Laura Accerboni – DIE ROLLE DES ERTRUNKENEN

mit Bildern von Jonas Kamm

aus dem Italienischen von Lukas Kessler

Die Rolle des Ertrunkenen (I)


Die Kälte
ist nicht sehr angenehm.
Ein Zittern lässt
die Glaubwürdigkeit
zu Nichts zerfallen.
Deshalb habe ich gelernt,
Nägel einzuschlagen
in meine Hände.
Jetzt bin ich
eine gefestigte Person.

Die Rolle des Ertrunkenen (II)

Die Mädchen
in der Schule
ordnen sich
gemäß der Länge
ihrer Ellenbogen.
Es ist eine neue Regel.
Die Mütter
am Ausgang
befüllen die Einkaufstüten
mit Steinen
und Verstecken
die Rechnungen zwischen den Lippen.
Alle haben eine Nummer,
die ihre Geburt darstellt,
und die »richtige Geburt« trennt
von der »richtigen Distanz«.
Die Mädchen
zu Hause
pumpen sich mit Wasser voll
und träumen
von starken Ellenbogen
mit denen sie überragen
wie in einem Krieg.
Wer überlebt
macht Brotzeit,
die anderen rennen ins Bad,
um ihren Verlust
zu reflektieren.

Die Rolle des Ertrunkenen (III)


Gestern ließ sich der größte
Junge einen Stein zwischen
die Zähne stecken
und begann zu kauen.
Er zeigte
seiner Mutter,
was ein Mund alles machen kann,
wenn man ans Äußerste geht
und ein zerstörtes Zuhause
nur ein zerstörtes Zuhause ist.
Gestern ließen alle größten Jungen
ihre Feinde verhungern
und sammelten ihr Spielzeug in Eile ein.
Sie zeigten ihren Müttern
die Ordnung
und die Disziplin der Toten.
Dann liefen sie,
um sich die Hände zu waschen
und lauschten
den Nachrichten
in Form von Schlafliedern.

Die Rolle des Ertrunkenen (IV)

Ich habe gedacht,
es wäre nicht fair,
dass Fische
Körper bewohnen
um ihre Verwesung
zu beschleunigen,
wenn der Mensch
auf den Grund fallen gelassen wurde,
um nicht auffindbar zu sein,
vielleicht vereint im Beton
die Füße
und Seile
und ein Sack
über dem Kopf.
Das sollte man einem Fisch
nicht antun:
Ihn nötigen,
zwischen Venen zu schwimmen
und ihn zwingen
die pulmonale Geografie
anderer Arten zu lernen.

Die Rolle des Ertrunkenen (V)

Ich könnte ein Wildschwein sein,
wenn ich wollte
und mir zwischen die Augen schießen,
wenn ich wollte.
Und niemand
würde sich etwas denken.
Jemand
würde dafür Sorge tragen,
dem Körper das Blei
zu entziehen.
Was zwischen den Zähnen
nicht endet,
kann die Wangen
nicht lädieren
am Mittag.

Die Rolle des Ertrunkenen (VI)

Das neue Lächeln
trage ich nur,
wenn ich ausgehe.
Es ist nicht notwendig,
dass es verdirbt.
Und ich strahle dann noch mehr,
wenn es keine Gewohnheit ist,
ich besteige alle Throne
und weise den Weg
zu den Schwächsten.
Ich habe außerdem zehn Kinder
und einen kleinen Hund
zum spazieren führen.
Und doch tanze ich mit dir zu Hause,
während du isst
und zeige dir die Angebote,
während du schläfst
und ich strahle dich an
im Kopf,
ich strahle
und atme nicht.

Die Rolle des Ertrunkenen (VII)

Als sie mich zwangen,
die abendliche Prophezeiung
zu essen,
sagten sie »damit du groß
und stark wirst«,
während mir
die Zähne splitterten.
Es gab keinen Schmerz,
kein Weg
wurde allein gelassen
für lange Zeit
und nichts wurde gesagt,
also gab es
nichts zu essen.
Dies war
der Traum, den ich hatte,
während die Prophezeiung
in kleine Stücke zerfiel
und auf dem Teller
vor mir
kalt wurde.


// Lukas Kessler (Übersetzer) //

kommt ursprünglich aus einem kleinen Dorf am Fuße der Berge. Er mag enzyklopädisches Schreiben, obskure Lyrik, rauschenden Ambient und Romane in allen Farben und Formen. Er findet, dass Abenteuer einem das Leben füllen, aber Langeweile zum Leben anregt – deshalb ist die fast wichtiger. Er findet auch, dass sich die Gesellschaft etwas von Nudeln abschauen sollte, denn sie sind maximal international, es gibt sie in allen Formen und Farben, mit und ohne Ei. Und das Beste: Sie schmecken alle super!


// Jonas Kamm (Illustrator) //

Jonas Kamm studierte Philosophie an der Humboldt Universität zu Berlin und machte 2020 seinen Abschluss in Fotografie an der Folkwang Universität der Künste in Essen. Zur Zeit lebt und arbeitet er wieder in Berlin. Er arbeitet an der Schnittstelle zwischen Bild und Skulptur. Dabei bedient er sich neuer Methoden der Bildproduktion. Mit Hilfe von Computer Generated Imagery schafft ein Universum von Bildern und Situationen, in dem sich Objekte und Räume begegnen. In ihrer Kombination stiften sie rätselhafte Mikrodramen, deren Bedeutung oft in der Schwebe bleibt. Mehr zu Jonas’ Projekten und seinen Kontakt findet ihr auf seiner Webseite: jonaskamm.com.