Nach dem Glühen die Szene

von Sebastian Maile


Teil II

Als wir nach einem Barbesuch später am Abend pizzatoast- und longdrinkgefüllt auf meinem Fahrrad zu meiner Wohnung aufbrechen, um noch einen Absacker zu trinken, freue ich mich darüber, dass unser sich an das Schreibding anschließende Gespräch auf Kosten hochkulturaffiner Alki-Vernissagegänger doch noch auf einen abendfüllenden, weniger holprigen Weg geraten ist, der uns beide amüsiert hat. Nicht über uns selbst zu sprechen, sondern uns stattdessen gemeinsam über andere lustig zu machen, über die Menschheit in ihrer Gesamtheit, über das Kulturverständnis einer sich selbst als Elite empfindenden Minderheit; all das, das Außerhalb- und Darüberstehen, vielleicht auch der Schnaps, hatten zumindest bei mir ein Gefühl von Nähe erzeugt, das ich schon lange nicht mehr empfunden habe.

So lange unterwegs zu sein, war ursprünglich gar nicht meine Absicht. Eigentlich hatte ich mir infolge mehrerer geplatzter und nach eigenem Ermessen erbärmlicher Schreibversuche vorgenommen, es am Wochenende mal wieder mit einer Schreibnacht zu versuchen, was bedeuten würde, mich bei zunehmendem Schlafentzug wohldosiert volllaufen zu lassen. Ungestört von aller Außenwelt – so hoffte ich zumindest - würde sich die Genialität sicherlich von selbst einstellen, und ich wollte sie ungefiltert in die Tasten hämmern, bis irgendwann nichts mehr zu machen war, dann lange schlafen. Dass solche Versuche oftmals ein ernüchterndes Ergebnis, gepaart mit einer guten Portion Schamgefühl hervorbringen, hatte ich seit der letzten Schreibnacht erfolgreich verdrängt; offenbar scheint das Schreiben für mich das zu sein, was Tinderdates für meine paarungswilligen Freunde sind.

Während mir all das durch den Kopf geht, gelange ich zu der Überzeugung, dass eine durchzechte Nacht mit Lena einsamen angetrunkenen Schreibversuchen in jedem Fall vorzuziehen ist und dass ich das Schreiben über Erlebtes oder Erdachtes wohl ohne zu zögern gegen das Versprechen eines permanenten Erlebens eintauschen würde.

Um mit Lena auf dem Gepäckträger die Steigung des Radwegs nach der Autobahnunterführung bewältigen zu können, steige ich kräftig in die Pedale. Wäre das Treten nicht so anstrengend, würde ich nicht so schwitzen und sähe von außen betrachtet nicht so lächerlich dabei aus, wäre die Szene beinahe romantisch. Da radeln zwei junge Menschen durch die Nacht, auf einem Schrottrad aneinandergeklammert, im Rücken die bunten Lichter der auf der Autobahnbrücke vorbeirauschenden Fahrzeuge. Deren Lärm lassen sie immer weiter hinter sich, sie fahren der Stille entgegen, man hört Zikaden, wenn auch nur beim Passieren des Grünstreifens, auf dem allerhand McDonalds Müll verteilt liegt. All das untermalt mit Cut Copys Strangers in the Wind oder etwas Ruhigem von Modest Mouse und es wäre perfekt in Szene gesetzt. Dass Lena mich bittet, doch nach Möglichkeit keine Schlaglöcher oder Kopfsteinpflaster mehr mitzunehmen, weil ich dadurch ihre Muschi demoliere, holt mich zurück in die Realität, die auch schön ist, leider aber penetrant nach Frittenfett duftet, dessen süßlicher Geruch sich in der hoffentlich letzten tropischen Nacht dieses Sommers besonders gut in der Luftschicht oberhalb des Teers festhält.

 

Kurze Zeit später sitzen wir auf meinem Balkon und trinken Astra, kalten Weißwein und Spezi. Lena hat ihre Schuhe und Socken ausgezogen, um ihre Fußsohlen an die warmen Fliesen pressen zu können, für obenrum jedoch wünscht sie sich eine Decke, die ich ihr bringe und in die sie sich sogleich einwickelt. Sie erzählt mir von ihrer geplanten dreiwöchigen Italienreise, die sie ab der nächsten Woche unternehmen will, um mal aus allem raus- und dabei hoffentlich runterzukommen. Es soll etappenweise bis zum Stiefelabsatz gehen, bis nach Santa Maria di Leuca, dann wieder zurück über Bari, Tivoli und Florenz. Sie erzählt mir davon, was sie dort geplant hat, in welche Hotels und auf welche Campingplätze es sie verschlagen werde, welche Besonderheiten die Landschaft dort bereithalte und dass sie gespannt sei, ob es dann immer noch so heiß sein würde wie in dieser Woche, weil sie ja noch im Meer baden wolle. Ich höre nur mittelinteressiert zu, da es mir schwerfällt, ihre Begeisterung nachvollziehen zu können. Denn selbst habe ich noch nie den Drang verspürt, alleine in den Urlaub zu fahren, auch nicht gemeinsam mit Freunden. Dass ich München das letzte Mal länger als für ein paar Tage verlassen habe, ist nun mehr als acht Jahre her. Das war eine Studienfahrt nach Südfrankreich, die Küste und das Hinterland für etwas mehr als eine Woche; Obama hatte gerade seine rote Linie gegen Giftgasattacken in Syrien formuliert, Merkel wollte im Herbst zum dritten Mal Kanzlerin werden, die Wochenmärkte waren schön, das Meer sehr ruhig und türkis. Ansonsten ist die Erinnerung daran inzwischen großteils verblasst. Aber ich vermisse hier schließlich nichts, ich kenne keine Sehnsucht nach der Ferne, mir genügt es vielmehr vollkommen, mich an einem Isarstrand in mein Gehirn zurückzuziehen und von dort aus abzuschweifen. Ich kann dann überall sein, denke ich. Inzwischen habe ich gelernt, diese Einstellung für mich zu behalten, zumal dann, wenn andere gerade dabei sind, euphorisch von ihren bevorstehenden oder bereits unternommenen Reisen zu berichten. Manchmal frage ich mich dennoch, ob ich mir meine Haltung überhaupt leisten kann, wenn es doch mein Wunsch ist, über Dinge, über Erlebtes, über Erfahrungen schreiben zu können. Aber was ist Erleben, was sind Erfahrungen? Erlebt man auch im Traum, erlebt man in Gedanken? Sammelt man auch Erfahrung durch das präventive, sich stets wiederholende Durchdenken von Modellsituationen, die man sich zurechtlegt? Laufe ich dabei Gefahr, irgendwann alle Dinge so oft durchdacht zu haben, dass ich sie zu einer charakterlosen Idealvorstellung zerdacht haben werde und dann letztlich vor dem Nichts stehe? Werden mir irgendwann die Worte fehlen? Ich frage mich, wie Lena frieren kann; mir ist unangenehm warm, vielleicht auch, weil ich befürchte, dass sie mein Desinteresse an ihrer Erzählung jederzeit erkennen könnte, wenn ich nicht an den richtigen Stellen einhake und interessiert nachfrage.