Wie ich auszog, Pflanzen zu sammeln
und Wörter fand
Von Fiona Grau
I. Von Pflanzen (oder wie ich Weißdorn und Kohlknospe entdeckte)
Seit drei Jahren arbeite ich auf dem Feld und die Beziehung zu meiner Umwelt und zu den Dingen hat sich seitdem grundlegend verändert.
Angefangen hat diese Veränderung im Grunde nicht mit der Landwirtschaft, sondern mit dem Sammeln. Während des ersten Jahres verbrachten meine Ausbildungskollegen und ich viel Zeit draußen. Die Ausbildung an sich war eher dürftig, dafür hatten wir alles, was wir zum Entdeckenlernen brauchten: ein Feld, Werkzeug, Saatgut – vor allem aber die Streuobstwiesen am Feldrand, das Wäldchen nebenan, die halb verwahrlosten alten Äcker, die nicht mehr bewirtschaftet wurden und daher einen herrlichen Reichtum an Biodiversität oder, wenn man so will, „Unkraut“ entwickelt hatten. Und dann waren da noch morgens der Weg mit dem Fahrrad zum Feld, mittags der Weg von eben diesem Feld zur Gärtnerei zum Mittagessen (denn ein Arbeiter ohne solides Mittagessen ist kein solider Arbeiter), abends der Weg vom Feld wieder zurück in die Stadt und vor allem, ja, vielleicht am wichtigsten sogar: der Blick.
Wir lernten einen neuen Blick auf unsere Umwelt. Alles, was um mich herum wuchs und blühte, wurde mit einem Mal eine potenzielle kulinarische Entdeckung, ein Snack für Zwischendurch oder eine Beute, die man in den ohnehin schon überfüllten Rucksack stopfen und beim Heimkommen triumphierend vor den MitbewohnerInnen ausbreiten konnte.
Wir fanden und aßen und sammelten so allerhand: im Frühjahr Guten Heinrich, Gänseblümchen, Weißdornblüten betörend süß oder Hagebutten, vom Frost cremig gemacht, später dann: Beifuß, Schafgarbe, Erdbeere, Himbeere, Brombeere und noch später, im üppigen, üppigen Herbst: Nüsse, allerlei verschiedene, Äpfel, Birnen, Pflaumen, Feldpfirsiche und natürlich alles, was auf dem Feld geplant oder ungeplant wuchs.
Geplant:
Radieschen, Petersilie, jungen Grünkohl, die ersten Möhren
Ungeplant:
Kohlknospen und -blüten, die Samenkapseln von Radieschen
oder die würzigen Blüten des Fenchels
II. Vom Sammeln (im Sommer, im Winter, sowie von giftigen und ungiftigen Wörtern)
Mit den Wörtern verhält es sich im Grunde ähnlich wie mit sämtlichen Samen und Pflanzen. Entweder sind sie bereits da oder sie tauchen auf; hier und dort am Wegrand. Es genügt, den Blick offen zu halten und die Sommerwörter von den Winterwörtern zu unterscheiden, sowie die genießbaren von den ungenießbaren. Wobei man durchaus auch ungenießbare oder sogar giftige Pflanzen und Wörter sammeln kann, man sollte sich bloß darüber im Klaren sein, worum es sich dabei handelt.
Gerade ist 6h52, ich befinde mich ungewöhnlicherweise nicht auf dem Feld, sondern warte am Brüsseler Südbahnhof auf meinen Zug nach Deutschland. Seit mein Wecker heute Früh um 5h00 geklingelt hat, habe ich bereits gesammelt:
Das Nachtschwarz der Bäume gegen den Himmel Frühblau
[beim Kaffeetrinken auf meinem Balkon]
Glaner des mots au fil des saisons, le long des routes
[Notiz für das Schreiben dieses Texts]
„het begon met die leening voor een serre“
[aus einer Bankenwerbung]
„this is the treasure that never grows old”
[aus einer Schnulze von Elvis]
Diese tanzende Leichtigkeit der Reise
Die erste seit
Es fühlt sich an wie Jahre
[wieder eine Notiz von mir]
Oder gestern:
Stille, und
Das Gewicht der Körper
Müdigkeit
Brennnesseln am Wegrand.
III. Vom Schreiben (oder wie man Wörter lagert und einmacht)
Mit den gesammelten Wörtern verhält es sich nicht sehr anders als mit den Ernten vom Wegrand.
Man kann:
sie fortwerfen
oder sie behalten.
Wenn man sie behält, kann man sie
:
entweder sofort verspeisen/verwenden
oder sie aufheben.
Will man sie aufheben, bieten sich Einlagerungsmöglichkeiten, z.B. in einem Regal. Man kann dafür verschiedene Sorten miteinander kombinieren (z.B. Navets mit Roter Beete und Pfeffer), sie in ein Glas schichten (z.B. übereinander, entweder nach Farben geordnet oder gemischt) und einmachen (z.B. in saumure, leicht gesalzenem Wasser).
Möchte man Wörter einmachen, lassen sie sich zum Beispiel zu einem Text verarbeiten. Das nennt man dann Gedicht. Poesie wären damit eingemachte Wörter, in Schichten vergoren und dann hofft man, dass die Gärung gut läuft und Geschmack sowie Inhaltsstoffe der Zutaten sich verbessern. Versuchen wir es einmal…
Gesammeltes Material aus meinem Notizbuch (verschiedene Tage und Orte):
Liebling, gebüschelt
Die Dialekte der Tiere
Haben sich (weiter) verzweigt
und auf dem Feld…
Die Dialekte der Tiere haben sich weiter verzweigt
Müdigkeit
Morgenmüdigkeit meine
Mit Brennnesseln am Wegrand
Das Nachtschwarz der Bäume gegen den Himmel Frühblau
SZ 25/08 „Nach einem halben Jahr sind Dramaturgie
und Verteilung der Rollen eingeübt“ /
Vor der Kulisse der zerstörten russischen Panzer
Ibid. Pyroklastische Ströme
[Gas und Gesteinsbrocken zu vulkanischer Asche, 700 km/h talabwärts]
Gedicht-Konserve Test N° Eins:
VOR DER KULISSE NACHTSCHWARZ
Vor der Kulisse der zerstörten russischen Panzer erhebt sich
Müdigkeit
Morgenmüdigkeit meine mit Brennnesseln am Wegrand.
Eingeübt sind – Nachtschwarz die Bäume gegen den Himmel Frühblau
– die Dramaturgie und Verteilung der Rollen.
Da hallen auch meine Schritte dunkler auf dem wilden Asphalt und die
Dialekte der Tiere haben sich weiter verzweigt, zwischen Nachtasche
und Kriegsblau, wegrändig gebüschelt.
Gesammeltes Material und Rezept stehen zur freien Verfügung. Versuchen Sie es doch einmal! Wir freuen uns immer über neue Spezialitäten.
Zwischen Brüssel und Berlin
den 25.08.2022