Siebeneinhalb Minuten
von Sarah Schückel
[00:01]
Liebes Gesundheitssystem, wir müssen reden. Dringend.
„Wie geht es Ihnen?“
Diese Frage stellt sich auch in Bezug auf Dich, liebes Gesundheitssystem.
Wie geht es Dir? Und: Wie geht es mir?
Lass mich ausnahmsweise nicht mit Floskeln auf die Floskel antworten. Lass mich ausnahmsweise ehrlich sein, auch wenn ehrliche Antworten so oft nicht gehört werden oder gar unerwünscht sind. Lass mich ausnahmsweise sagen, wie es mir wirklich geht. Lass mich ausnahmsweise nicht schon
von vornherein alles leugnen, weil Du gleich leugnen wirst, was ich nicht leugnen kann. Lass mich ausnahmsweise Gehör finden, wenigstens für ein paar Minuten?
Ich weiß. Die Uhr tickt. Sieben Minuten sind es im Schnitt, nicht wahr? Sieben Minuten bis zur Diagnose. Oder eher, bis zum Rezept. Oder einer Krankschreibung. Oder einem banalen Rat. Sieben Minuten, in denen ich schnell sprechen muss, weil mir so viel auf dem Herzen liegt, Du aber ohnehin nicht wirklich zuhörst — nur Schlagworte aufschnappst. Schlagworte, die ins System passen. System Krankheit. System Diagnose. System „der Nächste bitte“.
Sieben Minuten, in denen Du mich zu Wort kommen lassen willst — ja ich unterstelle Dir sogar das Wollen, ich will an das Gute glauben und daran, dass ich mit etwas Glück doch gehört werde – und in denen Du mir doch jegliches Wort zu viel abschneidest.
Könnte es nicht doch—?
Nein, so fühle ich mich nicht, ich— !
Bitte, ich habe noch eine Frage…
Schluss aus vorbei. Sieben Minuten sind um. Hier ist ihr Rezept, gute Besserung, auf Wiedersehen.
Deshalb lass mich hier zu Wort kommen. Wenigstens einmal. Hör mir sieben Minuten lang zu – nicht, um zu antworten oder Cremes zu verschreiben, sondern um zuzuhören.
Es geht etwas gewaltig schief, denn ich vertraue Dir nicht mehr.
Stopp. Du willst mir zuhören. Bitte. Ich weiß, es ist hart, aber lass mich reden.
Ich vertraue Dir nicht mehr. Damit sich etwas ändern kann, muss ich erklären, wieso. Muss ich etwas ausholen. Keine Sorge. Sieben Minuten. Ich weiß.
[02:03]
Ich bin eine Frau. Ich bin eine chronisch erkrankte Frau. Ich bin eine vierunddreißigjährige chronisch erkrankte Frau. Wenn Du mich kennenlernst, siehst Du genau das: Alter. Geschlecht. Gewicht. Erkrankungen. Und damit schließt sich die Schublade. Das „Wie geht es Ihnen?“ verkommt zur Floskel, denn Du weißt ja, wie es mir geht. Ich habe ja diese Erkrankung. Dieses Gewicht. Dieses Alter. Dieses Geschlecht. Damit ist doch alles klar, nicht wahr?
Ich bin oft müde. — Aber, das wird der Zyklus sein, nicht wahr? Die Hormone eben. Das gehört ja dazu.
Ich schlafe nicht gut. — Auch normal, richtig? Das ist das Asthma. Schlechte Sauerstoffversorgung im Gehirn, so heißt es.
Ich kann mich schlecht konzentrieren. — Na, das ist der Stress. Du rätst mir zu autogenem Training, das soll helfen.
Ich habe Ausschlag, was kann das sein? — Ach, wer Asthma hat, hat auch Neurodermitis? Da sind dann keine Tests nötig?
Ich habe aber untypischen Ausschlag, vielleicht ist es was anderes? — Nein, für Dich ist der Fall klar. Es ist halt so.
Ich hätte gerne eine echte–, eine Differenzialdiagnose? — Aber ich vergaß: Ich bin ja eine Frau. Und es gibt Kortison-Creme. Und autogenes Training.
Die Schublade schließt sich. Und sperrt mich einsam darin ein. Ich renne mit meiner Müdigkeit gegen Wände, schleppe mich von Wartezimmer zu Wartezimmer, weiß, dass etwas nicht stimmt, weiß, dass mein Körper mehr ist, als meine chronische Erkrankung, weiß, wann die sich wie anfühlt — und niemand glaubt mir.
Bitte nicht googeln, heißt es immer. Für medizinische Infos niemals auf das Internet vertrauen. Nur medizinisches Personal kann wirklich helfen.
Medizinisches Personal hilft mir nicht. Das Internet enthält mehr Informationen, als ich je in sieben Minuten bekommen habe. Ich google.
Ich weiß, ich habe Glück. Meine Mutter ist Kinderkrankenschwester. Ich bin mit dem Pschyrembel im Regal aufgewachsen. Mein bester Freund ist Arzt. Ich kann mein eigenes Nicht-Wissen gut genug einschätzen, um nicht schon beim siebten Suchergebnis tödlich erkrankt zu sein.
Ich sammle Informationen. Ich erkenne Muster. Ich habe Vermutungen. Aber ich habe niemanden, der mich ernst genug nimmt, um mir zuzuhören. Liebes Gesundheitssystem, wenn ich sage, dass ich gegoogelt habe, sei Dir gewiss: Ich mache das nicht aus Spaß an der Freude. Ich mache es aus Verzweiflung. Es ist mein Plan Z. Weil alle anderen Pläne, alle anderen Fragen, die ich Dir gestellt habe, gescheitert und ungehört verhallt sind.
Mein Ansatzpunkt ist Deine Schublade: Ich bin eine Frau.
Meine weiblichen Verwandten haben auch eine Krankengeschichte. Ich erkenne Muster. Ich sammle Informationen. Und ich erkämpfe mir unter dem Verdacht, dass ich familiär vorbelastet bin, teure Labortests.
[05:04]
„Wie geht es Ihnen?“
Erstmals wird mir diese Frage gestellt, weil mir jemand zuhören will. Eine Frau. Etwa mein Alter, vielleicht etwas älter. Kennt chronisch Kranke. Aber sieht mich.
Ich bin müde. —Sage ich und meine es auf so vielen Ebenen. Ich schlafe schlecht, ich kann mich nicht konzentrieren. Ich habe merkwürdigen Ausschlag. Mein Asthma ist nicht sonderlich gut eingestellt. Aber auch: Ich bin so müde. So müde vom Nichtgehörtwerden. Vom Nichtgesehenwerden.
„Ihr Eisenwert ist im Keller. Sie haben eine massive Blutarmut. Ihr Gehirn bekommt nicht genug Sauerstoff. Alle Körpersysteme laufen auf Notbetrieb. Ihr Immunsystem ist am Ende. Sie sollten jetzt bloß nicht krank werden. Wir müssen dringend etwas tun.“
Ich übersetze: Ich. Sehe. Dich. Und: Ich. Höre. Zu.
[06:13]
Liebes Gesundheitssystem: Ich hatte Glück. Das muss Dir bewusst sein. Ich hatte einfach nur Glück, dass eine Ärztin nicht die sieben Minuten auf der Uhr, oder Deine Vorgaben, sondern mich als Person im Blick hatte. Dass eine Ärztin nicht die vorherigen Diagnosen, sondern meine aktuellen Beschwerden gesehen hat. Dass eine Ärztin mich mit ihrer ganzen Art bat, die Floskeln zu lassen — weil ihre Frage eben keine Floskel war.
Ich hatte Glück, dass eine Ärztin aus ihrer eigenen Schublade ausgebrochen ist.
Liebes Gesundheitssystem: Du versagst. Ich muss ehrlich sein, so wie meine Ärztin ehrlich war. Sie warnte mich vor den Konsequenzen, wenn wir mir nicht helfen würden. Und ich muss Dich warnen: Du versagst. Gerade bei Frauen.
Du hörst uns nicht zu, weil Du in Schubladen denkst. Und auf der Schublade unseres Geschlechts steht ein großes Fragezeichen. Unsere Körper, unsere Hormone, unsere Eigenheiten — all das wird, wenn überhaupt, dann stiefmütterlich oder erst seit kurzem erforscht.
Du erwartest von uns, dass wir Medikamente schlucken, während wir einen Hormonzyklus haben, der der Grund dafür ist, dass die Medikamente nicht an uns erforscht werden, weil dann ihre Wirkung nicht so einfach einzuschätzen ist. Du erwartest von uns, dass wir Dir blind unsere Körper anvertrauen, während wir eingeredet bekommen, dass man unseren Körpern ja nicht vertrauen könne. Du erwartest von uns, dass wir Diagnosen hinnehmen, weil sie auf den ersten Blick passend erscheinen — aber Du hörst uns nicht zu, wenn wir sagen, weshalb das nicht sein kann.
Liebes Gesundheitssystem, ich sehe, dass es Dir nicht gut geht. Und müsste ich Dich diagnostizieren, wie Du mich diagnostizierst, würde ich sagen: Das ist alles nur in Deinem Kopf.
Liebes Gesundheitssystem, vielleicht ist es Zeit, dass uns beiden mal zugehört wird?
[07:30]