Hiermit verweigere ich den Kriegsdienst mit der Waffe 


ein Essay von Christian Wolf

[für Schreibprojekt III Wiederholungen]

Die Kanonenrohre der russischen Panzer erinnern sie an Schwänze, schreibt Waltraud Schwab in der TAZ wenige Tage bevor die russischen Truppen im Februar 2022 in die Ukraine einfielen. Schießpulver an Sperma. “Krieg ist das Ding mit Schwanz” wiederholt sie in ihrem Artikel immer wieder wie eine Beschwörung.

Ich bin ein Mann. Weiß, cis, hetero. Anfang dreißig, früher mal sportlicher. Ich hab also auch dieses Organ, was mich laut Waltraud Schwab zu einem Ding des Krieges macht. Deshalb flatterte mir zu meinem 18. Geburtstag der Musterungsbescheid ins Kinderzimmer. Ich fuhr mit dem schwarzen Ford Focus meiner Eltern die 80 Kilometer zum Kreiswehrersatzamt. Meine erste längere Autofahrt. Vielleicht hörte ich die Neil Young-CD meines Onkels, Rage Against the Machine oder System of a Down. Oder Alicia Keys. Die hörte ich nur, wenn ich allein war. Dann tanzte ich so, wie ich es bei MTV nur von Frauen kannte. Bodywaves, Hüfte wackeln, mit dem Arsch Achter in die Luft malen. Immer mit einem Ohr an der Haustür, denn sobald ich das Klicken des Schlüssels hörte, machte ich die Musik aus. Es wäre mir zu peinlich gewesen, dabei gesehen zu werden.

Im Musterungsraum erwartete mich eine Ärztin, Mitte 40, die meine Kriegstauglichkeit im Namen Vaterstaats bewertete, und eine Assistentin, die alles notierte. Ich zog mich bis auf die Unterhose aus, wurde gewogen, vermessen, auf meine Beweglichkeit überprüft. Ob ich chronische Schmerzen hätte? Irgendwo eingeschränkt sei? Die Ärztin stand vor mir und bittete mich, meine Boxershorts herunterzuziehen. Dann sollte ich mich um 180 Grad drehen. Die Assistentin schaut weg auf ihren Computerbildschirm. Alles in Ordnung, sagte die Ärztin. Ich war ‘verwendungsfähig’, mit Einschränkung in der Grundausbildung und für bestimmte Tätigkeiten. Tauglichkeitsgrad T3. 

 Mit 13 wollte ich unbedingt zum Bund. Durch Matsch robben, über Stacheldraht springen, Nahkampf lernen, Wände hochklettern, an meine körperlichen Grenzen gehen. Bundeswehr erschien mir wie eine aufregende, sportliche Herausforderung. Eine Mischung aus Counter Strike und Takeshi's Castle. Meine Eltern waren schockiert. Glücklicherweise entdeckte ich kurz darauf Rage Against the Machine und andere “linke” Bands und war mir fortan sicher, dass die Bundeswehr ein autoritärer, rechter Scheißhaufen ist. So schickte ich mit 18 Jahren dem Kreiswehrersatzamt ein einseitiges “Verweigerungsschreiben aus Gewissensgründen”, in dem ich rechtfertigte, dass ich – obwohl ich ein Mann bin – lieber im Zivildienst Menschen helfen möchte, als zu lernen, sie zu töten. Im Internet gab es unzählige Vorlagen. Millionenfach wiederholt von den Männern aus den Generationen vor mir. Hiermit verweigere ich den Kriegsdienst mit der Waffe unter Berufung auf Art. 4 Abs. 3 GG. Copy, Paste, Name drauf, Datum drauf, ausdrucken, abschicken. Diese Worte waren mir so selbstverständlich, dass ich über 15 Jahre nicht mehr an sie dachte. Millionen Männer in Deutschland hatten vor 50 Jahren dafür gekämpft, dass diese Worte gehört und respektiert werden. Sie zogen demonstrierend durch die Straßen, ließen sich als langhaarige Bombenleger beschimpfen, mit Steinen bewerfen und von der Polizei zusammenschlagen, aber immer wieder wiederholten sie, dass Militär und Männlichkeit nicht zusammengehören und ebneten mir meinen komfortablen Weg in den Zivildienst. 

Einer der ersten Männer, die verweigerten, war Hermann Brinkmann. Sein Verweigerungsschreiben wurde 1973 abgelehnt, woraufhin er am 20. Januar 1974 Suizid beging. „Depression durch den Zwang zum Waffendienst”, schrieb seine Familie in die Todesanzeige. Die Lockerung der Wehrpflicht und der damit einhergehende Gewinn der körperlichen Autonomie war für Männer im 20. Jahrhundert einer der zentralen Momente in ihrer Emanzipation vom Patriarchat.

Einer meiner Ur-Großväter kämpfte im 1. Weltkrieg. Ich vermute der andere auch. Meine beiden Großväter kämpften im 2. Weltkrieg für unterschiedliche Länder. Mein Vater diente im Kalten Krieg. Vor einigen Jahren fragte ich ihn, warum er nicht vor seinem 2-jährigen Wehrdienst nach West-Berlin geflohen sei. Dort wurden Kriegsdienstverweigerer nicht zwangseingezogen. Er antwortete schroff: Wehrdienst musste man halt machen. Wer hätte die Russen sonst abgeschreckt? Russen abschrecken. Ich zuckte mit den Schultern. War doch egal. Ich empfand Mitgefühl für ihn. Er hätte in Berlin das Leben genießen können. Kunst und Kultur, Parties, Sit-Ins, Happenings, Altnazis den Mittelfinger zeigen, Teil der ersten sexuellen Revolution sein. Stattdessen erfüllte er seine Pflicht, hockte zwei Jahre in einer ostwestfälischen Kaserne, wachte über den Fichtenwald, lernte Gehorsam, Befehlen folgen, Befehle erteilen, Angst und Emotionen kontrollieren, alles mit der Begründung: “musste man halt machen”. Ich fragte mich damals, wie sich sein Leben entwickelt hätte, wenn er diese Jahre nicht bei der Bundeswehr verbracht hätte. Wenn er die Möglichkeit wahrgenommen hätte, frei zu sein, anstatt zu gehorchen. Wäre er jetzt anders? Wäre die gesamte Generation von Männern anders? Offener, ausgeglichener, entspannter? Ein Mann mehr oder weniger bei der Bundeswehr hätte „beim Abschrecken der Russen” doch keinen Unterschied gemacht, dachte ich, aber sagte es ihm nicht. 

Vitalii Skakun, 25 Jahre alt, sollte am 24. Februar 2022 eine Brücke sprengen und damit den Vorstoß der russischen Truppen verlangsamen. Angesichts der herannahenden russischen Panzer blieb keine Zeit mehr für eine Fernzündung. Er entschied sich, manuell den Auslöser zu drücken und die Brücke und seinen Körper dabei zu zerfetzen. Die Zivilisten aus den umliegenden Dörfern bekamen dadurch Zeit zu fliehen und seine Kameraden Zeit sich zu sammeln. Vitalii machte einen Unterschied. Sein Leben so viel Wert wie eine kurze Verzögerung des russischen Vormarschs. 

Von meinem Gymnasium in der westdeutschen Kleinstadt gingen nur wenige Jungen zur Bundeswehr. Sie kamen nicht aus den privilegierten Familien, wo schon mit 8 Jahren klar war, dass der Sohnemann mal studieren würde. Sie kamen eher aus den sogenannten „bildungsfernen” und vielleicht auch „zerrütteten” Elternhäusern. Jungen, denen man einreden konnte, dass ihr Leben so wenig wert sei, dass man es im Kampf opfern könne. Was muss mit einem passiert sein, dass man freiwillig ein Jobangebot annimmt, bei dem der Chef einen in den Tod schicken kann? Denn im Krieg entscheiden Hierarchien zwischen Männern über Leben und Tod. Putin befiehlt und 18 Jahre alte Jungen müssen töten und riskieren, getötet zu werden. Wissenschaftler, Ärzte, Ingenieure und Akademiker sind im Krieg meist zu wertvoll, als dass man sie an der Front verheizen würde. Auch prominente Männer werden kaum auf gefährliche Einsätze geschickt, da ihr Tod Anti-Kriegsstimmung auslösen könnte. Arme und ungebildete Männer sind die ersten Opfer des Krieges. In Vietnam gaben die Amerikaner Schwarzen Männern die gefährlichsten Aufträge. Mein Groß-Onkel erzählte, wie im Zweiten Weltkrieg die älteren Soldaten den Neulingen erzählten, dass der hintere Schützengraben sicherer sei als der vordere und damit besser geeignet für Neulinge. Die erfahrenen Soldaten würden im gefährlicheren ersten Graben stehen. Tatsächlich war es umgekehrt: Die Granaten der sowjetischen Armee schlugen eher im hinteren Schützengraben ein. Dort starben die Neulinge reihenweise, während die älteren Soldaten im ersten Schützengraben überlebten. Als Mann will man kein Looser sein. 

Gerade als die allerersten Nachrichten über fliehende russische Soldaten in den deutschen Medien kamen, nahm ich nicht nur Empathie, sondern auch viel Häme in der Öffentlichkeit und meinem Bekanntenkreis wahr. Ich hörte Männer sagen, die Russen hätten den Krieg angefangen, nun sollen sie ihn auch wieder ausbaden und nicht fliehen. Ich hörte Frauen sagen, “Männer” hätten den Krieg angefangen, nun sollen sie ihn wieder ausbaden und nicht fliehen. Diese Couch-Kommentator:innen glauben vielleicht, damit eine vermeintlich gewalttätige russische Kultur oder toxische Männlichkeit zu kritisieren, aber entblößen damit vor allem ihre giftige Empathielosigkeit – und auch ihre Ungenauigkeit, wenn es um die Unterscheidung zwischen “Männern” und “Männlichkeit” geht. Als gäbe es keinen Unterschied zwischen einem befehlshabenden Putin und einem 18-jährigen Jungen, der vielleicht Neil Young oder Alicia Keys auf seinem iPhone hört, während er mit der Moskauer U-Bahn Richtung Musterung fährt.

Aber fast noch unerträglicher als diese unterkomplexe Einstellung gegenüber russischen Männern, finde ich die Stille, die eintritt, wenn es in Deutschland um ukrainische Männer geht. Viele scheinen schlicht froh darüber zu sein, dass ukrainische Männer ihr Land verteidigen, denn damit verteidigen sie indirekt auch Europa und uns. Wir liefern ihnen Waffen, bilden sie aus, befähigen sie dazu. Wir sind dankbar für ihren Widerstand, glorifizieren sie vielleicht und dabei akzeptieren wir stillschweigend, dass sie nicht fliehen dürfen. Scheinbar herrscht auch in meinem progressiven, feministischen Umfeld beklemmende Einigkeit darüber, dass man in Kriegszeiten Männer dazu zwingen darf, zu kämpfen. In mir taucht das stereotype Bild einer archaischen Gemeinschaft auf, in der die Frauen im Innenkreis am Feuer sitzen, kochen und sich um die Kinder kümmern, während die Männer im Außenkreis stehen. Bereit zur Verteidigung gegen das, was aus der Dunkelheit oder dem ostwestfälischen Fichtenwald kommen mag.

Hiermit verweigere ich den Kriegsdienst mit der Waffe. Ich will ein progressiver Mann sein. Traditionelle Männlichkeit reflektieren, toxische Männlichkeit überwinden, Buzzword, Buzzword, Blablabla. Aber ich fühle mich verraten von meinem vermeintlich so progressiven, feministischen Umfeld und von mir selbst. Denn auch ich schweige und fordere nicht etwa, dass Selenskyj nur dann Waffen von uns kriegt, wenn er zulässt, dass Männer sich entscheiden dürfen, zu kämpfen oder das Land zu verlassen. 

Den Widerspruch, in dem ich mich wiederfinde, kann ich nicht auflösen – er wird so lange bestehen, wie Kriege ausgetragen werden und Männer gezwungen werden, zu kämpfen. Was sich ändern kann, ist der unterkomplexe Umgang mit Männern und Männlichkeit. Ein erster Schritt dabei ist es, in Zukunft anders über “toxische Männlichkeit” und Männer zu sprechen. Weniger Häme, Spott und Verachtung, keine vermeintlich intellektuelle Überlegenheit. Dafür mehr Empathie dafür, was die destruktiven und toxischen Männlichkeitsanforderungen mit Männern machen, die von überall auf sie einprasseln. Anforderungen, denen sich einige nicht entziehen wollen, andere nicht entziehen können, wie etwa dem Einzug ins Militär. Anforderungen, die auch in Deutschland immer wieder an Männer gestellt werden – auch von progressiven und feministischen Menschen. Die rot-grüne Bundesregierung begann 2001 den 20-jährigen Krieg in Afghanistan, in dessen Verlauf mehr als 90.000 Soldat:innen der Bundeswehr eingesetzt wurden. Im Sommer 2021 war ich entsetzt und beschämt über den chaotischen Truppenabzug und wollte, dass sie länger bleiben. Maßlos und selbstvergessen kommt es mir nun vor, sowas von Soldat:innen, zum allergrößten Teil Männern, zu fordern. 


Im Studium habe ich politische Bildungsarbeit gemacht, Anti-Rassismustrainings gegeben und so weiter. Fast alle meine Kolleg:innen in der Bildungsarbeit waren Frauen. Es geht bei diesen Trainings viel um Emotionen, Grenzen, Empathie. Ich mag diese Arbeit und das Umfeld. Aber mein 13-jähriges Ich, das unbedingt zur Bundeswehr wollte, trug noch andere Ideale in sich. Ideale und Vorstellungen, die 165.000 (Stand 2022) Jungen dazu brachten, Soldaten bei der Bundeswehr zu werden. Mithu Sanyal schreibt in ihrem Sachbuch Vergewaltigung: „Der Fachausdruck für den Prozess, mit dem Jungen von klein auf beigebracht wird, nur die Hälfte der menschlichen Gefühlspalette auszudrücken und zu empfinden, lautet "toxic masculinity"”. Ich glaube, man muss einige Emotionen verlernen und unterdrücken, um das Militär als passendes Umfeld für sich empfinden zu können. 

Mittlerweile lebe ich in Berlin-Kreuzberg zwei Kilometer vom Checkpoint Charlie entfernt. Dort standen bis zur Wende Männer wie mein Vater Auge in Auge mit russischen Männern. Heute ist es eine Touristenattraktion mit Currywurst-Stand und Merch-Artikeln. Mein Vokabular ist typisch großstädtisch, feministisch, “woke”. Empathie, Empowerment, Konsens, Schwäche zeigen, Inklusion. Das wünsche ich mir für mich und meine Umwelt! Ich kann die Worte im Schlaf wiederholen. Und doch wünsche ich mir von den ukrainischen Männern: folgt Befehlen, kämpft, verteidigt! Ich komme mit meinem Vokabular an meine Grenzen. Mit welchen Worten kann ich sie bitten, mich zu verteidigen? Und was wäre, wenn eines Tages Deutschland angegriffen wird. Das Kreiswehrersatzamt wurde mittlerweile umbenannt in „Bundeswehr Karrierecenter”. Bekomme ich dann wieder Post von ihnen? Ich bin Musterungskategorie T3 und könnte bei einer Mobilisierung eingezogen werden. Und wäre Waltraud Schwab mir dankbar, wenn ich sie verteidige?


Nachträglich hat die TAZ im Text von Waltraud Schwab das Wort “Schwanz” durch “Gemächt” ersetzt. Krieg ist nun also das Ding mit Gemächt, sagt sie. Auch wenn dieses Geschlechtsstereotyp für viele Jahrhunderte zutreffend war, sieht man Zeichen der Veränderung, wenn man genau hinschaut. Der Frauenanteil in der ukrainischen Armee beträgt 20 %. In Norwegen gilt seit diesem Jahr die Wehrpflicht nicht nur für Männer, sondern auch für Frauen. In Israel ist das schon lange so und bei den kurdischen Peschmerga spielen Frauen seit Jahrzehnten eine tragende Rolle in Kampfeinsätzen. Auf Instagram folge ich der ukrainischen Drag Queen AuRa. Ihr bürgerlicher Name ist Arthur Ozeroz. Arthur hat einen Doktor in Biologie, ist Hobbyimker, postet Fotos von seinen Bienen, davon, wie er sich Kleider näht, von seinen Dragshows und von Fetischparties. Nun kämpft er. Seit Februar zeigt er sich immer wieder in Militäruniform und mit Waffe. In einer Story sieht man seine dunkle Silhouette an einen Türrahmen gelehnt, er trägt Kleid, Highheels und in der Hand ein Maschinengewehr.

Krieg ist nicht das Ding mit Schwanz. Männer werden im Krieg zu Dingen gemacht, weil sie einen Schwanz haben. Von anderen Männern mit Gemächt, Männern an der Macht. Aber Krieg kann auch das Ding mit High Heels sein, das diesen Mächten trotzt.

Über den Autor:

Christian Wolf hat Philosophie, Psychologie und Kognitionswissenschaft im Ruhrgebiet studiert und lebt mittlerweile in Berlin. Nachdem er an verschiedenen Theatern gearbeitet hat, ist er nun als IT-Manager in einer Non-Profit-Organisation tätig. Texte von ihm erschienen u.a. bei ZEIT Online und AEP Informationen. Außerdem podcastet er über Feminismus und Männlichkeit hier: 50shades.of.men.podcast.