Ich schreibe Spinnenfäden


Die Wiederholung endet mit mir. Ich verweigere mich der nächsten Runde. Ich durchbreche den Kreis.

Zumindest nehme ich mir das fest vor.

von Nina Süßmilch,

mit Illustrationen von Sonja Crone


Meine Großmutter, meine Mutter und mich verbindet das “Frauenleiden”. Uns verbindet der Schmerz und das Wachstum von Zysten, Myomen, Endometriose, Krebszellen. Ich bin die dritte Generation und mit mir endet es. Nach mir kommt keine mehr.


Ich will auch glauben, dass uns die Wut verbindet. Die Wut, gefallen zu müssen. Die Wut darüber gefallen zu wollen. Und die Wut nie wütend sein zu dürfen und es dann irgendwann zu verlernen. Die Wut kommt oft nur noch in kleinen selbstzerstörerischen Dosen oder sie wird passiv-aggressiv wie mit winzigen Pfeilspitzen ausgesendet. Das ist die einzige Wut, die uns geblieben ist. Eine Wut, die sich festsetzt und mit jeder Generation neue Blüten treibt. 


Denn unser Körper ist klug, vergisst nicht und er trägt das Wissen weiter. Er ist wie eine Wurzel. Die nächste Generation übernimmt die Ableger, pflanzt sie neu. “Reliving the cycles”, heißt das in der Psychotherapie. Wir wiederholen, was wir kennen und wir wiederholen diese Muster, in der Hoffnung zu reparieren, was kaputt gegangen ist. Wir wiederholen alte Muster, um es besser zu machen. Wir gehen wieder und wieder dorthin, wo es weh tut. Jede*r von uns ist die Zunge, die sich an den entzündeten Zahn heran tastet und fühlt, ob der Schmerz noch da ist. Er ist noch da, der Schmerz und er bleibt, wenn wir ihn nicht verstehen lernen.

Wer war meine Urgroßmutter, bei der die Wut begann? Oder bei der sie eine so omnipräsente Begleiterin wurde, dass wir Nachkommende diese Wut weiter getragen haben. Als ich in der Therapie das erste Mal über meine Urgroßmutter spreche, lache ich ein bisschen über die Frau, die ich nur hochbetagt, allein am Küchenfenster sitzend kenne, mit einer hervor geschobenen Unterlippe. Beleidigt, nie zufrieden, nörgelnd und immer, immer fordernd. Und je mehr sie forderte, desto stärker zogen wir uns zurück. Warum konnte meine Urgroßmutter der Tochter, ihrem einzigen Kind, mit dem sie früher ein enges Verhältnis hatte, etwas nicht verzeihen, wofür diese nichts konnte? Immerhin verbrachten beide Frauen ihr Leben gemeinsam in einem Haus, hatten bis in die 60er Jahre hinein wilde Silverster-Sausen und lachten strahlend aus alten Schwarz-weiß Fotos heraus. Meine Therapeutin hingegen lachte nicht. Sie sagte ernst, dass niemand meine Urgroßmutter wirklich gesehen hätte. Dass sie keinen Platz bekommen hätte.

Vielmehr wurde ihr ein Platz im Unsichtbaren, Stillen zugewiesen, dort wo Frauen in den letzten Jahrhunderten normalerweise saßen. Diese Frau, die im Alter als Tyrannin das Leben der eigenen Tochter schwer machte, hatte keinen Platz in dieser Welt. Oder vielmehr hatte sie nicht den Platz bekommen, den sie wollte. Ich weiß nicht, ob man deshalb verzeihen kann, was sie getan hat. Dem eigenen Kind die Liebe zu entziehen, ist furchtbar. Die berechtigte Wut, die sie hatte, richtete sich gegen die falsche Person und pflanzte sich dort fort.

Meine Urgroßmutter wurde Anfang des 20. Jahrhunderts in einem thüringischen Dorf als älteste Tochter geboren. Ein Silvesterkind war sie, stur wie ihr Vater, mit einem ähnlichen Temperament, heißt es. Er war Dorfschmied, stolzes Mitglied im Schützenverein und später ein überzeugter Nazi. Ich weiß nicht, welche Träume meine Urgroßmutter hatte oder ob sie sich mehr erhoffte als ein Leben, das die Ahninnen vor ihr genauso gelebt hatten. Ob sie gerne mehr gesehen hätte. Ich weiß nicht, ob sie wirklich im 5. Monat schwanger den Vater meiner Großmutter heiraten wollte, der später nicht aus dem Krieg zurückkommen sollte und mit dessen Eltern sie daraufhin zusammen leben würde. Sie hatte Spaß am Feiern und an Festen. Davon zeugen alte Fotos im Familienalbum, leicht verschwommen. Ich glaube, es gab eine Zeit, in der sie laut lachte. Doch als das Haus nach dem Tod der Schwiegereltern direkt an ihre Tochter ging und nicht an sie, war der Spaß vorbei. Meine Urgroßmutter war nicht gesehen worden. Ihr Ehemann lag irgendwo begraben im tschechischen Boden und der Besitz ging an die nächste Generation, an ihre eigene Tochter.

a haiku dream // Sonja Crone

In der Medizin wird die Wunde als Trauma bezeichnet. Die Wunde, die offen ist, (noch) nicht verheilt, vielleicht notdürftig irgendwie zugepflastert. Auf die seelische Wunde, also eine Trauma-Erfahrung reagiert unser Nervensystem mit den folgenden Strategien: fight, flight, freeze, fawn. Die vier “F”s - im Deutschen würde man übersetzen: kämpfen, fliehen, sich tot stellen und “katzbuckeln”, also alles tun, um dem, was da Gefahr bedeutet zu gefallen und somit nicht unter die Räder zu kommen. Und das unverarbeitete Trauma frisst sich in den Körper, während man sich gefällig macht, zeigt sich darin, wie wir atmen, mit wem wir in Augenkontakt treten (können), wie wir unseren Körper halten. Alles punktuelle, instinktive Handlungen, die noch stärker werden, wenn wir sie von den Eltern oder von den Großeltern erlernen, wenn wir sie adaptieren. Die Wut, die wir nicht zeigen dürfen. Die Wut, die wir nicht haben dürfen. Inzwischen hat es sich manifestiert zu einer Angst davor, wütend zu sein. Wir wiederholen uns. Ständig. Wir sollten zumindest wissen, warum wir das tun.

Auf keinen Fall der Ossi sein und damit war ich eindeutig als Ossi in der süddeutschen Kleinstadt erkennbar. Mit komischen Klamotten und einem ebenso seltsamen Dialekt ragte Anfang der Neunziger unsere Familie aus der schwäbischen, und durchaus wohlwollenden Gemeinschaft heraus wie ein gelber, alter Zahn in einem sonst weiß gebleichten, scheinbar gesunden Gebiss. Keine Aufmerksamkeit erregen, lieber unauffällig bleiben. Während ich das schreibe, pocht mein Herz sehr schnell.

a haiku dream // Sonja Crone

Es dauerte Jahrzehnte bis ich begriff, dass ich nicht sein konnte, was die anderen waren, denn ich bin ja ich. Aber wir wollen dazu gehören, so unbedingt ein Teil von allem sein, auch wenn das heißt, bestimmte, eigene Anteile zu verstecken. Die dann im Dunkeln umso stärker leuchten.

Es gibt Dinge, über die wir in der Familie nicht sprechen. Jede Familie hat diese blinden Flecken, die gerade dann auffallen, wenn wir sie nicht anschauen. Nicht sprechen, dafür schreiben, das funktioniert. Als Kind bin ich angeblich schon morgens aus dem Zimmer marschiert, mit einem Block und einem Stift in der Hand und habe mich damit an den Frühstückstisch gesetzt. Keine Ahnung, ob ich wirklich irgendwas geschrieben habe. Viel später, eigentlich erst jetzt wird mir klar, dass dieser Stift und das Papier meine Rettungsanker waren. Intuitiv hielt ich mich an etwas fest, das mir eine Stimme geben würde. Sicher und zuverlässig. Ich würde mich auf dem Papier Dinge trauen, die ich sonst nie aussprechen hätte können. Ich kann auf dem Papier so wütend werden, wie ich es im Sprechen mit Menschen, die ich liebe, kaum sein kann. Über Generationen haben wir die Wut so gut trainiert, dass sie heute bei mir gezähmt, zu einem ängstlichen Katzenbaby wird, das nur noch gestreichelt werden will. Es ist, als ob die Wut weg sei.

Die Therapeutin sagt, dass sie das nicht verstehe. Dass die Wut einfach weg sei. Wohin sie denn gehe, fragt sie. Warum ich in bestimmten Situationen nicht wütend werde, fragt sie mich selbst fast wütend. Ich muss lange, viele Wochen darüber nachdenken, spreche mit meinem Partner, meiner engsten Freundin. Irgendwann begreife ich, dass ich Angst davor habe, wütend zu sein, weil sich das nicht “gehört”. Weil ich dann ausgeschlossen und womöglich entsetzt angeschaut werde. Also versteckt sich die Wut und kommt nur dann heraus, wenn ich sie nicht kontrollieren kann. Wenn ich träume.

 Bis vor wenigen Jahren hatte ich einen Traum, der sich häufig wiederholte. In diesen Träumen kann ich nicht aufhören, zu schreien. Da gibt es sie dann, diese einmalige Wut, die alles zerfrisst und kaputt macht, eine schmerzhafte Wut, eine, die lähmt und nicht weiter trägt. Es ist eine Wut, die zerstört, die tief aus dem Bauch kommt, aus den Eingeweiden heraus und wie ein heiser, unverzeihlicher Schrei ist, eine Wut, die so laut brüllt, dass ich mir die Ohren zuhalten will: How fucking dare you? 

Indeed. How fucking dare I? Wie konnte ich es zulassen? Wie konnte ich mir eine der wichtigsten Emotionen absprechen, mehr noch, mich selbst belügen? Wie oft habe ich gesagt, dass alles okay ist, obwohl es Zeit gewesen wäre “Stopp” zu sagen? Wie konnte ich die Wut, die ich bei allen anderen akzeptiert habe, für mich nicht anerkennen? Wie konnte ich mich selbst so wenig respektieren?

Welche Wut hat meine Urgroßmutter angetrieben? Woher kam ihre Wut, die sie, davon bin ich überzeugt, hilflos gegen ihre Tochter richtete, obwohl sie dort gar nicht hingehörte? War es allein das Übergangen-werden? Oder auch das permanente Begrenzt-werden? War es die Wut aller Frauen zuvor, die sich in ihrem Temperament manifestierte?

Ich erinnere mich an die Küche meiner Oma, die nur ein Stockwerk über jener meiner Urgroßmutter lag. Dort saß ich manchmal mit der Oma und meiner Mutter, wenn wir alle zu Besuch kamen, meistens im Sommer, wenn der Großvater Geburtstag hatte. Wir alle drei halten eine Zigarette in den Händen und rauchen (meine Mutter pafft). Wir lachen und bilden diese unbeschreiblich schöne, warme, zärtliche Einheit. Ich kann ein Band spüren, eine Verbundenheit, die nicht nur auf gemeinsamen Erinnerungen beruht, und darauf, dass wir uns lieben. Sondern darauf, dass wir alle drei Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft sind. Wir alle haben gehört “Benimm dich anständig!” und “Pass auf dich auf!” und “Wenn du heiratest, ist das alles vergessen.” Immer wenn meine Oma lachte, klang das oft wie ein Jauchzen und sie klatschte manchmal dabei in die Hände. Ich liebte das sehr und musste immer mitlachen. Meine Mutter grinste oft kopfschüttelnd und lachte ihr leises Mama-lachen. Ich liebe es, mich im Dialekt zu wälzen, oder besser ihm zuzuhören, diesem Familiensprech, der uns noch näher bringt und den ich eigentlich kaum noch so beherrsche wie meine Mutter und Großmutter. 

Schreiben, wenn das Sprechen nicht funktioniert. Im Schreiben liegt meine Kraft. Bis heute ist es das Schlimmste, nicht die richtigen Worte zu finden. Wenn sie sich verstecken.

Hier beginnt der Schreibprozess. Hier steige ich ein. 

Es ist immer der gleiche Anfang: ein Blatt Papier, ein offenes Schreibdokument, eine weiße Oberfläche im Notizenprogramm des Handys. Ich pirsche mich heran. Angst vor dem weißen, leeren Blatt habe ich keine. Ich werfe Worte und Gedanken hin, kreise mein Gefühl, also mich ein. Wieder und wieder. Manchmal geht das stundenlang, manchmal dauert es Tage oder Wochen. Ich lasse mich inspirieren, schnappe Satzfetzen auf, sehe einen Film oder ein Bild, spreche mit den Liebsten, lese einen Satz, der berührt, was sich tief verborgen versteckt.

Die Inspiration kommt immer von anderen Menschen. Louise Bourgeois und ihre Riesenspinne zum Beispiel. Ich stehe wie gebannt davor und komme nicht los von der Ausstellung im Gropius Bau, irgendwann an einem regnerischen Tag im September. Es ist nicht “Maman”, vor der ich stehe. Diese neun Meter hohe Plastik der französischen Künstlerin, die schon über den gesamten Globus wanderte. Aber diese Spinne hier ist groß genug. Mit ihren drei Metern füllt sie den gesamten Raum aus, unter sich ein Käfig, ausgekleidet mit alten Textilien und einem Stuhl. Die Riesenspinne, diese Urmutter, die beschützt und alles überragt. Wie weit reicht ihr Netzwerk? Mit Spinnenfäden so fein und zart, dass man sie manchmal nur spürt und nicht sieht. Dieses Netz der Ahninnen, aus dem wir niemals herausfallen, das uns aber nicht nur auffangen, sondern auch fesseln kann. Ein Netz, das uns –  wenn es vergiftet ist – ansteckt mit seinem Gift. Intuitiv habe ich mich entschieden, mit dem Schreiben das Netz weiter zu weben. Manchmal hat es lose Enden und manchmal klaffen große Löcher, aber wenn ich die richtigen Worte finde, dann kann ich es in einer Art weiterweben, wie es der Urgoßmutter nie vergönnt war. Ich schreibe weiter, wenn das Sprechen nicht funktioniert, wenn ich den Blickkontakt nicht halten kann, wenn ich mich winde. Ich schreibe und reinige das Urmutter-Spinnennetz, webe es weiter und mache kleine, vorsichtige Schritte auf Spinnenfäden, so fein und zart.


Autorin:

Nina Süßmilch lebt und arbeitet in Berlin – als freie Autorin, Lehrbeauftragte an der Freien und Technischen Universität und als Redakteurin bei L-MAG. Sie versucht Ambivalenzen zuzulassen und weiter zu lieben. Außerdem probt sie die zarte Revolution für mehr Gefühle und weniger Patriarchat. Mehr über und von Nina, gibt es hier zu lesen: suessmilch.blog

Illustratorin:

Sonja Crone *1982 in Speyer am Rhein (Deutschland) lebt in Oberwil bei Basel (Schweiz). Sie ist Dichterin und Künstlerin und arbeitet auch als Lektorin. Ihre Texte und Bilder wurden bisher in zahlreichen Anthologien, auf Online-Plattformen und in Literatur-und Kunstzeitschriften veröffentlicht. Sonja Crone ist Mitglied des öffentlichen Netzwerks NoA (Network of Arts). Zurzeit absolviert sie eine künstlerische Weiterbildung an der Assenza Malschule (Basel). Sonja Crone zeigte schon früh eine große Begeisterung für den künstlerischen Ausdruck. Sie malt in verschiedenen Stilrichtungen, wobei die abstrakte Malerei ihre Königsdisziplin ist. Zurzeit arbeitet sie an der minimalistischen Werkserie "a haiku dream". Die Linien sollen das Unausgesprochene und Schwebende eines Haiku ausdrücken. Die Bilder sind alle 70 x 100 cm groß und mit Tusche auf Papier gemalt. Mehr Informationen unter: www.sonjacrone.art und auf Instagram @sonjacrone.art.