Reserven

von Hanna Lauter

Sie saß auf der zu großen, kühlen Klobrille. Ihre kleinen Hände stützte sie zwischen ihren kurzen Beinen und dem Kunststoff ab – so, wie es ein erwachsener Mensch wahrscheinlich nie getan hätte. Doch mit ihren acht Jahren machte sie sich keinerlei Gedanken darüber, was zu tun ist und was nicht. Unterhalten von den Sonnenstrahlen, die sich wie Glitzerfäden durch das kleine Badezimmer ihres Zuhauses bewegten, ließ sie ihre Blicke an den Wänden entlang streifen. Während sie dort saß, nutzte sie den Moment, um diesen kleinen Raum zu beobachten und sich damit die Zeit zu vertreiben. Es unterhielt sie, das lebendige Geschehen im scheinbaren Nichts zu entdecken. Natürlich dachte sie darüber nicht aktiv nach. Das Privileg der Gedankenlosigkeit – auch das war ihr selbstverständlich nicht bewusst. Es war ihr friedliches, kindliches Leben. 

Ihre Augen wanderten auf eine Postkarte. Gemeinsam mit anderen Dingen wie getrockneten Blumen und Familienfotos diente sie wahrscheinlich der Dekoration. Die Postkarte schwarz, an den Seiten jedoch weiß und abgenutzt, baumelte an einer Konstruktion aus Wäscheklammern und Bindfaden. Auf ihr stand in großen Druckbuchstaben ein kurzer Satz, der sie motivierte, ihre beginnenden Lesekenntnisse einzusetzen. Es schien ihr wie eine einfache Übung. 


„WER JETZT NOCH LACHT, DER HAT RESERVEN.“

Sie verstand den Spruch zunächst nicht und las erneut. Wieso braucht es etwas, um lachen zu können; braucht es Gründe, um Spaß zu haben? Und überhaupt, was waren nochmal Reserven? Sie fühlte sich genauso irritiert wie vor einiger Zeit, als sie den Erwachsenen beim Reden über einen großen Kater zuhörte. Dass sie kein neues Haustier bekam, wurde ihr erst sehr viel später klar. 

[…]

Rückblickend weiß ich nicht, ab welchem Zeitpunkt ich dieses Zitat verstanden habe. Wahrscheinlich begann es, als die Momente der Gedankenlosigkeit weniger wurden. Abgelöst von Gedanken über die eigenen Probleme und die Probleme der Welt. Das war dann wohl dieses Erwachsenwerden. 

Eine neue Freundschaft entstand zwischen mir und dem Lachen, dem Humor und dem Sarkasmus. Eine Bindung, die auch dann Bestand hatte, wenn der Rest in mir und um mich herum auf eine harte Probe gestellt wurde. Kennt ihr das, wenn einem alles zu viel wird und das einzige, das bleibt ist, darüber zu lachen? 

Mir gefällt der Gedanke daran, Lachen als Reserve aufheben zu können. Es schenkt mir Frieden. Ein Vorrat für schlechte Zeiten, eine Rücklage für den Notfall. Eine Reserve als Rettung für alle Überforderten, scheinbar Verlorenen, vermeintlich Besiegten, für das überraschende Comeback. Und ich wünsche allen Menschen, dass sie Reserven sammeln können, um den Zeiten zu begegnen, in denen sie sich besiegt fühlen. Lachen ist das, was bleibt. Lachen ist – ein Moment der Gedankenlosigkeit. 


über die Autorin:

Hanna Maria Lauter ist vor einigen Jahren nach Berlin gezogen, um dort mit ein wenig Distanz zur Heimat ihre Masterarbeit im Fach Kriminologie und Kriminalprävention zu beenden. Eine anschließende Publikation im Beltz Verlag motivierte sie, auch ihrem kreativen Schreiben eine Chance zu geben. Inzwischen konnte sie in einigen Magazinen veröffentlichen und 2022 auch als Autorin an Lesungen teilnehmen. Mehr Einblicke findet ihr auf Instagram unter lauter.worte.