Uns gewogen

von Sandra Stein


Die Eltern meines Vaters wohnten drei Stunden mit dem Auto von uns entfernt. Auf dem Weg dorthin hörte ich Kassetten und sah aus dem Fenster, bis die IKEA-Filiale neben der Autobahn vorbeiflog. Dann wusste ich, dass wir bald da waren. Einmal sei ein Kind aus dem Spieleland entführt worden, man habe sofort alle Autobahnausfahrten gesperrt und es glücklicherweise wieder befreien können, erzählten meine Eltern. Und einmal habe es gebrannt, nur wenige Tage, nachdem wir dort Halt gemacht hatten.
Je näher wir dem Ziel kamen, desto weniger einladend erschien mir, was ich durchs Fenster sah. Es hatte mit der friedhofsgleichen Aufgeräumtheit der Vorgärten zu tun, den seltsamen schmiedeeisernen Gartenzäunen, historisierend verschnörkelt und abweisend. Nagelscherenrasen und Waschbetonplatten in schnurgerader Anordnung. Geranien und Hortensien, Stiefmütterchen, wie nach Stickmustervorlagen gepflanzt. Abgeschlossene Gartenzauntore, über die doch jeder leicht hätte hinübersteigen können. Ketten vor Garagenvorplätzen.

Jahre später, als ich schon nicht mehr zuhause wohnte, rief mich mein Vater an und erzählte mir, meine Großmutter habe in ihrem Vorgarten Unkraut gejätet. Plötzlich sei sie bis zur Brust in einem Erdloch versunken, das sich wegen eines eingestürzten unterirdischen Schachts unter ihr aufgetan hatte. 
Verglichen mit dem Schreck war die Peinlichkeit, so von den Nachbarn gesehen zu werden, sicher größer. Jemand muss sie aus dem Loch herausgezogen haben, bestimmt hat sich der Vorfall herumgesprochen. Die Stadtwerke behoben den Schaden rasch, bei meinem nächsten Besuch war nichts mehr davon zu sehen.
Gerne hätte ich mir mit eigenen Augen ein Bild davon gemacht, welche Abgründe unter den Blumenbeeten meiner Großmutter verborgen lagen. Solche Dinge können selbst in den ordentlichsten Vorgärten geschehen. 

Ich fühlte mich im Haus meiner Großeltern unwohl. Ihre Vorstellung von Bürgerlichkeit war in Gestalt muskulöser Porzellanpferde in gläsernen Vitrinen ausgestellt, die sich auf den Hinterbeinen aufbäumten. In der Schrankwand stand eine vergoldete Kaffeekanne, die nicht benutzt wurde, und überhaupt viel Geschirr für besondere Anlässe, die ohne uns – wahrscheinlich nie – stattfanden. Der Glastisch neben der beigen Couch hatte beängstigend spitze Ecken, und vom steinernen Fensterbrett her beobachteten uns zahlreiche Orchideen mit künstlichem Lächeln. Der Balkon war mit Kunstrasen belegt, fast unmöbliert und wurde ebenfalls nicht benutzt. Auch im Garten saßen wir nur selten. Dort hatten meine Großeltern für meine Schwester und mich jeweils ein kleines Apfelbäumchen gepflanzt. Mein Bäumchen mochte ich. 

Wenn wir nach der langen Autofahrt angekommen waren und Kuchen gegessen hatten, holte mein Großvater immer ein kleines, ledergebundenes Heft aus der Kommode. Er nahm das Heft, einen Kugelschreiber, meine Schwester und mich mit hinunter in den Keller. Der Keller war gefliest und roch nach Kartoffeln, die meine Großeltern in ihrem Schrebergarten ernteten: eine alte, sehr gelbe Sorte voller Geschmack, auf die sie stolz waren. 
Im kleinsten Raum ganz hinten stand eine alte Sackwaage. Anstelle der Kartoffelsäcke wurden nun wir nacheinander von meinem Großvater auf die Waage gestellt. Er suchte die passenden Gewichte, stellte sie auf das kleine Holzbrett am Ende des Hebelarms, tauschte sie aus, nahm sie wieder weg oder stellte weitere dazu, wenn sich das Gleichgewicht noch nicht einstellte. Dabei schob er auf einer Messleiste einen dicken Metallklotz hin und her, zwei Stahlspitzen mussten genau auf der gleichen Höhe bleiben. Mit seinem knorpeligen Daumen drückte er sie zusammen, ließ los und prüfte immer wieder, ob sie stillhielten. Erst dann war unser Gewicht bestimmt. 
Diese Waage, präzise justiert von den erstaunlich feinen, dennoch schwieligen Händen meines Großvaters: Sie ist das Bild, das ich mit seiner Zuneigung verbinde. Zufrieden trug er unsere Namen in seiner altmodischen Sütterlinschrift in den Spalten des schmalen Hefts ein, dazu Gewicht und Datum. Daneben schrieb er die Differenz zum letzten Mal und freute sich, je größer sie ausfiel.
Kinder, die wuchsen und gediehen, beruhigten ihn. Wir lebten, wir wurden größer, wir nahmen zu. Die Zahlen lieferten den Beweis. 

Wir wurden festgestellt. 

Das Büchlein verschwand danach wieder in der Schublade. Wann er mit den Aufzeichnungen aufhörte und wo das Notizheft später hingekommen ist, weiß ich nicht mehr.

Nachdem mein Großvater gestorben war, suchte ich mir von seinen Dingen nur einen alten Brotsack aus, einfach genäht aus blau-weiß kariertem Baumwollstoff, mit einem zerschlissenen Stoffband zum Zuziehen, in den ich eine Zeitlang meine Bücher und Notizhefte steckte, wenn ich unterwegs war. 
Proviant. 

Mein Vater behielt von ihm einen alten Blechnapf mit Lederriemen und Deckel, der aus seiner Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg oder als Kriegsgefangener in Russland stammen musste. Ich stellte mir diesen Blechbehälter immer ganz leer vor. Ein Gefäß für seine letzte Hoffnung, selten vielleicht für dünne Kohlsuppe. Einmal erreichte seinen Freund in der Gefangenschaft entgegen jeder Erwartung ein Paket mit Essen und einer kleinen Flasche Marillenschnaps, das er mit meinem Großvater teilte. In meiner Vorstellung haben beide nur durch dieses Paket überlebt. So kann es kaum gewesen sein. 

Es habe dort einen Kanonenofen gegeben, und diejenigen, die sich, von der Kälte vollkommen erschöpft, mit offenen Mündern an den Ofen lehnten, seien stets kurz darauf gestorben. Wer einmal den Ofen aufgesucht habe, für den sei die bittere Kälte danach nicht mehr zu ertragen gewesen. Er habe sich stets vom Ofen ferngehalten, erzählte mein Großvater. 

Ein warmer Ofen als Versuchung des Todes. Die Geschichte wurde von meinem Großvater entweder über Jahre hinweg unverändert wiederholt oder ich habe sie tatsächlich nur ein einziges Mal gehört und sie mir seither immer wieder selbst nacherzählt. 

Als er drei Jahre nach Kriegsende das Lager verlassen konnte, sei er mitten in der Nacht zuhause angekommen und habe festgestellt, dass der Wohnteil neben den Ställen zur Hälfte zerbombt worden war. Der Hund sei bei seinem Anblick in die dunkelste Ecke gekrochen und es habe nicht viel gefehlt, da wäre er von seinem eigenen Vater erschossen worden, der zu dieser Zeit mit Gewehr unter dem Kopfkissen schlief und seinen Sohn zunächst nicht wiedererkannte.

Mein Großvater erzählte uns vor allem Geschichten von Umständen, durch die er nicht gestorben war. 

Es gibt weitere Geschichten, in denen meine andere Großmutter die Geburt meiner Mutter beinahe nicht überlebte, weil das Kind quer in ihrem Bauch festsaß. Geschichten, in denen der schwere, spitze Metalldorn eines großen Zirkels im Herabfallen vom Heuboden den kindlichen Schädel meines Vaters um Haaresbreite verfehlte. In denen seine Mutter über eine zerbombte Brücke aus der zerstörten Stadt floh und aufpassen musste, nicht durch eines der riesigen Löcher hinunter in den Fluss zu fallen. 
Geschichten, in denen meine Mutter nur knapp nicht im Fluss ihres Dorfes ertrank und auch mich später im Hallenbad nicht hat ertrinken lassen. Diese Geschichte über den schlimmsten Moment meiner – jeder – Mutter, in dem sie ihr Kind mit dem Kopf unter Wasser im Becken treiben sah, ohne zu wissen, wie lange sie zuvor nicht hingeschaut hatte. 
Mein eigenes Erinnern ergänzt: Unter Wasser zu sein, den umgedrehten Schwimmring um den Bauch, der mich daran hinderte, den Kopf wieder aus dem Wasser zu heben, löste in mir große Ruhe aus. Mein Vertrauen war unerschütterlich – Mama wird rechtzeitig kommen. 

Auf dem Heimweg von meinen Großeltern sah ich durch die Scheibe Autos aneinander vorbeirasen mit nichts als etwas Luft dazwischen, sah Überholmanöver und dass fremde Menschen sich wie selbstverständlich aufeinander verließen. Als wir wieder an der IKEA-Filiale vorbeifuhren, musste ich an die Familien denken, die sich an den Händen festzuhalten versuchten oder voller Angst ihre Namen riefen, um einander im dichten Rauch nicht zu verlieren; ich dachte an das Spielelandkind und daran, wie leicht ein Mensch abhanden kommen kann. 

Wir verdanken unser Leben all den Geschichten, die nicht passiert sind.