Semi Deep Dives

von JULIANNA

1 Skizze über kollektives Schreiben, queeres Begehren, das Internet


(1)

ANNA

Wir sitzen gemeinsam im Zug. Du trägst ein Samtkleid. Ich hoffe, dass du es für mich angezogen hast, traue mich aber nicht zu fragen. Am Abend zuvor habe ich dir eine Kette geschenkt. Ich finde es schön, wie mein Name jetzt zwischen deinen Schlüsselbeinen liegt. Deine Worte geben mir Bedeutung. Manchmal frage ich mich, ob ich ohne deine Worte überhaupt noch existieren würde. 

JULIA

Zum ersten Mal seit langem trage ich eine Kette um meinen Hals, die ein Geschenk war und die mir nicht zu eng ist, weil ich die Länge selbst einstellen kann. Du hast mir diese Kette geschenkt und trägst die gleiche um deinen Hals. Du stellst deine Länge auch selbst ein. Sofort fragen uns alle, ob wir die Ketten immer tragen wollen und was sie bedeuten. Davon haben sie keine Vorstellung. Ich will nicht lügen, auch ich habe keine genauen Vorstellungen, warum müssen wir immer alles festlegen, wenn wir auch Ketten tragen können, die variabel einzustellen sind. Wenn wir schlafen, legen wir sie einfach neben uns auf das Nachtkästchen . Vielleicht tragen wir sie nur jeden zweiten Tag oder nur am Montag oder nur, wenn wir uns sehen. Dafür brauchen wir keine Tagesordnung.

Auszug aus JULIANNA: Rosa Samthaargummis, keine Schuhe / Blaue Samtkleider, keine Strümpfe. Kurzprosa. (unveröffentlicht)


(2)

Schreibt ihr abwechselnd?

Seid ihr dabei am selben Ort? 

Wie läuft das Überarbeiten?

Darf die andere etwas löschen? 

Wer von euch hat was geschrieben?

Streitet ihr euch?

Tragt ihr diese Ketten immer? 

Was bedeuten sie?

Wie habt ihr euch kennengelernt?

Habt ihr Angst davor, dass ihr euch irgendwann trennt?

(3) 

‘Chloe liked Olivia …’ Do not start. Do not blush. Let us admit in the privacy of our own society that these things sometimes happen. Sometimes women do like women. ‘Chloe liked Olivia,’ I read. And then it struck me how immense a change was there. Chloe liked Olivia perhaps for the first time in literature. (Virginia Woolf: A room of one’s own)

Wir lernen uns im Internet kennen, ab 2020 schreiben wir gemeinsam. Unser erster Text trägt den Titel Ist das 1 Literatur und entsteht während des ersten Lockdowns. Über Monate schreiben wir abwechselnd online in einem Dokument, manchmal dauert es Wochen, bis eine von uns weiter schreibt. Ein Jahr später erscheint der Text in der Sukultur-Reihe “Schöner Lesen”. Unsere beiden Namen stehen nebeneinander auf dem Cover: Anna Neuwirth, Julia Knaß.

In Rethinking Women’s Collaborative Writing geht die kanadische Literaturhistorikerin Lorraine York auf die Geschichte des kollektiven Schreibens ab dem 19. Jahrhundert ein. Zu lesen, wie andere FLINTA-Kollektive arbeiten und was ihnen von außen zugeschrieben wird, ist erhellend. Zu verstehen: Es gibt eine Tradition des kollektiven queeren Schreibens, es handelt sich nicht um eine neue Erscheinung, nicht um einen Trend. Auch wir haben einen Kanon, selbst wenn dieser nicht so leicht zugänglich ist wie der Kanon.

When bodily separated, the poets saw themselves as incomplete texts; as Edith writes in the journal in July 1892: '[S]he [Katherine] is in Oxford - I am here a fragment'. (Katherine Harris Bradley, 1846–1914, und Edith Emma Cooper, 1862–1913, schreiben unter dem Pseudonym “Michael Field” mehrere Gedichtbände und 30 Versdramen gemeinsam. Vgl. Lorraine York 2002).

Auch zu verstehen: Die Strukturen des Literaturbetriebes sind nicht auf kollektive Formen ausgerichtet, sondern auf einzelne Autor*innen, die zueinander im Wettbewerb stehen. Sich Preisgelder, Literaturstipendien und Auftrittshonorare zu teilen, bedeutet in den meisten Fällen, weniger Geld zu bekommen bei gleichbleibender Arbeit. Dass viele Kollektive nicht langfristig arbeiten können, liegt an diesen Strukturen, liegt am Finanziellen.

Können wir uns das leisten?

Nein.

2022 ändert sich unsere Beziehung und auch unser gemeinsames Schreiben. Wir beginnen mit dem WERK (ein über 3000-seitiger Chat über queeres Begehren und Machtverhältnisse). Auch wie wir schreiben ändert sich: Haben wir anfangs abwechselnd in ein Dokument geschrieben, fällt das Nacheinander nun weg. Wir arbeiten ohne Regeln in mehreren Dokumenten und einem Chat, alles kann immer verschoben, gelöscht, umgestellt, kopiert werden. Oft wissen wir am Ende nicht mehr, wer von uns was geschrieben hat. 

Als Anna für eine Veranstaltung angefragt wird, weil der Kurator annimmt, sie wäre Julia, beschließen wir, diese Verwechslung zuzuspitzen, unsere Namen miteinander zu verschmelzen: JULIANNA zu werden. Wir ziehen uns bei Auftritten gleich an, treten als die jeweils andere auf. Wie im Text verschwimmt auch auf der Bühne, wer von uns Anna und wer Julia ist. 

Wenn wir verkürzt über unsere Genese schreiben, dass wir uns in einem Chat kennengelernt und ineinander und unser gemeinsames Schreiben verliebt haben, dann ist das auch eine Weiterschreibung von 

Chloe liked Olivia for the first time in literature.

(4)

More recently, women collaborators have mused over an array of other possible metaphors: sibling relationship, erotic bond, mixed salad, stew, operatic duets, and much else besides. But what I take as a cautionary note from this ongoing challenge to define collaborative writing is a valuable reminder that collaborative writing relationships (like all others) are not static, austerely classifiable objects. (Lorraine York 2002)

Im Februar 2023 schenkt Anna Julia eine goldene Kette mit dem Schriftzug Julianna. Anna trägt dieselbe Kette. 


(5)

Wir haben uns im Internet kennengelernt, und das Internet ist der Ort, in dem wir noch immer am meisten schreiben, auch wenn sich die Räume verändern. Aktuell findet ihr unsere Texte vor allem in unseren Newslettern, auf unseren Webseiten und Blogs. Einige Social-Media-Plattformen versuchen wir weniger (zb Meta) oder gar nicht mehr (zb Twitter) zu verwenden, weil die Betreiber rechtsextreme Politik fördern.

Waren wir früher vor allem auf Facebook, Instagram und Twitter zu finden, treten aufgrund der politischen Entwicklungen jetzt immer mehr Newsletter und Blogs in den Vordergrund. 

Wenn wir das Internet als literarischen Playground betrachten, scheint es immer eine Zweiteilung zu geben, die sich entlang von Geschlechterklischees auftut: Zum einen gibt es männlich assoziierte Internetliteraten, die sich seriös mit dem Programmieren, den Strukturen und der Literatur des Internets beschäftigen dürfen. Zum anderen gibt es weiblich assoziierte Onlinepoetinnen, denen abgesprochen wird, Literatur zu produzieren, weil sie ja “nur Tagebuch schreiben”. 

We're reading and writing more than we have in a generation, but we are doing it differently-skimming, parsing, grazing, bookmarking, forwarding, and spamming language—in ways that aren't yet recognized as literary, but with a panoply of writers using the raw material of the web as the basis for their works it's only a matter of time until it is. (Kenneth Goldsmith 2016)


Das Internet ist Julianna, Julianna ist das Internet, durch das ihr swiped, forwarded, scrolled. Was Kenneth Goldsmith in Wasting Time on the Internet ausführt, haben wir uns angeeignet und zu unserer Methode gemacht, die wir 

Semi Deep Dives 


nennen.

[15.08.23, 20:50:36-20:51:42] 

Julia: Habe heute 1 semi deep dive gemacht um zu schauen was L so liked

Anna: Und?😱

Julia: er liked echt kaum was

Julia: aber meine posts schon relativ oft 🥰🥰🥰

Anna: So richtig altmodisch 🥺

Julia: jaaaaa

Anna: Dann ist es noch cooler wenn er d1 posts liked ❤‍🔥❤‍🔥❤‍🔥

Julia: ja war gleich wieder feucht


(Auszug aus JULIANNA: Semi Deep Dives. Lyrikband. unveröffentlicht)

Deep Dive bezeichnet eine Methode, bei der eine ausführliche, ins Detail gehende Analyse eines bestimmten Themas durchgeführt wird. Das semi, das wir voranstellen, eröffnet einen Gegensatz, so ergibt sich ein Oxymoron, unsere Methode: Semi Deep Dives. Deep Dives ja, aber eben nur semi. Dass das nicht nur der schwindenden Aufmerksamkeitsspanne geschuldet ist, sondern auch ein Schutz sein kann, um nicht zu lange bei einem Thema zu verweilen, ist gesetzt: Queeres Begehren in einer patriarchalen Gesellschaft ist ständig in Gefahr. Nicht immer ist es möglich, sich dieser Gefahr auszusetzen, manchmal bleibt uns keine andere Möglichkeit, als zu gehen, um sicher zu sein.


[01.09.24, 12:46:03 - 14:06:34]

Julia: 😭😭😭😭😭

Julia: Es ist so sad

Julia: Ohne dich im Internet

Julia: ich würd mit F schlafen

Julia: Also aber nur wg S

Julia: Lol

Julia: Upsi, K hat mich gar nicht rausgeworfen

Julia: aus s1 stories

Julia: Sondern mein insta 

Julia: Naja

Julia: Auf bald

Julia: Upsiiiiiooooooiiiiiiiii

Julia: Anna

Julia: Ich bin so lost

Julia: Im just a delulu girl

Julia: Im Internet

[27.09.24, 09:50:14 - 09:51:02]

Anna: ich mags nicht wenn wir uns so lange nicht sehen

Anna: Da werd ich grantig

Anna: das ist scheiße

Anna: 😡

Anna: also kann eh niemand was dafür

Anna: Aber

Anna: I‘m just a baby

(Auszug aus JULIANNA: Semi Deep Dives. Lyrikband. unveröffentlicht)

Die oben erwähnte Zuschreibung, als nicht seriös abgewertet zu werden, kann dazu führen, dass Autor*innen sich selbst Regeln für das Schreiben auflegen, um ernstgenommen zu werden, wie Lea Schneider in ihrem Essay Scham erläutert: Für Menschen, die als weiblich gelesen wurden und denen die Anerkennung durch das heteronormative Gesellschaftssystem nicht vollkommen gleichgültig war, galt zudem: Schreib niemals über Liebe. Zeige niemals deine Abhängigkeit von Anderen, von ihrer Anerkennung und ihrer Zuwendung. Zeige niemals deine absolute und unstillbare Bedürftigkeit. (Lea Schneider 2021)

Wir versuchen in unseren Texten genau das zu tun: absolute und unstillbare Bedürftigkeit offen zu schreiben.

(6)

ANNA

Wir fahren nur den ersten Teil der Strecke gemeinsam, dann musst du umsteigen. Wir leben mehrere hundert Kilometer voneinander entfernt. Der Abschied von dir fällt mir leicht, weil ich weiß, dass wir uns in weniger als einer Woche wiedersehen werden. Außerdem fühlt es sich zwischen dir und mir nie wie ein Abschied an, weil wir gemeinsam im Internet leben. Im Chat mit dir liegt meine Existenz. 

JULIA

Du weißt, was mir guttut, weil ich es jetzt sagen kann. Ich schreibe dir, dass Schmerz für mich Wärme bedeutet. Aber nicht nur das, er ist auch die Welt für mich. Sonst träume ich immerzu, bin bei Quallen und Gespenstern. Wenn du deine Ringe abnimmst und sie auf meinen Nachtisch legst, weiß ich, dass ich aufwachen werde, weil deine Hand meine Wangen röten wird. Wir heben die Ketten auf, wenn du mich triffst, wir spüren die Welt. 

Auszug aus JULIANNA: Rosa Samthaargummis, keine Schuhe / Blaue Samtkleider, keine Strümpfe. Kurzprosa. (unveröffentlicht)

(7)

JULIANNA

Ja, wir wissen, dass wir großartig sind.

Ja, wir schreiben zusammen.

Ja, wir sind zusammen.

Ja, wir sind Schwestern.

Ja, wir sind Brüder.

Ja, wir sind ein Liebespaar.

Ja, du hast uns im Internet gesehen.

Ja, eine von uns will dich ficken.

Ja, die andere ist auch immer da.

Ja, zu zweit.

Ja, immer.

Ja, wir.

Auszug aus JULIANNA: Rote Flecken denken. Manuskript. (unveröffentlicht)

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(9) 

Referenzen

JULIANNA: Rosa Samthaargummis, keine Schuhe / Blaue Samtkleider, keine Strümpfe. Kurzprosa. (unveröffentlicht)

JULIANNA: Rote Flecken denken. Manuskript. (unveröffentlicht)

JULIANNA: Semi Deep Dives. Lyrikband. (unveröffentlicht)


GOLDSMITH, Kenneth: Wasting Time on the Internet. Harper Perennial 2016.

SCHNEIDER, Lea: Scham. Verlagshaus Berlin 2021.

WOOLF, VIRGINIA: A Room Of One’s Own. 2. Aufl. Insel Verlag 2023.

YORK, LORRAINE: Rethinking Women's Collaborative Writing. Toronto Press 2002.