post-nervöse Zustände
von Irma Mečević
Sie überlegte lange, führte im Geheimen Gespräche (mit sich selbst), sie kritzelte Figuren (Häuschen und Sterne aus einem Guss) und nuckelte dabei am Radiergummiende ihres Bleistifts. Vielleicht kratzte sie sich dabei unbewusst unter der Achsel, eine Rolle spielte es nicht wirklich, denn alles in einem konnte sie jetzt sagen: Ich dümple wie ein vom Siphon losgelöster Waschbeckenstöpsel in einem Meer aus undefinierbaren Essensresten.
Dann sagte ihr jemand: Gehen Sie doch mal in Dialog mit den unterschiedlichen Teilen ihrer Selbst. Vielleicht erkennen Sie ja eine von Trauer zermatschte Tomate. Möglicherweise sind die Kiwisamen abgeflossen und Sie müssen da einmal reingreifen, sie auflesen und trocknen lassen.
Man könnte ihr jetzt eine Störung der Persönlichkeit unterstellen, aber sie hatte ein wenig gelesen, und im Grunde genommen war es wohl ganz üblich, dass da unterschiedliche Stimmen in einem waren, man könnte so weit gehen, zu sagen, dass da eine ganze Familie in einem hauste, die sich Hauspantoffeln an die Stirn warf. Ein zorniger Patriarch war sicherlich auch darunter, die Kontrolettitante ebenso, und dann war da das Kind, das sich schon seit Stunden im Badezimmer eingeschlossen hatte, während die Geburtstagsgäste darauf warteten, dass die Kerzen ausgepustet und der Kuchen angeschnitten wurde. In letzter Zeit kam auch häufig der junge Werther zu Besuch, uneingeladen natürlich. Er machte es sich bequem auf dem einzigen Sessel im Haus und ließ sich drei Liter Tee aufkochen (Assam – Kamille, Hopfen und Johanniskraut verabscheute er), den er in unerträglichen Monologen sogleich wieder ergoss. Sie hörte sich das manchmal tage-, andere Male monatelang an, hockte zu seinen Füßen auf dem Boden, schmolz mit der Zeit dahin, bis irgendwer eine Decke holte, sie über sie warf und schlafen ließ. Erst da verstummte der junge Werther, legte seine Hand schützend über sie, die so fein, fast dürr wirkte, sich auf dem Kopf aber ganz schwer anfühlte. Trotz ihrer anfänglichen Abneigung gewann sie den jungen Werther nach einer Zeit immer ganz lieb, sie konnte sich gar nicht vorstellen, dass er mal von ihr gehen würde.
Zwischenzeitlich klopfte es aus dem Badezimmer. Das Kind hatte den Schlüssel aus Versehen die Toilette runtergespült und kam nicht mehr raus. Aus uneindeutigen Umständen war ihm auch der Mund verklebt, vermutlich hatte es zu viel von den Bonbons genascht, die unter dem Topf gelegen hatten, den es mit einem Holzlöffel ausfindig gemacht hatte. Der Topf mit dem ganzen Naschi war der Grund für sein selbstgewähltes Exil: Irgendwer hatte die Spielregeln nicht verstanden, dabei hatte das Kind sie ausführlich erklärt: Tust du Naschen unter Topf, Socke um Kopf, mit Holzlöffel suchen. Irgendwer hatte genickt, verstehe ich, kein Problem, dann fünf Tüten Haribo und drei Tüten Schokoriegel auf einen Haufen gekippt und einen Topf drüber gestülpt, den das Kind mit Socke um den Kopf schließlich erklopfte, nur um sogleich loszuflennen: Verstehst du gar nichts! Es musste das Naschi mit beiden Händen in den Topf gefüllt haben und wütend ins Badezimmer gerannt sein, das merkte das Kind erst, als es den Mund nicht mehr aufbekam. Das Kind klopfte also, weil es den Mund aber nicht aufbekam, wurde es nicht erhört, und weil das Klopfen sich wie das Tropfen einer Regenrinne anhörte, wiegte es sie in einen noch tieferen Schlaf.
Die Kontrolettitante tat alles, um sie zu wecken, sagte: Um 7:15 aufwachen, den nachts zuvor vorbereiteten Löffel Kokosöl in den Mund schieben, 15 Minuten Ölziehen, um 7:30 aufstehen, Bett machen, zur Spüle in der Küche gehen – das Badezimmer wird gerade renoviert – Kokosöl ausspucken, Zähne putzen, Gesicht waschen mit kaltem Wasser, zurück ins Zimmer, 15 Minuten Pranayama, drei Runden die Sonne grüßen, dann wie ein Seestern auf dem Boden liegen, zum Tisch gehen, die morgendlichen Gedanken in einem Schwall runterschreiben und affirmativ beenden, dann heiß, kalt, heiß, kalt, heiß, kalt duschen und anschließend den Körper vom kleinen rechten Zeh bis zum linken Ohr bürsten, eine Superbowl anrühren und im Sitzen, jeden Löffel dreißig Mal kauend, schlucken, dann kann der Tag beginnen. Aber da preschte schon der zornige Patriarch ins Zimmer und zog Kontrolettitante an den Haaren aus dem Haus, sodass ihre Worte den Mund nie verließen. Sie hätte ohnehin nichts gehört, denn der junge Werther hielt seine Hände wie Muscheln über ihre Ohren, und das rauschte ganz schön.
Der zornige Patriarch stampfte in die Küche und traf dort auf die Suse mit der tätowierten Träne, die ein Sit-in veranstaltete und sich über ihren ersten Gast freute. Suse puderte sich gerade die Nasenlöcher weiß und sagte zum zornigen Patriarchen, lass das Kind im Bad, und dann: Trinkste ene met? Sie versackten drei Tage in der Küche und legten sich dann wie ein Rudel Bambis ebenfalls zu den Füßen des jungen Werther, wo sie vier weitere Tage schliefen.
Vermutlich hätten sie noch länger geschlafen, wäre Kontrolettitante nicht durch die Eingangstür stolziert, mit Tüten beladen. Sie tat so, als hätte sie Urlaub gemacht. Sie tat nicht so, als wäre sie an den Haaren fortgezogen, Ich habe mal Urlaub von euch gebraucht. Tatsächlich sah Kontrolettitante erholter aus, ihre Muskeln waren nicht mehr so steif, das war durch die weiße Bluse zu sehen. Kontrolettitante griff nach dem Telefon und wählte eine Nummer. Kurze Zeit später nahm Kontrolettitante die drei Freundinnen in Empfang, Hallo und gut festhalten, es wurde neuer Wackelpudding ausgelegt, worauf die drei Freundinnen in Euphonie entgegneten, ist uns bekannt. Kontrolettitante eskortierte sie zum Wohnzimmer, zu dem schlafenden Rudel, sagte, Das Kind ist im Bad. Die drei Freundinnen nickten, legten sich zu den Bambis und begannen zu kraulen.
Dem jungen Werther gefiel das ganze nicht, er hielt sich lieber im kernfamiliären Kreis auf, seufzte, schnaubte, verdrehte die Augen, sagte, ok, und setzte sich auf das ausklappbare Sofa gegenüber. Sie öffnete die Augen langsam, eine der drei Freundinnen half ihr, sich den Schlaf aus den Augen zu rubbeln. Suse war schon länger wach gewesen, schaute an die Decke und rauchte eine dicke Tüte. Aus demAugenwinkel sah Suse Licht unter dem Badezimmertürspalt hervorkriechen und rief, Kann mal jemand die Wohnzimmertür zumachen, please? Davon erwachte de zornige Patriarch. Ohne sich den Schlaf aus den Augen zu reiben, riss er die kraulende Hand vom Körper und begann zu schreien und zu brüllen und zu zetern, dass die drei Freundinnen erstarrten. Sie aber begann sich wie eine Kobra zu dem Gezeter aufzurichten, wackelte ein bisschen mit der Hüfte, shaky shaky links, shaky shaky rechts, mit den Armen vollzog sie Push Up-Bewegungen.
Nach einiger Zeit, es waren vielleicht fünf Stunden vergangen, ging dem zornigen Patriarchen die Puste aus und er setzte sich zufrieden auf das Sofa zum jungen
Werther, der ganz still und schüchtern geworden war. Die drei Freundinnen klopften ihr anerkennend auf die Schulter, gaben Küsschen links, Küsschen rechts und schauten nun böse zur Suse, die sich zwischenzeitlich wieder die Nase gepudert hatte. In Wirklichkeit hatte die Suse nie geschlafen, Suse war eigentlich ein Lemur.
Kontrolettitante stand auf und rollte eine Papyrusrolle aus, Ich habe einen Plan, aber sie sagte, sei mal still, hört ihr das? Der zornige Patriarch, Suse, der junge Werther und schließlich auch Kontrolettitante lauschten in den Raum hinein, und da war es zu hören. Tropf, tropf, tropf, klopf, klopf und dann polter, polter. Die freiwillige Feuerwehr kam in das Haus gestürmt und sprühte mit ihren Feuerlöschern alles in eine weiß-schaumige Optik, die sie ein Jahr, zwei Monate und fünf Tage nichts sehen ließ.
Als die freiwillige Feuerwehr sich mitsamt Schaum zurückgezogen hatte, sammelte sie die im Zimmer verteilten Pantoffeln ein und gab jedem ein Paar. Sich an den Händen haltend, öffneten sie die Wohnzimmertür und näherten sich dem Lichtspalt. Sie griff nach dem Ersatzschlüssel, der auf dem Rahmen der Badezimmertür lag, steckte ihn behutsam ins Schloss, drehte und drückte die Klinke. Suse wollte sich direkt einen Joint anzünden, aber Kontrolettitante schlug Suse den Joint aus der Hand, der zornige Patriarch schaute grimmig in Suses Richtung, dabei hätte er auch gernmal gezogen. Im Badezimmer sah es aus wie im Bällebad, nur dass sich die Bälle beim näheren Hinsehen als Naschicellophanfolie herausstellten. In dem Cellophanbad saßdas Kind und sagte, ich bin noch ein Kind. Sie setzten sich um das Kind, sagten im Chor, du bist noch ein Kind, wiegten es abwechselnd im Arm. Als sie sich umschaute, war der junge Werther nicht mehr da. Hatte er sich verabschiedet, ohne Tschüss zu sagen? Kontrolettitante antwortete, du kennst doch den jungen Werther, der kommt schon noch wieder, das nächste Mal kochst du ihm nur eine Tasse Tee, dann bleibt er nicht so lange. Ich nickte.
Als ich mich das nächste Mal im Cellophanbad umschaute, waren da nur noch das Kind und ich. Ich nahm es bei der Hand und führte es in die schwarz beleuchtete Ecke des Flurs. Da stand der Flamingohocker, ein Bein angezogen, den Kopf zur Seite geneigt, auf der Sitzfläche ein Bilderrahmen mit Foto. Auf dem Foto sind zu sehen das Kind, ein Vater ohne Bruder, eine Mutter mit einem Bruder und keiner Schwester, zwei Opas, eine Oma. Alle auf dem Foto schauen in die Kamera, außer das Kind. Alle auf dem Foto wissen, das ist das Foto vor der Flucht, nur das Kind, das Kind weiß das nicht. Sonst hätte ich ja in die Kamera geschaut.