TROCKENSTARRE

Ein Drama, das keins sein darf, aber eins ist und das wir nicht mehr haben wollen

ein Essay von Stefanie Adamitz


ein kleines Vorwort:

In der Schule, als ich diese Pyramide das letzte Mal länger angesehen habe, war mir nie bewusst, welch schöne Metapher dieses Modell auch für die Dramen außerhalb des Unterrichts ist. Ich habe mich auch nie gefragt, warum nicht alle Akte einfach in einer Reihe dargestellt sind. Gut, ja, der Höhepunkt als höchster Punkt, soweit hatte ich das auch verstanden. Aber wie nah sich erster und fünfter Akt, Exposition und Katastrophe eigentlich sind, war mir nicht bewusst. Dass nicht nur das Handeln der Personen in all diesen Akten (um das es die ganze Zeit ging) von Bedeutung ist, sondern auch ihre Ausgangspositionen und Handlungsoptionen, ihre Privilegien und Ressourcen. Dass dies Faktoren sind, die für die Entwicklung zum fünften Akt, der Katastrophe, maßgeblich verantwortlich sind.

Trockenstarre (das Drama):

"Urlaub" // 2010 // Öl auf Leinwand

// 100 x 80 cm, ANTJE INGBER

Ein Krokodilweibchen liegt im Schatten, mit weit geöffnetem Maul, und bewacht sein Nest. Die Septembersonne flirrt über dem Sand. Jetzt sei die heißeste Zeit des Jahres, erzählt der Sprecher, die steigende Handlung des bevorstehenden dramatischen Höhepunktes initiierend: Da kommt ein Leguan und buddelt in Sichtweite die Eier aus. Er ist schnell und auf der Hut, aber er muss nichts fürchten. Die Krokodilmutter liegt weiter da, bewegungslos, während ein Ei nach dem anderen aus ihrem Nest geraubt und verspeist wird. 

Mit ruhiger, tiefer Stimme wird ihre Bewegungslosigkeit erklärt: Sie befindet sich in der Trockenstarre, weil sie die Hitze sonst nicht überleben würde. Sie ist das retardierende Moment in Person. 

Ihr Körper reagiert nicht mal mehr auf die Bedrohung ihres Nestes,

und das, nachdem sie drei Monate auf Essen 

und zunehmend auf den Weg zum kühlenden Fluss, 

nur fünf Meter von ihr entfernt, 

verzichtet hat, 

um ihre Eier zu beschützen. 

Ich bin schockiert und gleichermaßen angezogen von diesen Szenen auf dem Bildschirm. Ich denke, ich will auch in Trockenstarre fallen. Eine Sehnsucht nach bedingungsloser Ruhe und völliger Isolation überkommt mich. Nichts tun, trotz der Katastrophen* um mich herum, die sich als Alltag, als Selbstverständlichkeiten verkleiden.

* Bei der Korrektur dieser Stelle kamen mir Zweifel: Das Wort ”Katastrophe” war schnell geschrieben, zuerst als Bezeichnung des fünften Aktes, doch dann fragte ich mich, ob ich es auch stehen lassen ‘darf’, wenn ich von dem spreche, was die Alltäglichkeit vieler Menschen beschreibt, angesichts größerer und noch größerer Katastrophen. Ich fragte mich also, ist das nicht irreführend oder übertrieben, von Katastrophen zu sprechen, von Ausnahmezuständen, schließlich ist das doch Alltag, der sogenannte Normalzustand? Doch dann fühlte es sich merkwürdig gut an, diese 'dramatische' Sprache zu benutzen und Katastrophe nennen zu dürfen, was sich schon fast verselbstständigt hat - und es vielleicht sogar extra zu tun. 

Dieses Jahr habe ich eine Ahnung davon bekommen, wie es sich anfühlt, wenn der Körper in die Trockenstarre will (weil er nicht mehr kann, diesmal wirklich), er dem Wunsch aber nicht nachgeben darf (weil sonst der Leguan die Kinder frisst). Stattdessen: Eine Reihe fauler Kompromisse. 

Dass wir Menschen nicht in Trockenstarre fallen, vertuscht nur, was die Krokodilmutter hier so kompromisslos vorführt: Pflege, mit der man allein gelassen wird, ist ein Entweder/Oder. Entweder Pflegende oder Gepflegte. Dass wir Menschen nicht, als Konsequenz, von Leguanen verspeist werden, ist die einzig positive Botschaft darin und gleichzeitig ist genau dies die Tatsache, die die Leguane unserer Welt unsichtbar macht und damit die Dringlichkeit (das Drama), vertuscht, die angesichts dieser Einsicht angebracht wäre. Denn wie weit sind Menschen wirklich davon entfernt, gefressen zu werden, wenn ihnen Geld, Solidarität und Unterstützung versagt werden? Wie unschuldig ist eine Gesellschaft, die Pflegen verhindert oder erschwert? Entweder/Oder heißt, dass pflegende und gepflegte Personen den Preis bezahlen und dass dies unsichtbar gemacht wird. Und dass es unsichtbar bleibt, nicht nur weil trotzdem immer weiter gepflegt werden muss, sondern weil die Trockenstarre - die deswegen eigentlich unmöglich ist - längst begonnen hat. Bei uns Menschen erkennen wir sie zuerst an dem Gefühl, nur noch mechanisch zu funktionieren, weil wir alles immer weiter, immer müder machen. Das Fiese: Sich der Bewegungslosigkeit immer weiter zu ergeben, erscheint als die Erlösung, nach der man sich sehnt. Dabei will man doch gar nicht starr werden. Man will auch nicht nicht pflegen. Man will eigentlich nur der Hitze entkommen - die Bedingungen nicht mehr, aus denen der Wunsch nach ihr überhaupt entsteht. 

Ein Teil von mir ist längst in Trockenstarre. Liegt mit offenem Maul im Windschatten der Ereignisse. Zu müde, zu mürbe, um sich noch zu beschweren. Und doch zu privilegiert, um von ihnen gefressen zu werden. 

Ein fauler, übelriechender Kompromiss. 

Eine zweite Storyline der Doku beantwortet die Fragen, die sich Lesende vielleicht auch schon seit dem ersten Absatz stellen: Warum helfen sich die Krokodile denn nicht, warum wechseln sie sich nicht ab? An einem anderen Uferabschnitt wird zu deren Klärung ein weiteres Drama beobachtet: 

Fünf Krokodile halten Wache über fünf Gelege, ganz nah beieinander. Es gibt ein Alphaweibchen, das den Zugang der anderen zum Wasser erschwert. Die Tiere streiten viel, sind gereizt und ausgelaugt von Hitze und Hunger. Als das erste Gelege schlüpft, übernimmt das Alphatier die Pflege, obwohl es nicht ihre Eier sind. Die biologische Mutter lässt sich den Zugang zu ihrem Nachwuchs nicht nehmen und so pflegen die beiden zusammen die zwanzig frisch geschlüpften Krokodilchen. Kurz denke ich an ein Happy End, aber das Gelege des Alphatiers schlüpft alleine, ohne die Unterstützung eines erwachsenen Tieres und verstirbt. 

Man schüttelt schnell den Kopf und denkt sich altklügelnd: Die Lösung, liebe Krokodile, wäre so einfach. Ich sehe mich mit wedelnden Armen vorm Bildschirm rumfuchteln und rufe „Neeeiiiiiinnnn!“ und „Aber das kann man doch besser machen!” 

Aber welche Chancen haben diese fünf Krokodile schon? Was haben sie für Optionen, nach einem ersten Akt, in dem Hitze, Hunger und Konkurrenzkampf herrschen und in dem Leguane lauern? Und als mir wieder einfällt, dass auch Menschen es eigentlich nicht besser machen, fühle ich mich wie das Klischee einer*s besserwissenden Fußballschauenden und sinke zurück, die Schultern hängen tief. Wie kann man unter solch hitzigen Bedingungen zusammenarbeiten und zusammenleben? Wie kann man Alternativen denken und fordern in einer Situation, die für die Exposition eines aristotelischen Dramas locker reicht? Von dem, was wir so schnell über die Krokodile denken, können wir lernen: Offensichtlich geht es nicht ohne die anderen, die gerade kein Nest zu behüten haben (Achtung, Metapher!) und die sich vielleicht mal umschauen, wo sie etwas Essen hinschaffen, Schatten spenden oder einen Leguan vertreiben könnten (Achtung, Zaunpfahl!). 

Fürs Erste. 

Man könnte meinen, Menschen, die politische Instrumente erfunden haben, um Trockenstarre und die Bedrohung durch Leguane verhindern zu können, müssten keine Dramen produzieren, die in Katastrophen enden. Wenn es aber doch so abläuft, wie ohne politische Instrumente, dann funktionieren die bestehenden nicht. 

Es ist eine Frage von Privilegien, welches Ausmaß die Starre in jedem von uns annimmt. Es ist eine Frage von Strukturen, dies zu verhindern. Verhindern heißt aber nicht, nur am fünften Akt herumzuschreiben und die Katastrophe in „Fauler Kompromiss“ umzubenennen. 

Wir wollen auch keine Märchen hören.

Wir wollen eine Exposition, die nicht in einer Katastrophe endet! 

Und so lange dramatisieren wir. Nennen Katastrophe, was Katastrophe ist. Weil wir kein Drama mehr wollen. 

Ein kleines Nachwort: 

In der Übersicht der Personen eines Dramas fehlen die anderen, die nicht direkt involviert sind. Blickt man nur auf das Handeln der auftretenden Personen, führt die Exposition unweigerlich zur Katastrophe und es sieht so aus, als ob diese Personen eben Dramen produzieren. Was ist mit all denen, die drumherum zusehen? Die nicht zu Handelnden werden? 

Ich wünschte, ich hätte in der Schule mehr darüber gelernt. 

über die Autorin:

Anni erfand schon als Kind im sachsen-anhaltinischen Dorf Geschichten und goss jugendliche Sehnsucht in Prosapoeme. Heute ist sie auf der Suche nach den Zwischenräumen von literarischem, politischem und wissenschaftlichem Schreiben. Sie ist momentan ganz froh darüber, noch keine Antworten zu haben und fragt sich lieber weiter in Essays, Kurzgeschichten, Gedichten und auf Notizzetteln, deren Chaos sie beruhigt im Wirrwarr drumherum. Einiges davon findet ihr bei Instagram @anni.mitz und auf www.stefanieadamitz.de

Illustration:

Annis Text wird begleitet von einer Illustration mit dem Titel “Urlaub” der Malerin und Animationsfilmerin Antje Ingber.

Mehr über Antje und ihre Arbeiten erfahrt ihr bei Instagram oder auf ihrer Webseite.