tagebuch einer alpträumerin
von Kiara Francke
Tag I
opa sitzt und sinkt. er sesselt sich ein, er macht das gekonnt, jahrzehntelange übung, sinkt also und polstert, klopft auf die lehne, ich reicht an, ich hält teller, ich nickt ihm zu, er nickt zurück, ich reißt sich zusammen, ich fragt, er zuckt zusammen, er sinkt weiter, dann schweigt er bis zum letzten krümel, schweigt alle krümel davon, aufgesaugt, bis keine krümel mehr da, hebt den kopf, halbschräg, er/opa sagt: wir dachten, es wird schon vorüber gehen. und dass er ja nur ein kleiner mann gewesen sei, er nur ein einzelner, was könne er schon, was hätte er schon, ja, so sei das damals eben gewesen, der kuchen sei wirklich fein übrigens, der sei doch wohl nicht selbst gebacken?
teller thront auf lehne. er/opa daneben. sitzt. schweigt. dann ein wumms: er/opa fällt auseinander (weinend) und aus seinem/opas körper stolpern lauter weitere/opas (ebenfalls weinend). es ist ein ganzes wimmermeer, faltenfeucht breitet es sich aus, graumeliert, es schaukelt, trauert, ruft: wir wollten das nicht! wir wollten das doch nicht! wir wussten es nicht besser! wir alle wussten von nichts!
ich tätschelt, trocknet, traurigguckend:
oh. ach. also. wenn das so ist.
wir wissen von nichts.
ihr wisst von nichts.
wir wussten von nichts.
ihr wusstet von nichts.
wir wollten nichts.
ihr wolltet nichts.
wir wollten doch nur.
ihr wolltet doch nur.
Tag III
ich wütet und wendet :
ich will nicht glauben / was ich längst zu glauben weiß
ich will nicht sehen / was ich längst zu sehen weiß
ich will nicht hören / was ich längst zu hören weiß
ein Ich ein anderes ICH
aber wie konnte das passieren? das hat echt keine kommen sehen
aber sie haben es versprochen! wie romantisch
aber unsere werte! wo, wann und für wen?
aber linksextrem ist auch keine lösung! menschenrechte sind so hardcore
aber irgendwo haben sie ja recht! klingt ziemlich rechts
aber das ist demokratie! demokratisch demontiert
aber die importierte gewalt! 1 und was ist mit der hausgemachten?
aber ich weiß nicht, was ich tun soll… in strukturen schlüpfen
aber ich habe keine zeit… vielleicht drückt ja wer pause
aber die bürgerliche mitte bleibt laut! welche mitte?
aber zum glück haben wir gesetze! 2 an die sich keiner hält
aber irgendwann wird es sich schon wieder beruhigen! ok, na fein, bis dahin halt –
faschismus frei!
Tag IIIII
ich glotzt TV. im TV kann ich spektakel glotzen. im TV da glotzt ich mauer-brennen. wenn ich TV glotzt und da brennen mauern, glotzt ich steinern brandgelähmt. ich glotzt TV und die mauern brennen. ich glotzt TV und die mauern rennen. und während ich so TV glotzt und TV auf sich selbst glotzt, laufen die mauern sich heiß und auf bildschirme zu. laufen bis zur flimmer-kante, laufen und laufen und darüber hinaus. ich: glotzt glotzt glotzt. bis die mauern vor ichs füßen stehen, blick versperrt, jetzt ausgeglotzt. brennen mauern flink ins teppichzimmer. glimmen, zünden, flammenfall.
wenn das haus brennt bleibt nichts, nur die straße.
Tag IIIIIIich geht auf die straße. auf der straße steht ich neben ichs. auf der straße steht ich halb verkohlt. ganz hell ist die straße. aus den fenster lodert licht. dicht und getrieben stehen die ichs. wo die gemütlichkeit in flammen steht, der ohrensessel glühend heiß. ich möchte wasserwerfer spielen, aber ich weiß nicht wie. also tröpfelt ich so vor sich hin. tröpfeln ichs so vor sich hin. tröpfeln einen tropfenteich aus tränen, frust und angriffslust. und dann, was dann? dann holt ich aus und stemmt energisch schilder rein.
I
I
I
I make love not war
I
I
I
I
I sie haben hass
I
I
I
I
wir haben haltung
I
I
I
I
ich will haltung haben. hält ich schön den rücken grade, lotet brav das halten aus. ich hört ichs nach haltung rufen. nach haltbarkeit und haltungsstreik. aber wie die haltung haltend wird, das weiß dann kein schrei so genau. stehen ichs neben ichs neben ichs neben ichs. haltungsvoll im halteverbot, ein lenkmanöver im warterausch.
Tag IIIIIII
alle steigen in bügel, aber die bügel tragen keinen davon. ich sieht das aufgesattel, die pferdestaffel, einsatzstart. ich hört das hufescharren, riecht ich die pfefferfahnen, schmeckt bullenlecken, staatenfäulnis, giftverdickung – verratsapparat.
Tag IIIIIIII
ich ist rasend. ich rast und rast und kommt doch nirgends an. wohin soll ich laufen? wo doch das rechts längst verrückt ist und die mitte verpufft. der verrat kriecht ichs wirbel empor. bis an den zungenspitzenrand. leer schmeckt der verrat. nach sprachlosigkeit. welche sprache hast du verloren? fragt ich den verrat. aber der verrat kehrt den rücken. er guckt ich nicht an.
wird der nebel dick, zieht auf, das kollektive ich auf der hut, finsterflut, licht aus, eingeduckt, auf der schulbank das gebet gelernt, nie wieder nie wieder nie, bis fünfundvierzig alles auswendig, dann nachkriegszeit, dann trümmerfrauen, wiederwunder, wirtschaftswende, bloß das heute ausgespart, und das menschliche danach, das wie weiter, wie leben, das nie wieder wie, ja, das wiewiewie, das haben sie uns nicht gelehrt, sie lehrplanslücke, wir lückenbüßer.
Tag IIIIIIIIIII
ich hört: wacht auf, wacht auf! aber ich ist schon wach. und alle anderen auch. ich wünscht sich endlos schlafen. wünscht sich weckkommando, rückgeruder, flimmerphase, fiebertraum.
Tag IIIIIIIIIIIII
wann ist ein guter tag, um zu träumen?
ich kennt keine antwort und träumt: von wundern.
Tag IIIIIIIIIIIIIII
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
schieben und ab
Tag IIIIIIIIIIIIIIII
aber ich will das ja gar nicht. ganz schlimm ist das. was diese leute in den talkshows da so rumbrüllen. das ist natürlich unmenschlich. vollkommen grausam ist das. da könnte man wirklich verzweifeln. dass es diese leute überhaupt noch gibt, wirklich schrecklich ist das. das geht nicht rein in meinen kopf. so fern ist das. da muss man doch demokratisch ran. dass nicht alle bleiben können, mein ich jetzt. bitte nicht falsch verstehen. natürlich muss man menschlich bleiben dabei. das alles rechtlich korrekt in die wege leiten. neue gesetze schaffen. aber demokratisch eben. zivilisiert. mit herz und verstand. weißt du, was ich meine? das darf man doch keine nazis machen lassen! wer weiß, was sonst passiert!5
ich sitzt in der u6 und dreht durch.
Tag IIIIIIIIIIIIIIIIIII
ich ist schockgefroren. und weil ich schockgefroren ist, kann ich nix mehr spüren. ich sagt: mir ist kalt. ich sagt: ich kann mich nicht rühren. ich sagt: nebel. ich sagt: dunst. ich sagt: i c h d i s s o z i i e r t .
ich tut nichts mehr. weil ich nichts tun kann. wenn ich nichts tun kann, kann ich wenigstens nichts falsches tun. schuld ist eine last, die ich auf sich lädt, wenn ich die ladung packt. aber ich hält ja den körper still. packt nichts. weder hoch noch an. also schuldlos, ich. ich jetzt körperlos, heißt schadenlos, heißt schandenlos.
um 4.18 taut ich für 30 sekunden auf und googelt schuld, die.
[1] Zivilrecht: kein Plural: Verbindlichkeit, Pflicht, etwas zu tun oder zu unterlassen
[2] Strafrecht: kein Plural: neben Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit eine Strafbarkeitsvoraussetzung
[3] meist Plural: Verpflichtung zu einer Leistung an einen Dritten, in Geld oder sonstigen Werten
[4] kein Plural: moralisches Fehlverhalten oder die Last infolge des Fehlverhaltens
ich findet viel schuld da draußen.
überall ist schuld zu haben, zu holen, zu geben, begleichen.
ich muss sich nur entscheiden.
um 4.18 ist die schuld im sonderangebot.
extra günstig, für schlaflose.
ich will schlafen.
sagt: schlaf. schlaf!
und die schuld klappt sich zu.
Tag IIIIIIIIIIIIIIIIIIII
ich sitzt in einer prüfungssituation. ich kriegt einen fragebogen. ich zittert. ich hat prüfungsangst. der mensch mit bogen drückt ich einen bleistift in die schwitzige faust.
Menschenrechte, die
Artikel 1: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“
einmal ankreuzen, ganz nach belieben:
O Ja O Nein
Artikel 2: „Jeder Mensch hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa aufgrund rassistischer Zuschreibungen, nach Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.“
O Ja O Nein
Artikel 3: „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“
O Ja O Nein
und zum abschluss noch eine wirklich knifflige:
wir schützen
O weißes leben.
O produktives leben.
O menschliches leben.
O uns.
ich spricht mit einem ich.
das ich sagt kluge dinge wie:
die hoffnung wartet nicht darauf, dass ich sie findet.
die hoffnung ist da, wo die handlung ist.
ich sagt: das schreib ich mir ins tagebuch.
gut, sagt das andere ich.
Tag IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII
HOFFNUNG IST HANDLUNG
HANDLUNG IST HOFFNUNG
HOFFNUNG IST HANDLUNG
HANDLUNG IST HOFFNUNG
HOFFNUNG IST HANDLUNG
HANDLUNG IST HOFFNUNG
HOFFNUNG IST HANDLUNG
HANDLUNG IST HOFFNUNG
HOFFNUNG IST HANDLUNG
HANDLUNG IST HOFFNUNG
Tag IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII
es ist dreckig draußen. ich kann nicht drinnen bleiben. ich erträgt nicht, wenn die wände drücken. wenn die wände nichts tragen, trägt ich sich hinaus. ich schaut sich um. blitzblau und eiskalt. wie füße gehen, vom schein betrogen, behutsam sich durch straßen streifen, fingerkuppen eingekrallt.
ich nennt das sonnenwinter.
wenn alles schmilzt, was da ist und alles glänzt, was nicht bleibt.
1 Im Jahr 2024 stieg die Zahl rechtsextremer Straftaten auf 41.406 Delikte an. Nicht-deutsche Gewalttäter finden sich zu 84,2% im Fernsehen wieder und zu 33,3% in der Realität. ↩
2 Die vom Innenminister angeordneten Zurückweisungen an den deutschen Grenzen verstoßen gegen EU-Recht und Menschenrechte. / Zivilen Orten den Schutzstatus zu entziehen, wie von der Außenministerin befürwortet, verstößt gegen humanitäres Völkerrecht. / SS-Parolen sind verfassungswidrig, mehrfach verurteilte Straftäter dürfen weiterhin auf Bühnen sprechen. ↩
3 „Wir erleben mittlerweile einen Sozialtourismus dieser Flüchtlinge nach Deutschland!“ / „Diejenigen, die hier arbeiten, können wir gut gebrauchen. Diejenigen, die hier nicht arbeiten, werden wieder in Sicherheit zurückkehren müssen!“ / “Wir müssen endlich in großem Stil abschieben!” ↩
4 „Das Nazi-Bashing und das Brandmauergerede müssen aufhören.“ / „Verkommenheit hat ein tolerantes, diverses und wokes Gesicht.“ / ↩
5 Alle Studien zeigen: Es ist nicht möglich Rechtsextreme journalistisch zu stellen. Rechte missbrauchen Meinungsfreiheit, um sie später abzuschaffen. False Balacing, Tone Policing und White Washing seitens der Öffentlich-Rechtlichen führen zu einer Legitimierung und Normalisierung rechter Propaganda. Das Neutralitätsgebot der ÖR bedeutet nicht, jegliche Position unkritisch darstellen zu müssen, sondern destruktive, unsachliche Aussagen einzuordnen und demokratie- wie menschenfeindliche Akteur*innen als solche zu benennen. ↩
Fotografie von Romy Simon