Zwischen dem Neuen und der Wiederholung: Eine kritische Auseinandersetzung mit der Morgenroutine

[ein Beitrag zu Schreibprojekt III: „Wiederholung(en)“]

von Laura Plum

Es hat wieder nicht geklappt. Schlaftrunken, ummantelt von einer mächtigen Müdigkeit, die immer gewinnt, habe ich den Wecker um 06:00 Uhr morgens erneut weggedrückt. Und mich umgedreht. Ein weiterer Tag, den ich ohne geplante Morgenroutine starte. Seit einigen Wochen – okay, nein, eigentlich seit mindestens zwei Jahren – versuche ich einige vermeintlich gesunde und achtsame Routinen in meinem Leben zu integrieren, mit der Hoffnung, die überall angepriesenen Effekte zu spüren. Vergeblich. Das Buch „Miracle Morning“ des US-amerikanischen Autors Hal Elrod erläutert, dass die Morgenroutine deswegen so wichtig sei, weil sie unseren Alltag präge und das Mindset für  den Tag festlege. Ein paar Minuten meditieren, vielleicht anschließend eine kleine Runde Yoga, danach lesen und zum Schluss ein paar Affirmationen für den Tag durchgehen – so könnte sie aussehen, die  empfohlene Morgenroutine. Vielzählige Instagram- oder TikTok Accounts leben es uns vor. Neu ist diese Idee der achtsamen Wiederholung am Morgen jedoch nicht.  Effizienz, Motivation und Produktivität durch strukturierte Abläufe zu steigern, ist seit Jahrzehnten erklärtes Ziel unzähliger Zeitmanagement-Ratgeber. Dennoch scheint es, als hätte Social Media einen neuaufflammenden Hype um solche Routinen entfacht. Unzählige Influencer:innen aus den Generationen der Millenials und der Gen-Z widmen sich auf Instagram dem Thema Selfcare oder Mindful Living, während sie im Kerzenschein ihre Morgenroutinen filmen. Die Follower:innen lieben es. 

Millennials, zwischen 1981 und 1995 geborenen Jahrgänge, sind bekannt als eine Generation, die altbewährte Strukturen, Entscheidungen und Zustände auf den Prüfstand stellt. Die Lebensziele unserer Eltern - beispielsweise die Eheschließung oder der Erwerb eines Reihenhäuschens -, die lange Zeit als das Nonplusultra eines erfüllenden und erfolgreichen Lebensstils  galten, sind für Millennials bei Weitem nicht mehr so relevant wie für vorherige Generationen. Ich gehöre einer Generation an, die dem Pluralismus ausgesetzt ist, ihn lebt, verehrt und gleichzeitig  verflucht. Statt schnellstmöglich die oder den Partner fürs Leben zu finden, stillt Tinder unseren Drang nach immer wieder neuen Begegnungen, statt des Kaufes eines Reihenhauses im Vorort, ziehen wir von einer WG in die nächste runtergekommene Einzimmerwohnung, statt uns beruflich mit Mitte zwanzig für immer festzulegen, suchen wir weiter, bis wir vielleicht unseren “Sinn” finden. Zugegeben, ich werfe mit Klischees um mich. Doch wie kann es sein, dass dieser Instagram-Trend der  wiederholenden Routinen in meiner Generation, einer Generation, die das Neue zelebriert, einen solchen Anklang findet? 

Zunächst einmal bieten wiederholende Strukturen eines: Sicherheit in diesen Zeiten voller Optionen und globale Krisen, in denen nichts planbar scheint. Indem wiederholte Tätigkeiten zur Routine werden, werden sie nach und nach zum Automatismus – physisch, aber auch geistig. Die notwendige Konzentration wird geringer, ohne dass die Qualität leidet. Wir sind vertraut mit der Situation und lassen uns in diesen Momenten einfach fallen. Aus Sicht der Hirnforschung verfallen wir bei der Ausführung wiederholender Routinen in einen Default-Modus.[1] Je öfter wir eine Routine leben, umso ausgeprägter unsere Nervenverbindungen. Es ist naheliegend, dass wir in diesen Wiederholungen nach einer Konstante suchen, um dieser Welt mit ihren unzähligen Wegen etwas entgegenzusetzen. Eine feste Tagesstruktur, beginnend mit einer Morgenroutine, verspricht zumindest die Illusion, dass ich mein Leben im Griff habe. Mir ist zwar unklar, wie ich mir meine weitere berufliche Zukunft vorstelle, ob ich jemals bereit bin eine Familie zu gründen, oder ob und wie wir die Klimakrise stoppen können – aber hey, immerhin habe ich eine Morgenroutine. Toll. Es kostet viel Arbeit und Zeit, sich mit seinen tiefergehenden Ängsten auseinanderzusetzen.  Stattdessen ist es einfacher, sich dem Wunsch nach einer alles lösenden, Instagram inszenierten Morgenroutine hinzugeben. 

Falls diese innere Flucht mein Beweggrund für die Sehnsucht nach einem achtsamen Start in den Tag ist, muss ich mir wohl eingestehen, dass ich es mit einer Illusion zu tun habe. Eine Selbsttäuschung, inspiriert von den sozialen Netzwerken, die mir ein geregeltes Leben versprechen, wenn ich nur meinen Tag mit einem Journal beginne 

Die auf den Social-Media-Kanälen dargestellten Routinen dienen oftmals lediglich einem Zweck: Es geht um Likes, also um Anerkennung dafür, dass man mit einem wunderschönen Make-Up, einer perfekten Frisur und einem tollen Outfit so diszipliniert sein Leben unter Kontrolle hat. Nicht selten werden dabei noch Produktempfehlungen für die angezündete Kerze, die vegane Yoga-Matte oder die Meditations-App ausgesprochen. Hier trifft Wiederholung auf Selbstoptimierungs-Wahn im Namen der kapitalistischen Agenda. Das ganze Thema Morning Routine ist längst ein Business geworden, mit dem sich gutes Geld verdienen lässt. Verschiedene Accounts vermitteln unterbewusst die Botschaft, dass unser Wert an diesen Routinen hängt. Kein Wunder, dass wir Glückstagebücher kaufen, die uns  daran erinnern, wiederholend unsere Dankbarkeit zu notieren, oder Apps installieren, die uns  ermahnen, regelmäßig „achtsam“ zu sein. Doch nicht nur unsere Kauflust, soll dabei geweckt werden, die ganze Wiederholungspraxis selbst steht im Zeichen des Kapitalismus. Durch die propagierte wiederholende Routine sollen wir nicht  nur unsere berufliche Entwicklung und unseren Körper optimieren, um dem Leistungssystem immer besser und effizienter zur Verfügung zu stehen – auch unser Innenleben ist Zielscheibe der  Optimierungswut. Überschriften von Online-Artikeln wie „7 Gründe, warum eine Morgenroutine, dich  erfolgreicher macht“, „Meine Morgenroutine: Warum ein richtiger Start in deinen Tag so wichtig ist“ oder „Morgenroutine: In kürzester Zeit zu mehr Energie, Erfolg und Produktivität“ triggern oft die innersten Wünsche des Menschen nach Glück, Sicherheit und nach einer schnellen Lösung. Auch auf mich  diese Überschriften eine hohe Anziehungskraft. In der Masse, in der Webinare zur Persönlichkeitsentwicklung, Dankbarkeits-Apps und Happiness-Mantras den Markt fluten, sind Morning Routines Teil einer neuen Kultur, die sich in unseren ganz persönlichen Alltag eingeschlichen hat. 

Eventuell ist mein Wunsch hinter der Morgenroutine also schlicht dem kapitalistischen System und einem  Optimierungswahn geschuldet. In diesem Fall sollten wir uns selbst kritisch hinterfragen und Routinen, die unter solchen Vorwänden etabliert werden, über Bord werfen. 

Diese Betrachtungsweise wäre dann aber doch zu einseitig. Viele renommierte Therapeut:innen verwenden die Macht der Wiederholung als Mittel in  der Verhaltenstherapie. Hintergrund ist, dass Klient:innen ihre bisherigen Tagesabläufe, Strukturen und Routinen hinterfragen sollen, um negative oder schädliche Muster zu erkennen. Wenn das Bewusstsein erst einmal da ist, sollen schlechte Verhaltensweisen durchbrochen und neue, heilsame Routinen etabliert werden. Dabei geht es auch um die kleinen Veränderungen im Leben. Oftmals glauben wir an den Trugschluss, dass bei großen Sorgen oder Problemen auch große Veränderungen geschehen müssen. Die Autorin und Psychotherapeutin Miriam Junge beschreibt in ihrem Buch „Kleine Schritte mit großer Wirkung“ stattdessen das Gegenteil: Es sind unsere sogenannten Micro Habits,  kleinste Gewohnheiten, die eine große Wirkung entfalten.[2] Statt stundenlang verkrampft am  Schreibtisch zu sitzen, können regelmäßige kleine Pausen, genauso wie genügend Bewegung und frische Luft, Wunder bewirken. Bevor das hier aber nun zu einem Ratgeber namens „Kluge Tipps von  Menschen, die sie selbst nicht befolgen“ verkommt, halte ich diesen finalen Gedanken fest: Letztendlich sind es immer unsere alltäglichen Handlungen, egal, wie klein sie sind, welche unser Wohlbefinden mitdefinieren. Auch ich muss mir eingestehen, dass morgens eine halbe Stunde durch die Tiefen des Internets zu doomscrollen – um mir währenddessen auf Social Media die perfekt umgesetzten Morning Routines anzuschauen – etwas mit mir und meinem Start in den Tag macht. Unterbewusst. Ob ich möchte, oder nicht. 

Wenn wir die Morgenroutine demnach weniger als Selbstoptimierungsmöglichkeit, sondern als einen bewussten, wohlwollenden Moment wahrnehmen, ändert sich vielleicht unsere Perspektive darauf. Wer entscheidet zudem, nach welchem Schema unsere Morgenroutine auflaufen muss? Richtig, kein Instagram-Account und auch kein Bestseller-Buch, nur wir selbst. Außerdem können die ersten Minuten oder Stunden des Tages, wie viel Zeit man sich auch immer nehmen möchte und kann, je nach Gefühlslage anders aussehen. Es muss kein fest definiertes Schema existieren. Aus Sicht der postmodernen Philosophie schließen sich Wiederholung und das Neue übrigens nicht aus. Marion Strunk, Professorin an der Züricher Hochschule für Künste, erläutert, dass die postmoderne Kritik die Wiederholung nicht länger als Konkurrenz zum Neuen sieht: „Die  Wiederholung als eine Tat der Differenz. Das Wiederholen will ein Noch einmal, doch dieses Wieder  findet nie zur selben Zeit statt, die Zeit selbst setzt einen Unterschied, und die Wiederkehr wird  Vergegenwärtigung, Vergangenes wird abwesend anwesend“[3]. Demnach muss sich der allgemeine Drang nach Neuem, nach Umbrüchen, und der Wunsch nach einer Wiederholung am Morgen nicht ausschließen, denn die Wiederholung kann jedes Mal neu erlebt werden. Dieser Gedanke gefällt mir, weil er eine gewisse Leichtigkeit in das Thema der Routinen einbringt. Vielleicht muss ich gar nicht  versuchen, das ultimative Mindfulness-Programm immer um sechs Uhr morgens durchzuziehen. Vielleicht,  ganz vielleicht, reicht es als Wiederholung schon, jeden Morgen kurz innezuhalten, nur in dem Moment zu sein, und das Neue, das jeden Tag beginnt, zu feiern. 

 [1] https://www.zeit.de/zeit-wissen/2013/02/Psychologie-Gewohnheiten

[2] https://miriamjunge.de/mein-neues-buch-kleine-schritte-mit-grosser-wirkung/

[3] https://marionstrunk.ch/texte/84-2/

Referenzen 

ZEIT-Artikel: Mach es anders! Von Katrin Zeug, 2016. (https://www.zeit.de/zeit wissen/2013/02/Psychologie-Gewohnheiten

Kleine Schritte mit großer Wirkung von Miriam Junge, Kösel, 2020. 

Die Wiederholung von Marion Strunk, 2022. (https://marionstrunk.ch/texte/84-2/)  

Zur Autorin

Laura Plum, 27 Jahre alt, studierte in Maastricht und in Bordeaux Soziologie, Politik und  Kommunikationswissenschaften. Wenn sie nicht gerade als Wissenschaftsjournalistin arbeitet, schreibt sie Geschichten und Texte, am liebsten über gesellschaftliche Missstände.