Serpentinen, Sprachbarrieren


von Sára Köhnlein

i.


Als Kind war ich hier gewesen, mehr als zwei Mal. Der Weg in die Berge kommt mir bekannt vor, wie ein verschwommenes Bild, das man nicht mehr eindeutig einem Traum oder einer Erinnerung zuordnen kann. Steil steigende Serpentinen, aus Mischwald wird allmählich Fichtenwald – vom Borkenkäfer zerstört, von der Zeit wieder erneuert, aber der Schädling hat seine Spuren hinterlassen, so wie der Mensch, seine Präsenz bleibt auch in seiner Abwesenheit sichtbar.

Blüten jeglicher Art fehlen. Nur Fichten, Moos, Gras und ein Ausblick ins Tal, wo die Berge landeinwärts ausatmen.

Meine Sprache ermöglicht und beeinflusst, was ich sehe. Meine Augen beschreiben auf Deutsch: Fichte, Moos, rote Dächer im Tal, Autos mit Allradantrieb, ein Bach, eine Wehrkirche mit strahlend weißen Wänden und einem untersetzten Turm mit Pyramidendach. Vor der weißen Friedhofsmauer ein Bündel Schneeglöckchen. Der prachtvolle Ausblick der Toten ins Tal. Der Berg entscheidet sich, beinahe senkrecht zu stürzen, aber die Menschen finden immer einen Weg, jeden noch so steilen Berg zu bewohnen, und die Kirche, sagt der Vater, diente sicher als Festung in Kriegszeiten, wo sich die Bauern verschanzten, und wenn die fremden Soldaten auch gläubig waren, ließen sie die Bauern vielleicht in Ruhe.

Die Bauern sangen vor Jahrhunderten in der Kirche und die kalte Bergluft trug ihre Stimmen in den Himmel. In welcher Sprache sangen sie ihre Gebete? Auf Deutsch, Tschechisch oder Latein? Hier sind wir im Grenzgebiet, hier ist nichts eindeutig festgelegt, das Land fließt mal in die eine, mal in die andere Richtung. Nach dem Münchner Abkommen wurde es dem Deutschen Reich überlassen, dann bekamen es die Tschechen zurück, nur um drei Jahre später die Tore in die westliche Welt zu schließen, sich dem Osten zuzuwenden, sich 1989 wieder zu befreien...

Nicht weit weg von hier gibt es eine Villa, deren Geschichte ich kenne; von den deutschen EinwohnerInnen zwangsmäßig verlassen, nach dem Krieg von einem tschechischen Arzt bewohnt, der nach dem Tod seiner Frau von Gespenstern geplagt wurde und auf einem Pferd zu seinen PatientInnen ritt, weil keine Straße in das Dorf führte, das früher einmal ein Dorf war, jetzt aber nur noch aus einer Villa und zwei oder drei Ruinen bestand.

Die Gegend ist voll von solchen Geschichten, es gibt beinahe mehr verlassene als bewohnte Häuser: An die Namen der Menschen, die auf den Friedhöfen liegen, erinnert sich aber keiner mehr.

Die Familie sperrt das Auto ab und betritt den Wald. Im Schatten wird es schlagartig kälter. Hier in den Bergen kommt der Frühling später und in einer milderen Form. Die Luft zwischen den Fichten und dem Moos fühlt sich in den Lungen frisch und sauber an. Eine Eberesche entfernt sich in den Jahren, durch die sie wächst, von der benachbarten Birke, vielleicht wegen eines uralten Disputs.

Mehr als eine Stunde geht die Familie durch den Wald, erst auf einem Kieselsteinweg, dann auf einem Pfad aus flachen Steinen, der schon vor all den Aussiedlungen durch den Wald führte. Unterwegs unterhält sich die Familie in einer Mischung aus Deutsch und Tschechisch, in ihrer eigenen hybriden Sprache.

Ich frage mich, ob es den Bäumen darauf ankommt, welche Sprache gesprochen wird, und ob sie alle oder keine verstehen.



ii.


Auf der anderen Seite des Berges verwandelt sich das, was aus der Ferne wie eine Lichtung wirkt, in einen Abhang. Die Familie bleibt stehen. Wir bleiben stehen.

Der Vater zeigt mit dem Finger in das Tal vor uns, unter uns, streift dabei mit dem Arm all die Berge, im Vergleich zu den Alpen eher flache Hügel, das muss man zugeben, der größte Berg nur 1456 Meter hoch, und der liegt noch dazu auf der anderen Seite der Grenze, den können wir nicht wirklich beanspruchen...

Die Berge – oder sagen wir lieber Hügel, bleiben wir bescheiden – liegen vor uns, bedeckt von einem fast ununterbrochenem Teppich aus dunkelgrünem Wald.

Die Eltern wohnen nicht weit weg, etwa eine Stunde mit dem Auto, aber ich bin schon so lang nicht mehr hier gewesen, dass mir die Landschaft fremd vorkommt. Wie eine Touristin mache ich schnell ein Bild mit meinem Handy.

Der Vater zeigt auf ein Dorf auf einem Hang, nicht weit weg von der Burg mit den zwei Türmen (bei einem der Türme scheint das Dach langsam einzustürzen). Circa zehn weiße Häuser umgeben von Wiesen, die aber an den Rändern vom Wald verschluckt werden. Der Vater sagt: In dem Dorf leben sie wie vor 200 Jahren, da gibt es keinen Strom, so wie damals, stellt euch das vor. Obwohl... vielleicht haben sie mittlerweile ein paar Solarpanele installiert, wer weiß. Aber das deckt den Verbrauch nicht.

Ich zoome durch die Kamera meines Handys näher. Die Dächer sind alle rot und orange, wirken relativ neu.

Das Dorf weigert sich durch die Unangeschlossenheit an das Stromnetz, die Sprache der modernen Welt zu sprechen. Es schweigt. Zuckt die Schultern, als es von den steigenden Strompreisen erfährt.



iii.


Grenzen sind überhaupt seltsame Orte. Ein Versprechen, dass bald etwas zu Ende geht, hängt in der Luft, ein Abgrund dort, wo man eine Lichtung erwartet.

Als Kind stand ich auf einem weißen Grenzstein, mit jedem Fuß in einem anderen Land, lachend.

Der Vater erzählt, wie ihn sein Großvater mit dem alten Auto den Berg hinauffuhr. Dort stiegen sie aus und schauten abwechselnd durch das Fernglas. Sie sahen die Männer in grünen Uniformen, die hinter dem Stacheldrahtzaun patrouillieren oder auf ihren Wachtürmen saßen und ihrerseits Ferngläser auf den Großvater und den Enkelsohn richteten.

Die Mutter, die sich damals auf der anderen Seite des Zaunes befand, hätte sich nie so nah an die Grenze gewagt.

Aber irgendwann war der Weg auf einmal frei.

Der Eiserne Vorhang ist nicht gefallen. Vielmehr begann er unter dem Druck der blutenden Körper nachzugeben, zu reißen. Noch dreißig Jahre später, mehrere Generationen später, trauen sich die Hirsche und Luchse nicht über die Grenze. Sie vermuten den Zaun, wo es ihn nicht mehr gibt, wissen viel besser als die Menschen Bescheid. Sie haben das Wissen geerbt, fühlen die unsichtbare Kluft so deutlich, dass sie lieber auf ihrer eigenen Seite bleiben. Vielleicht dröhnen die Schüsse noch zu laut in ihren empfindlichen Ohren, vielleicht riechen sie noch das Eisen.



iv.


Als Kind hätte ich den Wald auf Tschechisch, nicht auf Deutsch beschrieben: bříza, mech, smrk, kamenná cesta. Das Land hinter den Bergen war das Land der frischen Brezeln, der Osterhasen, das Land der neuen Häuser, denn die alten wurden zerbombt oder abgerissen, es gab genug Geld für neue.

In der Zeit, in der ich nicht hier gewesen bin, kam es zu einer sprachlichen Verschiebung und Abschiebung in meinem Inneren. Die Grenzen verschwammen, die Sprachen und Geschichten vermischten sich: die Täter und Opfer, Opfer und Täter in einem Körper, die Urgroßmütter auf der Flucht, auf beiden Seiten der Grenze, entfernen sich in einer Art Spiegelbewegung voneinander, nur um später wieder zueinander zurückzufinden, in den Körpern ihrer Urenkelinnen… 



v.


die sudetendeutschen Zwetschken und Palatschinken, der Befehl, ein Dorf wegen der Fehlinterpretation eines Liebesbriefes niederzubrennen, das Dekret, das alle Deutschen aus Böhmen verbannt, und dann die Sprache, die sich vor dem Russischen verbeugt, die sich verbiegt und anpasst, die eine Fantasie der Gleichheit und Gerechtigkeit fabuliert, die einen riesigen silbernen Vollmond dichtet, wo es nur eine schmutzige Straßenlampe gibt, umtanzt von Mücken… die Sprache, die Sprache, bříza, Birke und Tanne, ich lerne alle Baumnamenauswendig, mech, Moos a medovník, samota a rozhledna a údolí, das Tal und der Abhang, sráz a propadlina a preclíky a sobotní nákupy v neděli mají zavřeno přece –

und wo sind die Autoschlüssel fährst du nein ich fahre die Kirche die Kirche die Kirche danach links abbiegen