommen hatte – so weit es finanzielle Mittel zuließen und manchmal auch über sie hinaus – an den Strand zu fahren, Essen zu gehen und so nah an das klassische Sommerferienbild heranzukommen, wie nur irgend möglich, so wusste ich doch ganz genau, was meine Mutter meinte, als ich sie vergangenes Jahr nach unseren eineinhalb Monaten in Dalmatien verabschiedete. „Machen wir eigentlich irgendwann auch mal richtigen Urlaub?”, fragte sie. Ich lachte laut auf und wir fielen uns in die Arme, während mein Stiefvater, ohne es sich groß anmerken zu lassen, ein wenig ungeduldig darauf wartete, die stark bepreiste Parkzone in der Spliter Innenstadt verlassen zu können, auf der wir meist nur kurz hielten, um all unser Gepäck in den Kofferraum zu stapeln, nachdem das Auto wochenlang tief im Großstadtstaub auf die Fahrt rauf gewartet hatte. Obwohl ich lediglich beschlossen hatte noch eine Woche länger zu bleiben als meine Mutter und wir uns schon bald in München wiedersehen würden, umarmten wir einander noch einmal fester, als würden wir uns für lange Zeit verabschieden.

Es schien bei unserer emotionalen Verabschiedung nicht darum zu gehen, wie lange wir ohne einander auskommen mussten, sondern eher um ein gefühlvolles Begehen dieses Ortes und der so verschiedenen Erinnerungen an die Fahrten nach unten, die ihre Frage nach dem Urlaub aufbrachte. Denn ich wusste, wenn sie von richtigem Urlaub sprach, dann meinte sie diese Vorstellung, die wir uns aus schicken Airbnb-Anzeigen und Erzählungen von Kolleg:innen bis heute zusammenreimen; die Utopie der reinen Erholung. Ein paar Wochen ohne Sorgen, Termine und vor allem: ohne Aufgaben. Links einen Schaumwein in der Hand und rechts einen absurd dicken Roman, von dem wir gar nicht erst vor hatten, ihn zu Ende zu lesen. Unsere Urlaube hingegen begannen meist nicht mit der Auswahl einer solchen Faux-Lektüre für schöne Urlaubsbilder, sondern mit dem obligatorischen Gang zur Drogerie, um die Einkaufsliste unserer Verwandten abzuarbeiten, die Dinge von oben brauchten und gingen weiter mit einem Kofferraum voller dunkelblauer Nivea-Creme Töpfchen und mindestens einem Möbelstück. Irgendwie gab es immer ein Möbelstück, das für unten gebraucht wurde und das man nicht für Schreinerpreise in der hiesigen Umgebung eben mal schnell bestellen konnte. Heute scheint es mir ebenso absurd, wie es damals meinem Vater erschienen sein muss, dass der günstigste und vor allem auch üblichste Weg, neue Möbel zu beschaffen, lange war, dass jemand aus Deutschland eine billige Pressspankommode vom Schweden knappe 900 Kilometer durch die Alpen und an der Adria entlang runter karrte. 

Als ich so im Auto saß und an meiner Limonade nippte, atmete ich tief durch, gespannt wartend auf die erste Biegung, in der ich das Meer sehen würde – die Peripetie. Durchatmend und diese kurzen Momente der Ungebundenheit genießend, während ich an die Tage in der Stadt dachte, die wir haben würden, bis wir aufs Land weiter fahren würden, wo dann die Holzbank, die wir diesmal dabei hatten, aufgebaut werden musste, die Verwandten besucht werden wollen, der Garten umgegraben werden muss und das Holz für den Winter vorzubereiten ist. Meine Großmutter war sich letzten Sommer sicher gewesen, dass sich ein Mann, der ein paar Häuser die Straße runter lebte und eine Fehde mit ihr führte seit sie beschlossen hatte, ihren Käse bei jemand anderem zu kaufen, an ihrem Holz bedient hatte. Wenn uns also zwischendurch einmal langweilig sein sollte, dann wäre es auch nett, wenn wir einen Schuppen bauen könnten. 

II // Wieder runter


Nachdem wir zwei Tage lang den Tourismustraum gelebt hatten, lustwandelnd zwischen öligen Fischgerichten und Spaziergängen an der Riva, waren wir auf dem Weg aufs Land und machten noch den üblichen Stopp im nächstgrößeren Ort (zu dem natürlich kein regelmäßiger Bus fuhr, mit dem meine Großmutter ihre Einkäufe selbstständig transportieren könnte), um für die kommenden Wochen aufzustocken. In dem kleinen Supermarkt war es kühl und dunkel, und wenn mich nicht am Anfang einer Kroatienreise gerade im Supermarkt ein enormes Stresslevel heimsuchen würde, wäre ich länger geblieben, um der trockenen Augusthitze im staubigen Hinterland zu entkommen. Aber der Supermarkt ist der Ort, an dem Vokabular auf mich lauert, das ich nicht gewohnt bin; an dem Mengenangaben und Gebäck hämisch zu mir runter grinsen, deren Bezeichnungen ich mir nie sicher war (es ist absurd, wie viele Namen ein und dasselbe Gebäck haben kann); wo Waagensysteme gespannt darauf warten, dass ich mich endlich als Švabica – als die deutsche Kartoffel – outen würde, die ich auch bin. Das Stresslevel fällt ab, als ich nach langer Suche endlich den richtigen Knopf für die Pfirsiche gefunden habe. Wieder im Auto kam dann der unangenehmste Teil jeder Fahrt aufs Land, durch Schlagloch gesäumte Serpentinenstraßen bergauf. Die Holzbank rutschte bei jeder Kurve durch den Kofferraum und ich dachte daran, ob es die Pfirsiche, die ich mit meinem Stolz erkauft hatte, wohl bis zu meiner Großmutter schaffen würden. 

Natürlich hängt diese ewige Organisation von Mobiliar und die ewig währenden Aufgaben, die auch in diesem Sommer auf uns warteten, schlicht damit zusammen, dass man als Familie nicht mehr nur an einem Ort lebt, sondern in der Regel mehrere Haushalte zu unterstützen hat. Und damit meine ich nicht die in Westeuropa verbreitete Form der Einzelhaushalte, sondern die Tatsache, dass diejenigen, wegen denen wir (die Diaspora zweiter und dritter Generation) in Deutschland sind, oft nicht vor hatten lange dortzubleiben und einige, so wie meine Großmutter, als sie es endlich konnten, wieder runter gingen. So gibt es nicht nur mehrere Haushalte zu versorgen, sondern diese Versorgung muss immer über drei Landesgrenzen hinweg organisiert werden. Oder wenn mal wieder ein Brief vom Bürgerbüro oder der Stadtverwaltung kommt, auch über eine immense Sprachbarriere gehievt werden. 


„Du könntest ja auch in Kroatien studieren”, sagte meine Großmutter vor einigen Jahren über ihre Zeitung gelehnt, während ich mit meiner Mutter in ein Gespräch über meine anstehenden Prüfungen vertieft war. Sie sagte es mit einer Beiläufigkeit, als sei es absurd, dass ich nicht selbst lange erkannt hatte, dass ein solcher Umzug all meine Anstrengungen im Alltag aufheben könnte, wenn ich doch nur nicht so stur wäre und in Zagreb wohnte. Ich weiß mittlerweile, dass diese Art der Parallelwelt-Skizze, die meine Großmutter von Zeit zu Zeit entwirft, am besten unkommentiert bleibt und lediglich zum Ausdruck bringt, dass sie sich natürlich wünscht, die Entfernung zwischen uns, auf welche Weise auch immer, verkürzen zu können. Aber zu Studienzeiten entgegnete ich, je nach Tagesverfassung, wahlweise mit einer ruhigen Erklärung darüber, wieso es diesen speziellen Studiengang so an der Universität Zagreb nun mal nicht gab und weshalb ich ihm auch sprachlich nicht gewachsen wäre (was in der Regel eine Folgediskussion darüber auslöste, wieso ich mich in der Vergangenheit nicht aktiver darum bemüht hatte, das Hochkroatisch zu beherrschen – „Ah sama si kriva” – selbst schuld). Oder ich reagierte wie an diesem Tag, nervlich wirklich völlig ausgereizt zwischen zu viel Filterkaffee und der anstrengenden Lektüre irgendeines weißen Denkers, mit erhobener Stimme: „Wir haben es dir schon so oft erklärt. Unser Lebensmittelpunkt ist hier. Ich kann einfach nicht verstehen, wieso du nicht akzeptieren kannst, dass wir kein Interesse daran haben, in Kroatien zu leben.” Das war nicht einmal damals gänzlich wahr und heute wäre es schlicht gelogen. Während meines Studiums imaginierte ich bereits immer wieder die Szenerie, in der ich einfach für einige Jahre nach Kroatien gehen, Touristenführungen in einem hiesigen Museum geben und endlich, endlich die Sprache wirklich beherrschen würde. In diesem letzten langen Sommer fragte ich mich selbst oft, wieso es nie dazu gekommen war. Ich fiel meinem Jugend-Ich also grob in den Rücken. Schon allein deshalb, weil mir ihr Tonfall nicht gefiel.  


Wir passierten das Ortsschild und fuhren noch eine Weile weiter, bis auf der rechten Seite die vertraute, rostig-gelbe Tafel erschien und wir von der Hauptstraße – scharf rechts und bergab – in das Tal einbogen, das sich mit meiner Großmutter den Namen teilt.


Meine Großmutter kehrte schon früh wieder an ihren Geburtsort zurück, doch es dauerte noch Jahre, bis sie sich dazu entschied, wieder dort zu leben. Auch deshalb, weil man sie bei ihrer Rückkehr nicht gerade mit offenen Armen empfangen hatte. Das kleine Dorf an der bosnischen Grenze war noch da, doch ihr Elternhaus nicht. Nach einigen Nachbarschaftsbesuchen, bei denen jeder gleich kleinlaut beteuerte nicht viel darüber zu wissen (man wollte nicht der Verräter sein, sondern lieber aus der Distanz beobachten, wann die Bombe hochging) und einigen unangenehmen Telefonaten mit längst verschollenen Verwandten, erfuhr sie schließlich, dass das Haus von niemand geringerem als ihrem Bruder abgerissen worden war. Nicht, um dort neu zu bauen, sondern schlicht, um die Steine zu verkaufen. Eine angeheiratete Tante hingegen hatte in der Abwesenheit meiner Großmutter dafür gesorgt, dass jedes noch so kleine Gerücht, dass es über meine Familie auszuschmücken gab, auch das notwendige Lametta bekam. Sie neidete ihr nicht nur die enge Beziehung, die sie zu meinem verstorbenen Onkel gepflegt hatte, sondern auch die Möglichkeit, ein Leben geführt zu haben, das man ausschmücken konnte. Als meine Mutter sich scheiden ließ, war der Weihnachtsbaum des dörflichen Nachbarschaftsklatschs so reich geschmückt wie nie. 

Mein Onkel gehörte zu einer anderen Gruppe Rückkehrender als meine Großmutter. Auch er hatte lange in Deutschland gewohnt, dort gearbeitet und Kinder bekommen. Es hatte so weit gereicht, dass man in ein Mietshaus im Vorort ziehen konnte, doch nicht soweit, um dort seine Rente würdevoll verleben zu können. Viele von diesen Rückkehrenden haben die Felder, auf denen sie als Kinder gearbeitet hatten, verlassen, um oben zu putzen und Pakete zu schnüren. Als Körper oder Geist nach diesen zermürbenden Arbeiten nicht mehr mithalten konnten - in den Augen des deutschen Rentensystems war das oft zu früh – und sie die Mietshäuser nicht mehr halten konnten, gingen sie wieder runter, vielleicht in der Hoffnung, die frühzeitige Leere zumindest in bekannter Gesellschaft und der eigenen Sprache verbringen zu können. Einige von ihnen, wie mein Onkel, kamen zurück in unverputzte Häuser ohne Abwassersysteme oder Strom.  Denn während alle oben waren, hatten die Häuser geschlafen. Und wie einige dieser Rückkehrer wurde er schnell krank. 

Meine Großmutter kehrte zwar auch “zurück” in das Land, in dem sie geboren wurde, aber sie hatte das große Privileg, es nicht aus finanzieller Not oder aus Angst vor der Vereinsamung tun zu müssen. Sie ging des Bodens wegen. Und auch wenn Boden und Land in national gefärbten Parolen gerne synonymisch gewertet werden und meine Großmutter sicher nicht frei ist von nationalistischen Werten, so war es die Liebe zur Erde, nicht zum Staat, die sie wieder nach unten zog. Es war wegen der Erde, die sie umgegraben hatte und der Saat, die sie vor Jahrzehnten dort setzte, wegen der verlorenen Menschen, die auf ihr gegangen sind und der Träume, die sie dort zum ersten Mal träumte, weshalb sie zurückging – an ihren „Ort der Steine”. 


III // Naši

Wenn meine Großmutter und ich in Deutschland ins Restaurant gehen und ein Kellner besonders freundlich zu ihr ist oder wir bei der Ärztin sitzen und ein Helfer sie früher dran nimmt als erwartet, dreht sie mir oft den Kopf zu und flüstert: „On je naš.” Wörtlich übersetzt hieße das: „Er ist unser.” Sinngemäß müsste man wohl, um der Bedeutung im Deutschen treuer zu bleiben, übersetzen: „Er ist einer von uns.” Oder auch: „Der gehört zu uns.” Die meiste Zeit meiner Jugend habe ich mich unendlich geschämt, wenn dieser Satz fiel. Noch mehr geschämt habe ich mich, wenn der Satz ein paar Minuten lauter noch einmal wiederholt wurde, in der Hoffnung, dass die Person, die soeben als “unsere” eingeordnet wurde, es auch ja mitbekäme und sich hoffentlich mit einer kroatischen Antwort zu erkennen geben würde. Geschämt hatte ich mich nicht nur aufgrund der unangenehmen Situation, in der ich die betreffenden Personen vermutete, wenn sie am Arbeitsplatz über ihre Herkunft sprechen sollten, sondern auch, weil ich all die Fragen danach, wer eigentlich überhaupt woher käme, spätestens nach drei Semestern postkolonialer Theorie für unfassbar anmaßend empfand. So hatte ich immer das Gefühl, wenn der laut wiederholte Satz seinen Zweck erfüllt hatte und gehört wurde, direkt in Verteidigungshaltung gehen zu müssen. Doppelt unangenehm war die Situation, da mir natürlich bewusst war, mit einer Intervention nicht zwingend die Person zu schützen, die angeblich unsere ist, dafür aber mit Gewissheit meiner Großmutter über den Mund zu fahren. So entschied ich mich oft, schlicht nichts zu sagen, besonders, da wir nicht im Geringsten eine Beziehung pflegen, in der ich mich Augen rollend abwenden möchte, um dem Gegenüber zu verstehen zu geben, dass er sie nicht weiter beachten solle. Aber zwischen Respekt für meine Großmutter und Angst, eine fremde Person würde durch ihre Worte in eine emotional unerwartete oder im schlimmsten Fall retraumatisierende Position gebracht werden, platzte es an weniger resilienten Tagen doch aus mir heraus. “You are a fucking hypocrite”, dachte ich dann oft. 

Vielleicht lag meine innere Spirale, die solche Situationen lange auslösten, daran, dass ich zu lange nur an dieser ersten Übersetzung von naš festhielt, in der ich vermutete, dass in diesem Erfragen nichts anderes lag als Abgrenzung. Der da, der gehört zu uns und nicht zu denen hier. 


Aber naš lässt auch ein Bedeutungsspektrum zu, in dem es nicht um Besitzansprüche geht. Das ist das Unser, dass uns an diesem Nachmittag in Empfang nahm, als wir vor dem Haus meiner Großmutter unser Gepäck ausluden während ihre Stimme durch den Garten schallte, um uns zu verkünden, dass bereits „naša kava” aufgebrüht wird. Unser Kaffee, der Heimische, funktionierte für mich schon immer anders als das Unser im Restaurant oder im Wartezimmer. Dieses Unser gehört zu der zentralen und rituellen Bedeutung des Mokkas, die in der Zubereitung zelebriert wird, wie im gemeinsamen trinken. Ich habe es, glaube ich, nie erlebt, dass wir in ein Haus von Freunden oder Verwandten kamen und nicht als erstes Kaffee gekocht wurde. Selbst zu später Stunde, wenn der Mokka keine gute Idee mehr war, gab es Kaffee. Dann aber das gesüßte Pulver aus der zylinderförmigen Dose, den alle immer „Kairo” aussprachen. Kaffee steht in Kroatien, und eigentlich auf dem gesamten Balkan, synonymisch für die Einladung; dafür, notfalls einen Grund zu erfinden, um gemeinsam am Tisch zu sitzen, Geschichten und Tratsch auszutauschen und vor allem auch, um beieinander sitzen zu bleiben, selbst wenn es nichts zu erzählen gibt. Es ist kein abgrenzendes, ausschließendes naši, sondern ein warmes, umschließendes Unser, das uns auch an diesem Tag der Ankunft im kroatischen Hinterland willkommen hieß.

„Du meinst den türkischen Kaffee?”, fragte ich meine Großmutter bewusst provokant, als ich mich im Haus zu ihr an den Holzofen stellte, grinste und meine Hüfte leicht neckend an ihre schwang. Ihre Augen verengten sich und ein kokettes Lächeln umspielte ihre Lippen. Und obwohl sie genau wusste, dass ich mit meiner Korrektur des Kaffeenamens auf ihre hypokritischen politischen Ansichten anspielte, konnte sie nicht anders als schnell nachzulegen: „Na, na, diesen Kaffee haben wir wirklich schon immer gemacht, auch vor den Osmanen.” Da ist es, das Narrativ des immer schon. Es ist ein wichtiges Narrativ für Kroatien, vor allem deshalb, weil es eine geistige Selbstwahrnehmung von Überdauerung erzählt, die sich stark von der realpolitischen Geschichte des Landes unterscheidet. Denn im Sinne der Grenzziehungen und der politischen wie ökonomischen Autonomie ist Kroatien nun wirklich das genaue Gegenteil eines immer schon. Aber ich lasse es so stehen, da ich so kurz nach unserer Ankunft nicht über die kroatische Besatzungsgeschichte sprechen will, nicht über den Krieg und nicht über Heldenbilder. Ich bin noch nicht bereit über die nationalistischen und teils migrationsfeindlichen Ansichten zu streiten, die in kleinen Floskeln in den alltäglichen Sprachgebrauch hineingeflossen sind, wo sie trotz ständiger Wiederholung nicht an Schrecken verloren haben. Ich wollte Kaffee trinken.