Der rote Faden

von Nadine Bösch



Der NabelFaden.

Nabelschnur. Durchblutet und rot. Abnabelung. Weggabelung.     

     

Den roten Faden aufnehmen.

Hauptsache gesund sagen sie dir, wenn Du ein Kind, oder zwei, oder gar fünf bekommst, so wie ich.

„Gesundheit!“, tönt es, wenn jemand niest oder hustet.

Gesundheit ist ein großes Wort in unserer Familie geworden.

Gleich groß wie Krankheit und Schmerz. 

So groß und einschüchternd und mächtig, dass es mir die Tränen rausdrückt, wenn mir jemand ganz liebevoll „bleib gesund“ sagt.

Oder „wenn Du wieder gesund bist, dann...“

 „Dann, wenn es Dir wieder besser geht, machen wir…“

„Wir machen was gemeinsam, wenn es den Kindern wieder gut geht…“  

„Wenn ihr wieder gesund seid, schlagen wir Purzelbäume und hüpfen Trampolin vor Freude.“ 


Und wenn nicht? 

Verdammtes Wenn. Verdammtes „wenn dann“. 

Bei mir, bei uns ist immer Jetzt! Und Heute! Und Sofort

Wir haben gelernt, dass Pläne nicht funktionieren, wenn von sieben Familienmitgliedern sechs chronisch erkrankt sind.

     

Wenn wir warten würden, bis wir alle wieder gesund sind, um dann dieses und jenes zu tun, würden wir chronisch warten. 

     

Wir feiern den Moment, den Augenblick, das Jetzt, die Spontanität und die Flexibilität. Weil wir so geformt wurden.

Dann, wenn gerade kurz alles gut ist, mixen wir unverhofft Cocktails und stoßen auf den Tag an! 

Darauf, dass er da ist, wir alle zusammen sind und uns haben. 

Einfach das Beste aus jedem Tag, jeder Stunde, jeder Situation machen. 

Das ist unser Motto. Leben im Schwung der Gegenwärtigkeit.     

     

Der GegenwartsFaden.

Gegenwart bedeutet keinen normalen Alltag zu leben.

Kinder zu haben, die mehr Zuhause als in der Schule sind. 

Mindestens zwei oder mehr Termine in der Woche wahrzunehmen, die mit Krankheit zu tun haben. 

In die Gegenwart radikal geworfen zu werden bedeutet, dass die Kinderärztin, die Physiotherapeutin, die Fachärzte und die Krankenschwestern oft die einzigen und meist die häufigsten sozialen Kontakte sind. 

Es bedeutet, jeden Tag ein Schmerzmittel zu geben oder selbst eines zu nehmen. So wie andere Zähneputzen oder Kaffee machen. 

Es bedeutet, Tränen zu trocknen, aufzubauen, zu stärken und zu trösten.

Es bedeutet, den gesunden Momenten, die man noch in Erinnerung hat, nachzutrauern. 

Und die Einsicht dessen, dass man vielleicht dort nie wieder sein wird. 

Dass sich die Schmerzfreiheit, Leichtigkeit und Beweglichkeit wahrscheinlich nicht mehr einstellen werden. 

Dass man sich nicht mehr an einen schmerzfreien Tag erinnern kann, weil er einfach zu lange zurückliegt.

Diese Gegenwart bedeutet auch, dass unser oberstes Kühlschrankregal mit unzähligen Spritzen gefüllt ist, die mehr als den gesamten Wert der ganzen Küche ausmachen.

Es bedeutet, dass tägliches Spritzen, desinfizieren und kühlen zur Routine geworden ist und selbst der Jüngste mit vier schon ganz genau weiß, wie das abläuft. 

Unsere Gegenwart sehnt sich nach der rosarot gefärbten Vergangenheit, in der scheinbar fast alles noch gut war.

Unsere Gegenwart scheut die Zukunft. 

Zu dieser Kunft fühlen wir uns so gar nicht mehr zugehörig. 

Zu sehr haben wir vollkommen gegenwärtig zu sein. 

Zu intensiv wird Alles von uns abverlangt.     

     

Der seidene Faden.

Es ist mühsam, auf einem seidenen, seltenen Pfad seinen Weg zu gehen.

Es ist eine Wende im Leben chronisch krank zu werden.

Aber diese Wende wendet sich nicht nur gegen Dich.

Sie wendet sich auch an deine Freunde, Familie und Mitmenschen.

Sie tastet sich nicht nur an deinen Körper, sondern auch an deine Berufsfähigkeit, deine Leidenschaften und deine Beziehungen     .

Sie tastet, lastet und fastet.     

     

Mich hat die Wende von Allem getrennt, was zart beseidet war. Von fragilen Konstrukten. Von inkompatiblen Rhythmen und getakteten Erwartungen.

Faden ab für soziale Integration und Arbeit.

Mit jeder raren Krankheit mehr in unserer Familie sind echte Freunde zur Rarität geworden.

Seidene Gegenwart leben heißt auch, dass man als Mama leider ganz genau weiß wie sich der Schmerz des Kindes gerade anfühlt.

Der Schmerz im Körper – im Herzen, im Geiste und im Empfinden – anders zu fühlen als die Anderen. 

Der Schmerz, nicht mithalten zu können, nicht dazuzugehören, sich daneben zu fühlen.

Es schmerzt bei Schulausflügen, beim Turnunterricht nicht oder nur unter großem Leidensdruck mitmachen zu können.

Es tut weh, abzuwägen, ob man eine Freizeitaktivität, die einen Herzenswunsch erfüllt, machen soll, wenn der Körper danach unerträglich schmerzt. 


Teilhabe ist schön, wenn man Teil nimmt. 

Wenn man Teil ist. 

Wenn man teilt. 

Wenn man sich mitteilen kann.

Wenn man Anteilnahme erfährt.


Der InselFaden.

Ich fühle mich oft als Einzelteil eines Familienpuzzles und zusammen sind wir das Bild einer Insel.

Die Insel der Getroffenen, der Gestrandeten, der Versehrten, der „Anderen“. Wir Inselbewohner sind aber auch begabte und begnadete Künstlerinnen und Künstler.

Auf dieser Insel wird musiziert, komponiert, kreiert, geschrieben, gestaltet, gemalt und verwaltet. 

Auf dieser Insel werden alle Ressourcen genutzt.

Auf dieser Insel werden die Fühler zu allem Lebendigen, Gestaltbaren und Wandelbaren ausgestreckt.

Auf dieser Insel hat auch Glückseligkeit, Wärme, Halt, Geborgenheit, Zeit und Individualismus seinen wichtigen Platz. 


Unsere Inselhymne ist Teil unserer Inselkultur: 

Wir sind auf dem Weg.

Wir sind am Leben interessiert. 

Wir machen weiter. Tag für Tag. 


Unser Inselbild:

Ein fragmentierter Farbenrausch, eine Collage mit einem roten Faden, einem Refrain, einer verbindenden Strophe.

Wir sind Inselbewohner mit spezifischen Künsten.

Aber in der Krankheit werden wir ähnlich, nähern uns auffällig an.

     

Der genetische Faden.

Gibt es eine gemeinsame genetische Verbindung?

Gibt es einen übergeordneten biologischen Zusammenhang, der erklärt, dass so viele Mitglieder einer Familie von Krankheit betroffen sind?

Man weiß in der Genetik so viel und gleichzeitig nichts. 

Eine Veränderung des NLRP12-Gens zum Beispiel bedeutet nicht bei jedem Menschen gleich Krankheit. 

Bei manchen jedoch bestimmt es den kompletten Alltag, seine Möglichkeiten und sein gesamtes Körperempfinden.

Die Bandbreite reicht von “vollkommen gesund” bis “stark beeinträchtigt”.

Was bedeutet es, der Zweite und Dritte einer bestimmten Genmutation zu sein, von jenen, die weltweit auf einer Liste erfasst wurden? 

Möchte man nicht lieber in einer anderen Einzigartigkeit erkannt sein?

Wie schön wäre es, eigenständig und unabhängig von so einem Faktum zu sein, etwas ganz Integres zu sein. 

Aber wenn ein Gen mutiert, eine minimale Änderung aufweist, kann das für den Einzelnen alles bedeuten oder nichts. 

Oder – wie bei uns – etwas dazwischen. 

     

Alles oder Nichts. 

Alle die gleiche Krankheit oder nichts. 

Oder jeder für sich doch was ganz Eigenes. 

Alles ein blöder Zufall oder einfach nur Pech?

Bechterew oder Pechterew? 

HLA-B27 assoziierte Mischkost oder doch das seltene CAPS? 


Verbindung? Vererbung? Verdacht? 

Schicksal? Schrecken? Schock?      


Wie viele Puzzleteile braucht es noch, um ein eindeutiges Bild zu bekommen? Wie viele Tests, Untersuchungen und Dokumentationen mehr, um klar und sicher diagnostiziert zu werden?


Wir fahren als gesamte Familie mit dem Zug zu dem ersehnten Genetiktermin nach Salzburg.

 

Der WendepunktFaden.

Wir sind an einem Wendepunkt. 

An einem Punkt wo sich alles endlich wendet.

Zum Guten? 

An einem Punkt an der Rückschau plus Gegenwart vielleicht eine andere Zukunft bedeuten kann? 

Oder ist es wieder ein Endpunkt?      

Ein nüchterner Standpunkt. Ein Tritt im Trott der ewigen Haltestelle.

Wann steigen wir in den richtigen Zug ein? 

Welches Gleis führt Richtung Gewissheit?

Welcher Punkt stiftet Sinn?

Welche Talfahrt bringt uns trotzdem vorwärts?          


Das rätselhafte Krankheitsbild.     

Wir sind aufgefordert, alles zu dokumentieren, um es sichtbar zu machen.

Deshalb messen wir täglich die Temperatur, untersuchen die Haut nach Flecken, fotografieren Schwellungen, tragen Zahlen in eine Schmerzskala ein und benennen sämtliche Beschwerden.

Wir holen das verborgene Leid ans Licht, wenn es uns nicht ohnehin ins Gesicht geschrieben ist.

Bei den Medikamenten, die zur Wahl für eine Therapie stehen, muss der Schmerz auf jeden Fall nachweisbar und beweisbar gemacht werden.

Zu unserem Alltag gehört es deshalb auch, das Unheilvolle, Schmerzliche, Verletzliche und Krankhafte nicht auszublenden, sondern genau zu beleuchten.

Leid so festzuhalten ist angesichts der Summe an Personen und Symptomen, die einem so nahe sind, ein schmerzlicher Akt.

Weißes unbeschriebenes Papier wird mit Schmerzdaten gefüllt.

Die Sehnsucht nach tabula rasa wächst potentiell mit jeder reichlich beschriebenen Tabelle.

Daten und Fakten, um letztlich einordbar und zuordbar zu sein, um wirklich spezifisch und richtig behandelt zu werden.


Und: um glaubhaft zu sein.     


Es ist unendlich wichtig in einem medizinischen Setting, dass man wirklich gehört, gesehen und einem geglaubt wird.

Wenn ich aber all das geglaubt, angenommen und für wahr und richtig verinnerlicht hätte, was man mir all die Jahre gesagt hat, dann wäre ich Vieles, aber kein chronisch kranker Mensch. 

Diese Botschaft ist wichtig!

Wenn etwas von außen auf Dich einwirkt, es nicht sofort zu verinnerlichen. 

Es zu betrachten, nachzuspüren und zu prüfen.

Im Fall von Krankheit ist das besonders schwer, weil man eigentlich auf Hilfe und Kompetenz der Ärzte angewiesen ist und sich doch den vorschnellen Fremdbeschreibungen entziehen muss.     


Der SinnFaden.

Ich möchte verstehen und begreifen, wie die Dinge ineinandergreifen.

Ich versuche, sie auseinanderzudividieren, zu extrahieren und trotzdem den roten Faden nicht zu verlieren. 


Man kann in einer Familie jeden vom anderen trennen, aus dem System lösen und er steht trotzdem mit den anderen in Verbindung. 

Man kann sich kreuz und quer durchtesten, durchvermuten, durchverdächtigen und mutmaßen.

Wenn man den Einzelnen nicht in seinem Kontext, dem Eigenen und dem Äußeren betrachtet, wird alles eindimensional.

     

Menschen in weißen Kitteln machen das besonders gerne. 

Besonders die, die mir in meiner Gesundheitskarriere begegnet sind. 

Sie verschreiben gerne viel, umschreiben dabei sparsam und schreiben gerne auf den Patienten zu.


Zu dick, zu belastet, zu klagend, zu kinderreich, zu betrogen, zu glücklich, zu Alles.      


Bloß nicht das was man eigentlich war und ist. Chronisch krank.

Was der Arzt nicht sieht prüft er nicht. 

Was der Arzt nicht kennt gibt es nicht. 

Was der Patient nicht explizit fordert bekommt er nicht. 

Was der Patient nicht abwehrt oder entgegnet bleibt unter der weißen Wand. 

Aber die bröckelt halt dann. Irgendwann. 

Wenn die Krankheit das Weiß der Wand mehr und mehr einschwärzt.           

Aber selbst dann gelingt es noch völlig gesundgeschrieben nachhause geschickt zu werden.     


Man muss sich selbst krankschreiben. 

Und gleich danach selbst wieder gesundschreiben. 


Sich losschreiben von dem Gesagten.

Sich freischreiben von der Epikrise und Anamnese zur Sinnkrise. 

Sich wegschreiben von den vielen Zuschreibungen. 

Eigene Worte für sein Leiden finden. 

Sich selbst vertrauen und auf sein Bauchgefühl bauen. 

Zusätzlich zu den CTs, MRTs und Röntgenaufnahmen eigene Innenschau betreiben.


Und gleichzeitig fragen: wer bin ich ohne diesen Befund? 

Wer bin ich ohne diese Krankheit? 

Oder besser noch, wer bin ich auch, trotzdem oder gerade deswegen?


Die Krankheiten integrieren aber nicht regieren lassen. 

Auf Körperlichkeit von eindringlichem und aufdringlichem Maße mit liebevollem Herz und wachem Geist reagieren.

Das klingt gerade so wie die scheußlichen Ratgeber, die ich genau in diesen Situationen so verachte. 

Aber das Schreiben und Benennen der Situation, eine eigene Sprache zu finden für das Unaussprechliche haben mich schon oft gerettet. 

Überlebenswichtig ist auch Humor, schwarzer tiefschwarzer Humor!     

     

Der SpinnenFaden.

Welches Netz einen da auffängt?

Am besten das Eigene. 

Das nimmt und fängt Dich ganz und gar mit Haut und Haar. 

Es fragt nicht von welcher Natur Deine Not ist. 

Ob psychologischer, sozialer, emotionaler, seelischer, geistiger oder finanzieller Natur. Als könnte man nur eines ausmachen. 

Ob internistischer, rheumatologischer, orthopädischer oder allgemein medizinischer Natur. 

Deinem eigenen Spinnennetz ist das schnuppe. 

Es trägt, weil es will, weil es fest gewebt und resistent ist. 

Und es bricht und stürzt mit Dir zu Boden ins Nichts, in den Dreck, wenn zu viel stürmischer Wind da ist. 


Zuviel Wind für Nichts. 


Zuviel aufgeblasenes Mitgefühl von Menschen in Institutionen, die dann leider doch nicht zuständig sind. 

Aber zuerst fegen Sie Dich mit samt Deiner Familie gläsern und nackt und kennen Deine Zahlen, Fakten und Geschichten, um dann zu sagen: 

Sie fallen leider durch den Rost der gewöhnlich Bedürftigen, Behinderten und Benachteiligten. 


Ein gut gesponnenes Netz ist ein gewonnenes Lebensfeld.      

Es ist ein sicherer Boden, ein Grund, ein Fundament.

Es ist fundamental, um bei starken Wechselwinden zu bestehen.

Es nimmt Dich und Deine Liebsten wie sie sind. 

Es waren und sind schließlich auch Deine eigenen feinsinnigen Fäden, die Dich dazu gebracht haben, genauso zu spinnen. 

Die ureigensten Spinnereien sind stark, wahrhaftig und echt!

Sei Dir selbst Spinne Freundin! 

Sei Dir selbst gewoben!

Die spinnt doch! 

Ja! Und das ist gut so. 

    

Was soll sie denn sonst tun, als ihre eigenen Fäden weiterzuspinnen und weiterzuverweben, um weiter in Verbindung mit dem gesamten Netz zu sein. Dabei den roten Faden niemals verlieren.          


Die Richtung, den Weg, die Spur, den Sinn im Auge, im Kopf und Herz zu behalten. 

Das gesamte Netz wahrzunehmen und anzunehmen. 

So verwoben wie es eben ist. 

Durchblick bewahren. 

Sich selbst Netzwerk und Netzwerkmeisterin sein. 

Spinnennetzresilienz.

Hüterin des Netzes, der eigenen Webkunst, der geflochtenen Verbindungen.

Keine Anfechtungen zulassen, die Spinnerin als Selbstwirksamkeitsinstrument.


Lasst uns doch spinnen!

Dann wird es gut. Dann geht es uns gut. 

Fadenscheinige Argumente und Angriffe fallen bitte durchs Netz. 

Durch das Raster gängiger Lebensmuster und Narrative.

Fäden ziehen könnt ihr woanders. 

Etwas einfangen gelingt nicht immer. Das Leben zelebrieren immer.      

     

Der NetzwerkFaden.

Netzwerke außerhalb Deiner Insel machen Sinn.

Manchmal wirken sie wie Piraten, die Deine Insel erobern wollen. 

Netzwerkpiraten.

Ich weiß nicht wie viele Begegnungen mit unterschiedlichsten Institutionen wir hatten, aber es waren viele.

Und alle fanden unsere Geschichte ganz furchtbar, aber meistens blieb die Hilfe fruchtlos.

Es gibt viele verschiedene, spezialisierte  Institutionen, aber immer gilt es deren Voraussetzungen und Bedingungen zu erfüllen.


Wer den Definitionen im Ausnahmebereich nicht gerecht wird, der ist auch dort ausgenommen von den Angeboten zur Unterstützung. 

Was passiert mit Ausnahmefamilien, die nicht innerhalb der klassischen Einordnungen liegen, sprich nicht eindeutig verortbar sind? 

Deren Konstellation oder Schicksal nicht offensichtlich zuordenbar ist?

Die zur Insel mutieren, nach Autonomie streben und leben und Alles geben, um irgendwann schmerzlich einzusehen, dass man doch auf Hilfe vom Festland angewiesen ist. 

Auf Menschen, die festen sicheren Boden unter den Füßen haben. 

Auf Menschen, die Land gewinnen, Land sind, Schwimmwesten verteilen, Boote ausleihen, Hafeneintritt erlauben, Landgang gewähren. 

Die mit ihrer Kompetenz, ihrer Erfahrung und Expertise Aussicht verschaffen. Aussicht auf Besserung, Linderung, vielleicht sogar Heilung. 


Heilung ist auch so ein großes übermächtiges Wort geworden. 

Es ist ein großes Wort für all jene Menschen, die es getroffen hat. 

Mit dem Pfeil einer Krankheit, eines Unfalls oder eines anderen Traumas. Überall dort ist es groß, wo viel Leid, Bruch, Verletzung und Schmerz liegt.

Je tiefer die Wunde, desto größer die Sehnsucht nach einem Wunder. 


Das Wunder der Heilung. 

Aber wer oder was ist schon vollkommen heil? 

Im Sinne von unantastbar, unversehrt und unverletzt? 

Gehört nicht der Schmerz, die Krankheit, die Antastbarkeit zum Mensch sein unmittelbar dazu?

Das Leben als Wagnis ohne Berechenbarkeit, Planbarkeit und Machbarkeitswahn.     

 

Der MachbarkeitsFaden.

Ist die Hingabe an den Fluss des Lebens nicht auch unsere Aufgabe?

Aufgabe im Sinne von aufgeben und abgeben, an etwas Höheres als wir es sind. 

Aufgabe im Sinne von das Leben anzunehmen, wie es ist.

Der lästige FragenFaden.

Gerade als chronisch kranker Mensch beschäftigt man sich früher oder später mit genau solchen Fragen.      


Was ist mein Anteil dieser oder jener Diagnose? 

Liegt es in meiner Macht, meiner Haltung, meinem Denken auf diese einzuwirken? 

Wie sieht es mit der Selbstwirksamkeit aus, wenn die Symptome überhandnehmen und man völlig vereinnahmt wird?

Welche Strategien entwickelt ein Mensch, der nie wieder ganz gesund wird?

Wie definiert er Gesundheit für sich selbst?      


Ist Gesundheit die bloße Abwesenheit von Krankheit?

Kann ich mich gesund, heil und ganz fühlen, auch wenn mein Körper anderes spricht?

Wieviel Einfluss habe ich tatsächlich als Mensch durch das, was ich esse, trinke, denke, glaube und fühle oder auch nicht?


Wie verhält es sich bei Kindern? 

Übernehmen Sie systemisch die ungelösten Probleme der Eltern, um ihnen unbewusst zu helfen oder sie zu entlasten? 

Trage ich eine Mitverantwortung oder gar Mitschuld, wenn fast alle meine Kinder auch krank sind?

Welche Rolle spielt die Epigenetik?

Ist Krankheit eine Entscheidung?

Krankheit als Chance?

Wie oft habe ich mich beim Beantworten dieser Fragen um Kopf und Kragen geredet, gerechtfertigt und geweint.     

Als wäre die einzige und wahrhaftige Lösung ausschließlich bei mir selbst zu finden.

Ich kann es machen, lenken, lösen, heilen, wenn ich es nur ordentlich genug will, wünsche, denke, tue und glaube.

Was im Umkehrschluss bedeutet, wenn es nicht gelingt, dass ich versagt habe. 

Im Feld von esoterischen, alternativen und ganzheitlichen Gesundheitsansätzen musste ich mir oft anhören, dass es in jedem Fall mit mir zu tun hat, so krank zu sein.

Nebenbei gilt das selbstverständlich auch für die Krankheiten der Kinder.

Von systemischer Aufstellungsarbeit bis energetisch auflösende Unterbrechung der Ahnengeschichte war ich schon zu allem bereit, Heilung für mich und meine Liebsten zu erlangen.     

Was habe ich an Zeit, Mitteln, Geld, Glaube, Behandlungen, Sitzungen und Settings investiert und manchmal auch verschwendet, um gesund zu werden.

Wenn die Beschwerden trotzdem zunehmen und sich die Besserung nicht einstellt, liegt es immer und ausschließlich an einem selbst! 


Eine Erklärung, die ich im Laufe der Jahre besonders bedenklich empfunden habe ist jene, dass es schlussendlich am Karma liegen muss.

Da muss man dann halt durch! Punkt.     


Unzählige Heilpraktiker:innen, Fastenbegleiter:innen, Ernährungsberater:innen, Schaman:innen, Homöopath:innen und Ärzt:innen später war ich immer noch krank. 

Auch die Kinder wurden es immer mehr und deutlicher. 

Irgendwann wurde das ganze Krankheitsuniversum unsere Familie eine klare abgrenzbare Kugel, fassbar, greifbar, fast schon begreifbar. 


Da waren wir längst Insel.


Immer mehr Puzzleteile wurden zusammengefügt, zusammengesetzt und das Ganze wurde zu einem annähernd erkennbaren komplexen Bild. 

Ein paar Puzzleteile fehlen noch. Aber nicht nur uns.

Es sind die Lücken und Geheimnisse der Biologie, des Menschseins und der Medizin. 

Vieles ist noch nicht erklärbar, enträtselt, gelöst, erkannt, erfasst oder verstanden. 

Ich habe auch verstanden, dass eine Krankheit zu bekommen oder zu haben keine tiefere spirituelle Bedeutung haben und man vielleicht auch das Warum nicht kennen muss.

Ich habe auch verstanden, dass nicht jede Krankheit Sinn macht oder Sinn bringt. 

Es fällt mir schwer, Sinn finden zu wollen, wenn mein Kind sich krümmt und weint vor Schmerzen.

Oder wenn ich Angst habe, dass meine Tochter ersticken könnte. 

Von so einer Angst will ich auch nichts lernen, besser oder weiser werden.

     

Sinn macht es hingegen zu trösten, Linderung zu verschaffen und Zuwendung zu geben. 

Sinnvoll ist es, Notfallpläne bei der Hand zu haben. 

Sinnvoll ist es, das Leben zu leben, mit der Krankheit, mit dem Schmerz. Vorbild zu sein, ein Bild zu erschaffen, das sie aufblicken lässt. 

     

Ein Bild entwerfen, das Einblick gibt, wie ein glückliches Leben auch mit Krankheit gelingt.

Ein greifbares Bild abgeben, indem man nicht aufgibt, aber annimmt, was ist. 


Es ist wie es ist, sagt die Liebe. 

Es ist wie es ist, sagt aber auch die Krankheit. 

Und meistens ist Krankheit einfach Kacke. 

Natürlich kann sie auch Antrieb, Ansporn und Anreiz sein, daran zu wachsen und zu reifen, aber das muss sie nicht. 

Auch diese Botschaft ist unendlich wichtig! 

Denn sie entlastet, tröstet und macht Mut. 


Genauso wichtig aber ist sie für all die Gesunden.

Habt Mitgefühl, seid empathisch, seid Mensch, seid menschlich! 

Niemand entscheidet sich für Krankheit, Behinderung oder Unglück. 

Niemand hat freiwillig und bewusst Schmerzen. 

Niemand muss ein Vorbild sein.     

Dieser Mensch ist weder Opfer noch Täter für oder zu sich selbst. 

Er ist Mensch.

Und er lebt. Und zum Leben gehören Glück und Pech.

Die Gesundheit und die Krankheit. 

Viren, Bakterien, Gene und Mutationen genauso wie allerfeinste Bedingungen und Umgebung.

Alles oder Nichts. Tod oder Leben. Leben und Tod. 

Der Mensch lebt und ist mit allem in Berührung, was lebendig ist. 

Und alles Lebendige stirbt irgendwann.

Und das Lebendige lässt sich nicht berechnen.

Mit dem Faktor Mensch aber darf man rechnen!

Ihn punktgenau in Zahlen, Buchstaben und Diagnosen weissagen zu wollen, wird zur unlösbaren Aufgabe. 

Alles ist in Bewegung, im Prozess und in Veränderung. 

               So darf man auch Überzeugungen über den Haufen werfen. 

Zum Beispiel von der kritischen esoterischen Ecke kommend, der Schulmedizin wirklich vertrauen und tatsächlich die verschriebenen Medikamente einnehmen. 

Zugegeben war das ein äußerst langer und schmerzhafter Prozess und Weg, aber ich bin ihn gegangen. 


Es ist möglich, es ist gangbar, es hat Sinn gemacht. 

Das schreibe ich jetzt mit einem zwinkernden Auge, rückblickend. 

Niemals hätte ich das für möglich gehalten. 

     

Der rollende Faden.

Er rollt mir davon.

Er rollt mir durch meine Finger.

Ich verliere den Faden.

Rollenkonfusion.

Zu viele Fäden in meiner Hand.

Und gleichzeitig gar nichts mehr in der Hand.

Buchstäblich durchforstet und durchgereicht von A bis Z.


A wie Arzt, B wie Biologika, C D E wie Ehefrau, F wie Freundin, G H I wie Institutionen, J K wie Krankenschwester, L M wie Mama, N O P Q R wie Reha, S T wie Therapeutin, U V W Patient X Y Mensch Z.      

     

Der Mensch zum Schluss.

Der Mensch, der durch die vielen W-Orte verloren gegangen ist.     

     

Manchmal fühle ich mich von A bis Z durchbesetzt und durchgereicht.

Manchmal ist es mir von A bis Z zu viel, zu schmerzhaft, zu überwältigend und zu nahe. 

Manchmal ist es mir von A bis Z wurscht und ich will es nicht sehen, hören, fühlen, nur leben, lassen und lieben. 

Manchmal ist es von A nach Z ein langer tunnelförmiger Weg. 

Manchmal ist der Weg von A bis Z steil, gefährlich, dem Abgrund nahe und einfach nur mühsam. 

Manchmal fängt man wieder bei A an, nachdem man längst bei Z angelangt war. 

Manchmal wiederholt man das ABC, als wäre es ein Mantra, eine Melodie, ein Refrain. 

Aber es sind eigentlich nur Stationen, Punkte, Phasen, durch die man geht, die man durchlebt und durchläuft. 


Jetzt fühle ich mich wie A und Z gleichzeitig. 

     Und dann noch der ganze Buchstabensalat dazwischen.     

     

WörterFlut. 

Von A bis Z durchgezogen.

        

Der eingefahrene ErfahrungsFaden.

Durchgekämpft und doch verloren. 

Durchgewälzt und dabei verbogen. 

Durchgehalten und damit vergoren.     

     

Der fasrige Faden.     

Für jetzt bin ich Winter. 

Für jetzt sind wir es auch.

Winterschlaf. 

Leider nicht für die Krankheit. Sie zeigt sich bei Kälte in ihrer ganzen Blüte.

Sie lässt uns einfrieren, aber nicht ausruhen.

Mein Antrieb ist eingefroren. 

Meine unbändige, lebensfrohe Natur macht Winterschlaf. 

In einer finsteren Höhle. 

Sie träumt vom Frühling. 

Sie atmet dabei den Sommer. 

Sie gibt sich dem Herbst hin. 


Der KreislaufFaden,

die Schmetterlingslarven laben am ZukunfsFaden. 

Wir werden uns entpuppen.

Die Krankheit wird sich entlarven. 

Wir werden unsere Flügel entfalten. 

Und von unserer Insel das Meer und die Welt erkunden. 

Wir werden von der Luft und dem Himmel getragen. 

Wir fliegen mit Rückenwind. 

Wir sind in unserem Tempo unterwegs.

Wir docken an Land. 

Wir gewinnen Boden unter den Füßen. 

Wir spannen unsere Fäden. 

Wir weben unser Netz. 

Wir verbinden uns mit der Natur. 

Wir vernetzen uns, wir werden Eins.

Und plötzlich ist es Frühling und wir sind es auch.     



Der WechselFaden.

Wechselbäder der Gefühle, weil ständiges Wechseln der Diagnosen. 

Wie beim Jonglieren mit heißen Bällen. 

Verbrannte Hände, verkannte Arztbriefe, verrannte Wege.

Wie Fahnen im Wind bei Sturm ist die Wucht und Standhaftigkeit einer gerade gefällten, annähernd integrierten gültigen Diagnose.

Wechselseitiges Misstrauen entsteht.

Wechselweise Diagnosen.

Wechselnde Fachdisziplinen.

Wechselnde Behandlungsansätze. 

Sie wechseln uns immer wieder aus, werfen uns aus dem Geflecht.

Den Faden wieder und wieder aufnehmen.

Bisher angenommenes, gesichertes wird wieder umgestürzt.

Geduldsfaden. Geduldsfaden. Geduldsfaden.

Der tagesaktuelle Faden.

Der erneute Arztbesuch wirft schon wieder neue Fragen auf.

Neue Ansichten. Andere Einsichten. Neue Strategien.

Wie kann das sein?

Neuer Arzt, neues Glück?

Neuer Arzt, neuer Blick.

Den eigenen Blick auf das Geschehen nicht verlieren. 

Niemand ist einem so nah wie man selbst. 

Niemand ist so dicht dran wie ich. 

Immer wieder neu, fast unbefleckt hinspüren. 

MRT-Bilder sprechen durch Schichten.

Röntgenbilder sprechen durch die Zeit.

CT-Bilder sprechen durch die Struktur. 

Ich spreche durch mein Erlebtes, Erduldetes und Erfahrenes.

Das spricht gerade laut, stark, zweifelnd, verzweifelt, frustriert, müde und irritiert.

Meine Bilder und deren Interpretation stellen zum ersten Mal ganz offiziell den manifesten bisherigen Befund in Frage. 


Man fragt nach, ob das jetzt wirklich tatsächlich so sein könnte, hört ein Ja, fährt nachhause und kocht erst mal was. 


Danach geht man seine üblichen Wege und macht seine üblichen Pflichten.

Dann wird einem richtig übel, weil man wieder nachdenkt.

Verunsicherung.

Man hat das Gefühl, dass alles von vorne beginnt.

Nichts erscheint mehr stimmig, nichts scheint mehr zu stimmen.

Das drückt mächtig auf die Stimmung, man ist unerhört verstimmt. 

Man weiß gar nichts mehr. 

Wurde man irrtümlich falsch behandelt? 

Waren die ganzen Medikamente deshalb ohne gewünschte Wirkung?

Der vertraute Arzt aber bleibt felsenfest bei seiner gestellten Diagnose.

Was jetzt? 

Jetzt ist wieder einmal Nullpunkt.

Null und Punkt.

Maden im Gepäck. Und Larven. Und Eier.

Alle wollen sich entpuppen, entwickeln und entarten.

Dabei frage ich mich: 

Was ist meine Art? Was sagt meine Stimme? 

Wie klingt sie?

Sie klingt wieder nach Geduldsfaden. 

Aber ich fühle nur noch SchlußFaden.

Schluss. Strich. Ziehen. 

Fäden ziehen. Fäden auflösen. 

Verstrickungen lösen. Verwicklungen entwickeln. 

Verwobenes differenzieren.

Die Webkunst analysieren.

Wie ein Buchstabenfadenrätsel.      

Was bedeuten folgende Buchstaben für einen Menschen? 

AS

SpA

HAE

CAPS

MWS

HLA-B27

NLRP12

Morbus ……dies und das und was?


Morbus und auf jeden Fall Sorgus!

Die größten Hämmer kommen oft mit sehr simplen Buchstaben daher.

Die komplexesten Gebilde finden Platz zwischen zwei und sechs Buchstaben.

So schön abgekürzt war der Weg zu diesen Buchstaben jedoch nicht. 

So kompakt untergebracht, lässt es sich mit ihnen auch nicht leben. 

So unaussprechlich die Medikamente dagegen. 

Heißt es eigentlich Medikamente dafür oder dagegen? 


Auch dabei wieder ein Abwägen der gewünschten Wirkung versus der Nebenwirkung. 

Die war bisher in unseren erlebten Fällen oft deutlicher und ausgeprägter als die Linderung, Besserung oder gar Schmerzfreiheit. 

     

Heilung ist wie ein Faden aus Spitze.


Der SpitzenFaden.

Er ist löchrig, durchscheinend, ansehnlich, sensibel und romantisch.

So wie unsere Spitzenmedizin in Form von Spritzen. 

     

Unser Faden ist an der Spitze.

Der Spitze des Eisbergs. Der Spitze des Tragbaren. 

Wobei der Weg zur Spitze unendlich dehnbar scheint. 

Die Spitze als Berg des Erreichten.


Es reicht! 


Wir sind Faden wider Willen. 

Wir sind unerklärlicher Faden, aber mit Bedeutung. 

Wir sind Faden fest, resilient und verlässlich.

Wir sind Faden so unbändig wie das Meer, der Himmel und der Ozean.

Wir sind wie deren unfassbare Weite, Weisheit und Tiefe.

Wir sind dunkelblau. 

Und tiefrot.

Wir bluten den roten Faden.

Wir nehmen ihn an.

Wir nehmen ihn in die Hand.

Wir machen das wieder und wieder.

Wir werden nicht müde, ihn festzuhalten.

Wir werden nicht müde, ihn loszulassen und neu zu verknüpfen.

Wir spinnen ihn weiter.

Wir weben damit unser Muster in das Lebensmeer.

Wir verbinden ihn.

Wir gestalten ihn.

Wir lieben.

Wir leben.

Wir sind.

Der rote Faden