Mutterlos Tochter sein
von Sandra Eichinger
I.
Mutterlos.
Seit einem Jahr bin ich nun schon mutterlos und es ist noch immer kein Brocken, ein Fels. Da fehlt eine Mutter, dort, wo vorher ein Bein war, alles ist anders, die Welt dreht sich trotzdem. Vielleicht schneller, vielleicht langsamer, die Nuancen sind kaum zu spüren. So oft stoßen Wörter an ihre Grenzen, da fehlt ein ganzer Mensch, dem, der man nichts mehr erzählen kann. Mutterlos stolpert mein Herz manchmal, wenn das Telefon klingelt, Kontakte, die mit M begonnen haben, heißen jetzt anders. Seit einem Jahr mutterlos lässt sich schlecht in Worte fassen, (m)ein halbes Leben ist ein arger Reflexionsakt. Der Tod ist wirklich ein unvorstellbares Konstrukt zwischen Albtraum und Tatsache.
II.
Zeit.
Immer wieder frage ich mich, was ein Leben lebenswert macht, wie viele Momente müssen gleißend sein, heiß, glänzend, voll Feuer, um ein Leben gelebt zu haben. Wie viele müssen so traurig sein, dass man glaubt, nicht mehr zu können, nie gelebt zu haben. Man muss schreien, wie die Schweden aus dem Fenster, aber wirklich so laut, oder lauter? Wenn das die Hälfte deines Lebens war, wieviel Zeit bleibt mir dann noch?
III.
Ankommen.
Ich klopfe Wörter in die Handy-Tastatur, der Hintergrund ist blassgelb. Ich bin jetzt wieder in Linz, und da ist endlich alles, was ich gesucht habe, der gelbe Hintergrund ist unendlich dankbar und ich bin es nicht nicht. Es wäre viel einfacher dir einfach alles zu erzählen, die Energie schreibend einzufangen geht fast nicht, ich brauche viele Gegenüber für Begeisterungsschwall-e, Begeisterungsschwälle, eine gute Übung, du würdest sicher viele Beistriche finden und mir das Regelblatt für die kleinen kurvigen Striche wieder kopieren. Deswegen – könnte ich reden, ich hätte schon alles gesagt. Wo soll ich die Wörter hinschicken? Am Ende wird es doch wieder ein Brief ins Nichts.
IV.
Wörter.
Ein halbes Leben gelebt zu haben, wäre es gut, das zu wissen? Ich frage mich, ob du was anders gemacht hättest, aber du warst nicht der Typ dafür. Das Anders-Machen können die anderen machen. Ich sitze hier und schreibe die Wörter, die eigentlich dir gehören, die dir aufs Papier gleiten sollen. Weißt du eigentlich, was ich hier tue, wusstest du, was ich tue? Könnte ich, würde ich Zeitreisen, dir ein Gedicht unter deinen Kopfpolster stecken und sehen, ob die Erbse wirkt.
V.
Schlafen.
Manchmal brauchen Tränen bis sie versickern, manchmal brauchen sie Zeit um freie Bahn zu bekommen. Sand im Getriebe der Tränensäcke verklebt die Augen, manchmal hilft nur mehr schlafen, doch das tust du ja schon. In den schlimmsten Momenten lache ich immer, das möchte ich gerne noch loswerden, doch die Worte sind zu spät nach draußen geschrien, waren zur richtigen Zeit noch nicht da.
VI.
Zuhause.
Weißt du was? Dein Zuhause, das kein Zuhause ist, hat einen Mietvertrag. Ein ganzes Leben für ein Haus, und doch mietet man am Ende wieder. Der Vermieter ist ganz real und trocken, unspektakulär. Bürokratie interessierte dich nie. Vielleicht ist dir langweilig, dort im dunklen Altersheim, vielleicht bist du gar nicht (mehr) da. Vielleicht versteckst du dich hinter Daten und Fakten, die man am Ende gar nicht fassen kann, genauso wenig, wie alles, was passiert ist und alles, was nie passiert ist.
VII.
Blumen.
Da sind wir zu zweit gesessen, vor der Holzkiste. Er fragte, ob wir sie öffnen können, er möchte reinschauen, noch ein letztes Mal. Er ist jetzt draußen, Schokolade hat geholfen. Die Kiste wurde nicht geöffnet. Man meinte, das wäre mit lebenslangem – todeslangem Trauma verbunden. Plötzlich ein Geräusch, ein Rumpeln, tränenverschmiert sah er mich an. Unausgesprochen dachten wir – zwischen den Blumen sitzend – dasselbe.
VIII.
Sprache.
Mich macht es wütend, das Danach nicht zu kennen, nichts zu wissen, mit dieser dreisten Naivität dahin vorzustoßen – alles nur klägliche Versuche. Du hättest bessere Wörter gehabt, aber die sind mit dir flöten gegangen, hättest du gesagt (ich: mit den Augen gerollt). Wir sind alle mitgefangen in einem Konstrukt aus Wurzeln – ich hoffe, du hast es schön dort. Es fassen zu können, wäre gut. Ich fasse mit Worten, und die kennenzulernen, heißt sie durch ein schwarzes Loch zu fegen. Der Tod schenkt mir neue Vokabeln – Palliativ, Kondolenz, Parte, Pax Natura. Helfen tun sie nicht.
IX.
Realität.
Eineinhalb Jahre mutterlos ist nochmal größer, alles und mehr ist passiert. Ich weiß jetzt, das Leben ist nicht für immer gemacht, man kann schon fast darüber lachen. Die Wut über das abgerissene Telefonkabel zwischen uns bleibt. Er meinte: "Genau jetzt bräuchtest du sie eigentlich am meisten und sie ist nicht mehr da." Ich weiß, dass das eine Wunschvorstellung ist, zu viel verlangt, bittere Realität. Doch ist man wirklich erwachsen, bevor jemand so final geht?
X.
Souvenir.
Du warst so viel und so viel auch nicht, manchmal tut es weh so zu denken, die Erinnerung auch. Was wir hatten, war trotzdem da. Das Ende ist nie schön, es ist ein Ringen, nach Luft und Leben. Schön sterben – was für eine Illusion. Und doch war das Ende am schönsten mit dir. Danke Mama – für 97 Tage Sommer, in denen wir Wände bewegt, am Strand gelegen, uns in ein Nachtzugabteil gezwängt und uns wieder etwas kennengelernt haben.