Vulkanina

von Melina Brüggemann

„Riecht man es eigentlich? Und spürst du das Brodeln?“, schreibt mir eine befreundete Kollegin, als ich gerade in Catania ankomme – der Stadt am Fuße des Ätna, des größten aktiven Vulkans Europas. Ich schnuppere, und für einen Moment schließe ich die Augen und bilde mir ein, es sei nicht die Augusthitze, die meine Nasenhöhle derartig zum Schwitzen bringt, sondern aufsteigendes Magma in meiner Nasenkammer. Herausströmende, flüssige Lava.

Ich bin allein nach Sizilien gereist. Anfang des Jahres habe ich mich einmal auf dem Ätna stehen sehen und seitdem lässt mich diese Vorstellung nicht mehr los. Sie hat sich eingebrannt, verselbständigt – so sehr, dass mir schnell klar wurde: Ich muss, ich will diese Reise allein unternehmen. An meinem ersten Abend in Palermo sitze ich nach einer Portion Pasta alla Norma in einer Bar mit Live-Musik. Um mich herum nur Paare, hauptsächlich Tourist:innen. Der Manager hat mich als flanierende Touristin auf der Straße angesprochen, um mich dazu einzuladen, in seiner Bar Platz zu nehmen. Normalerweise ist das für mich ein Ausschlusskriterium, gleich nach den Fotos von Gerichten auf der Speisekarte in einem Restaurant, wenn es kein Imbiss ist. Aber an diesem Abend habe ich irgendwie Lust auf überteuerte Getränke, Flitterwochenpaare und leicht kitschige Live-Musik. An diesem Abend will ich nicht stundenlang nach Geheimtipps suchen, um dann Freund:innen beiläufig erzählen zu können, dass ich in einer kleinen Nebengasse in Palermo ganz unverhofft auf diese eine tolle Bar gestoßen bin, wo überhaupt nur Italiener:innen hingehen, und die einem den bestmöglichen Einblick in das alltägliche Leben in Palermo vermittelt. Als ich gerade mein erstes Bier geleert und ein Kapitel meines Buchs zu Ende gelesen habe, spielt die Band, die vorher hauptsächlich italienische Songs wiedergegeben hat, plötzlich Love is all you need. Ich muss laut auflachen, so laut, dass ich mich besorgt umblicke, aber die Flitterwochenpaare um mich herum schauen einander so verliebt und glücklich an, dass sie für einen Moment vermutlich sogar den knallroten, schmerzenden Sonnenbrand auf ihren Schulterblättern vergessen. Noch lache ich, doch nur wenige Tage später realisiere ich, dass das Schwierigste am alleinigen Reisen der vorprogrammierte Sonnenbrand auf dem Rücken ist. Denn fremde Menschen zu fragen, ob sie einem den Rücken eincremen, das ist sogar für mich next level. 

Doch diese Gebrauchsanweisung für das Reisen allein ist eigentlich eine ganz andere Geschichte, also zurück zum Ausgangspunkt: 

Woher diese plötzliche Faszination für den Vulkan kommt, kann ich mir nicht wirklich erklären. Es ist auch nicht irgendein Vulkan, der sie auslöst, sondern dieser eine. Aber sie überträgt sich auf alles, was mit ihm verbunden ist. Es fängt beim Vulkanismusvokabular an: Ein Vulkan kann aktiv, tätig, erloschen, schlafend, schlummernd, brodelnd, spuckend, speiend, unterseeisch oder schneebedeckt sein; man kann ihn besteigen, bezwingen, überwachen, beobachten, entdecken; er kann ausstoßen, ausbrechen, dampfen, rumoren, erwachen, grummeln, explodieren; in ihm, um ihn oder von ihm ausgehend gibt es Asche, Wolken, Geröll, Eruptionen, Aktivitäten, Ströme, Gipfel, Kammern, Magma, Lava, Fontänen, Krater. Dass Menschen an seinem Fuß und in seinem Schatten leben, auf ihm wandern oder Skifahren, erscheint mir schlichtweg unglaublich. 

In den Wochen und Tagen vor meinem Aufenthalt in Catania lese ich Reiseführer und Internetartikel, ich recherchiere die historischen Ausbrüche des Vulkans, die Erdbeben, die die Stadt Catania und andere Dörfer in der Umgebung erschütterten, die tektonischen Plattenverschiebungen. Ich schaue mir Webcam-Aufzeichnungen vom Ätna an, suche Wanderrouten und Anreisemöglichkeiten heraus, und muss gestehen: So richtig verstehe ich eigentlich immer noch nicht, was da alles warum, wann und wie genau vor sich geht. Aber zum ersten Mal seit langer Zeit macht mich dieser Abgrund des Nicht-Wissens nur neugieriger, statt mich wie so oft zu lähmen. Es ist Mitte August, als ich vom Fuße des Ätna auf seinen Gipfel blicke – den Tanz auf dem Vulkan habe ich mir für das Ende meiner Reise aufbewahrt. Er soll ein Höhepunkt sein, das versteht sich doch von selbst.

Wenn ich ehrlich bin, dann weiß ich vermutlich doch, woher meine Vulkanfaszination kommt. Es gibt da dieses eine Foto, von meiner Großmutter und meiner Mutter an einem Kraterrand, an das ich oft denken muss – eigentlich immer, wenn ich an die beiden zusammen denke. Ich sehe das Foto vor mir, zugleich deutlich und verschwommen. Und manchmal, manchmal stelle ich mir vor, dass auch ich auf diesem Foto zu sehen bin, gleich neben ihnen. Drei Generationen von Frauen und ein Vulkan. Es gibt kein Foto, das uns drei besser verbildlichen könnte. 

Meine Großmutter war früher Reiseleiterin auf Sizilien, mindestens zwanzig Mal sei sie dort gewesen, erzählt sie mir. Von ihr habe ich mich in meiner Reiseplanung beraten lassen. Auf ihren Spuren bin ich unterwegs. Ich solle ein wenig Lavagestein vom Ätna mit zurück nach Deutschland nehmen, schreibt sie mir in einer Mail. Ein paar Wochen später erfahre ich auf einer Feier in Berlin von einem Bekannten, dass sein Bruder als Jugendlicher aufgrund von Lavagestein im Reisegepäck vom Zoll angehalten wurde. 

Zurück von meiner Reise, bitte ich meine Mutter, mir das Foto von ihnen am Vulkan abzufotografieren. Und ich erfahre, dass es sich dabei gar nicht um den Ätna, sondern den Vesuv handelt. Und, dass es dieses gemeinsame Foto gar nicht zu geben scheint, zumindest nicht in ihren Alben. Stattdessen schickt sie mir zwei Einzelfotos. Auf einem ist meine Großmutter zu sehen, in einer eleganten Pose am Kraterrand kniend. Sie trägt ein langes braunes Kleid, eine viel zu schicke Handtasche für einen Vulkanbesuch, eine überdimensional große Sonnenbrille, ihren Kopf stützt sie auf ihren Ellenbogen. Auf dem anderen Foto ist meine Mutter zu sehen, an derselben Stelle stehend, die Hände an den Hüften, lächelnd. Sie trägt ein buntes, wunderschönes Kleid und einen kleinen, dunklen Strohhut auf ihrer lockigen Kurzhaarfrisur. Sie ist jung, groß und schlank, so zierlich und dabei so stark. Neben ihr steht ein schicker Italiener mit Kapitänsmütze. 

Ich komme aus einer Familie starker Frauen, aber ich bin die erste von ihnen, die auch das Zugeben und das Anerkennen von Schwäche als eine Stärke versteht. Wenn Stärke nur um ihrer selbst willen zutage tritt, dann verhärtet sie sich schnell, so wie die flüssige Lava, die zu Stein wird. Das denke ich, während ich von Catania aus auf den dampfenden Berg schaue und an das nichtexistierende Foto meiner Großmutter und Mutter zusammen auf dem Ätna denke, der eigentlich der Vesuv ist. 

Am Tag vor meiner Wanderung auf den Vulkan liege ich in seiner Nähe auf einem Steinstrand am Meer und lese Carmen Maria Machados In The Dream House. „I think a lot about how my heart is a volcano“, schreibt sie in der literarischen Verarbeitung physisch und psychisch durchlebter Gewalt in einer queeren Liebesbeziehung. Dabei bezieht sie sich auf einen Vers des libanesisch-US-amerikanischen Dichters Khalil Gibran: „If your heart is a volcano, how shall you expect flowers to bloom in your hands?“ Gegen Abend fahre ich mit der Seilbahn hoch nach Taormina, dem Instagram-Hotspot Siziliens, und blicke zum Sonnenuntergang durch das teatro greco auf den Umriss des Vulkans über dem Meer. Und so kitschig es klingen mag, es ist nun einmal Sonnenuntergang an einem zarten Horizont: Dort beginne ich zu verstehen, weshalb Menschen sich täglich dafür entscheiden, in der Nähe eines aktiven Vulkans zu leben. „The fact is“, schreibt Carmen Maria Machado, „people settle near volcanoes because the resulting soil is extraordinary, dense with nutrients from the ash. In this dangerous place their fruit is sweeter, their crops taller, their flowers more radiant, their yield more bountiful. The truth is, there is no better place to live than in the shadow of a beautiful, furious mountain.“

Am nächsten Morgen werde ich von Marco abgeholt, einem ca. Mitte vierzigjährigen, gutaussehenden Italiener, der seit seiner Kindheit auf dem Ätna wandert, ehrenamtlich für die Bergwacht arbeitet und mich bei strahlender Sonne und knallblauem Himmel auf seiner Vespa zum Ätna fährt. Ich könnte an dieser Stelle von Momenten der Einsamkeit oder von verpassten Bussen, von enttäuschenden Arancini und herunterlaufendem Schweiß während meiner alleinigen Reise auf Sizilien erzählen, oder von diesem einen schönen, traurigen Song, den ich rauf und runter höre, seitdem eine gute Freundin ihn mir in der Woche zuvor gezeigt hat, und der genauso wie eine meiner Lieblingsnudeln heißt, Conchiglie – aber nichts daran ändert die Tatsache, dass dieser Moment zu gut ist, um wahr zu sein, und zugleich genauso gut, wie er klingt. Mein b&b host hat mir Marcos Kontakt vermittelt, für eine kleine, private Wandertour mit vier anderen jungen Italienerinnen. Wir werden keine Helme tragen, keine heiße Lava sehen und auch nicht auf dem Gipfel stehen. Stattdessen werden wir auf der menschenleeren Südosthangseite wandern, der anderen Seite der Bergstation und Seilbahn, und dann in das Valle del Bove hinabsteigen: ein weiträumiges Tal, dessen Mondlandschaft das Resultat mehrerer großer Zusammenstürze und Explosionen im Zeitraum von mehr als zehntausenden Jahren ist. Nichts als Naturgewalt, egal wohin man blickt. Wir werden alte Krater und Magmagestein sehen, und mit einer Engelsgeduld wird Marco uns die naiven, sensationsneugierigen Fragen abtrainieren, uns erklären, dass man den Ätna nicht mit einer Logik der Ereignishaftigkeit betrachten darf. Dass die Medienberichte Unsinn erzählen. Dass dieser Vulkan immer aktiv ist, sich stetig wandelt, innerhalb von wenigen Monaten seinen Gipfelpunkt verlagert, jederzeit dampfen und spucken oder explodieren kann, im Kleinen wie im Großen. Dass er trotz Hauptkrater und Gipfelpunkt dezentral gedacht werden muss und es ihm nicht gerecht wird, ihn auf seinen Höhepunkt zu reduzieren. 

Inmitten der Mondlandschaft bitte ich eine der Italienerinnen, ein Foto von mir aufzunehmen. Das ist nämlich das Zweitschwierigste am alleinigen Reisen, gleich nach dem Rücken eincremen. Ich drücke ihr den analogen Fotoapparat meines verstorbenen Großvaters in die Hand und erkläre ihr, was sie tun muss. Und vor meinen Augen taucht wieder dieses Foto auf: drei Frauen und ein Vulkan. Ich sehe es vor mir, zugleich deutlich und verschwommen. Wenn das Foto entwickelt ist, denke ich, werde ich daraus eine Collage machen, sie rahmen lassen und meiner Mutter und Großmutter schenken. Wieder muss ich laut lachen, dieses Mal, weil ich an mir herunterschaue. Ich trage eine Radlerhose, einen Ellesse-Fleecepullover, eine fliederfarbene Kappe und einen weißen Sportrucksack, dazu Sportsocken und meine multi-funktionalen New Balance Turnschuhe, deren Vulkanaschendreck nach einem Waschmaschinengang nie dagewesen sein wird. Ich sehe aus wie eine Hamburgerin, die sechs Jahre in München gelebt hat und nun in Berlin, Neukölln wohnt, und die mit Abstand die uncoolste Frisur unter den Frauen ihrer Familie hat, keinen lockigen, dunkelbraunen Kurzhaarschnitt. Es wird bestimmt ein gutes Foto.

Auf dem Rückweg fragt mich Marco, ob mir der Ausflug gefallen hat, ob der Vulkanbesuch meine Erwartungen erfüllen konnte. Ich strahle ihn an, dankbar, erschöpft und glücklich. Erwartet habe ich tatsächlich gar nichts, ich wollte einfach nur einmal auf ihm stehen.

Ich sage er, denn der Vulkan, der Ätna, ist im Italienischen männlich, dabei beziehen sich die Bewohner:innen seines Tals im Femininum auf ihn. Ohne darüber nachzudenken, tippe ich zurück in Berlin eines Tages „Vulkan und Frau“ in die unterirdische Microsoft-Bing-Suchmaschine meines Arbeitslaptops, der mir verbietet, Google als Startseite einzurichten. Vielleicht sind die folgenden Ergebnisse deshalb so unterhaltsam:

  1. „In Island sind Vulkane weiblich und tragen meist Frauennamen – ebenso wie den Isländerinnen werden ihnen hier ein aufbrausendes Temperament und ein hohes Explosionsrisiko nachgesagt.“ 

  2. „Die Frau und der Vulkan: Die Künstlerin selbst sieht in ihrem 1,60 mal zwei Meter großen Gemälde eine sitzende Frau. Der Schreiber dieser Zeilen dagegen hat beim Betrachten der glutorange-schwarzen Melange das Gefühl, vom Rande eines Vulkans in dessen brodelndes Inneres zu blicken. Einmal sitzende Frau, einmal brodelnder Vulkan – Kunst liegt eben im Auge des Betrachters.“

  3. „Der Ätna ist für seine Anwohner eine Frau. Der Vulkan ist weiblich wie eine Mutter. Eine strenge Mutter, die Opfer fordert, aber dennoch mit großer Großzügigkeit zur richtigen Zeit zurückzahlt.“

Ich lese 4. von den Frauen des Ätna, 5. von Vulkanforscherinnen und 6. von den Vulkan Ladies, der Handballmannschaft des Turn- und Sportvereins Weibern. Schon spüre ich eine hitzige Wut in mir aufsteigen, ein gefährliches Brodeln, aber kurz bevor ich explodiere, realisiere ich, dass ich mich verlesen habe, dass hier gar nicht „Weiber“, sondern „Weibern“ steht, eine unschuldige Ortsgemeinde in Rheinland-Pfalz.

Vulkane und ihre Explosionen werden mich in den kommenden Wochen weiter beschäftigen, nicht zuletzt äußert sich das in vielen explodierenden Vulkan-Gifs, die ich befreundeten Kolleg:innen schicke, wenn ich mich in der Arbeit über etwas ärgere.

7. „Gegen diese Frau ist jeder Vulkan ein Tischfeuerwerk.“

Und ich denke: Männer rasten aus, Frauen explodieren. Warum? Weil sie Hunger haben oder ihre Tage. Weil sie launisch sind oder hysterisch. Weil Mann es nicht hat kommen sehen. Weil sie plötzlich überlaufen, ausbrechen – einfach so. Dabei ist doch klar, dass es vorher ein Brodeln gegeben haben muss, ein schlummerndes Rumoren, irgendwo im Verborgenen, Überschatteten, über Stunden, Tage, Jahre, über Generationen hinweg. 

Während meiner Reise rufe ich aus dem Tempeltal in Agrigento meine Oma an, um ihr mitzuteilen, dass ich an sie denke. Sie freut sich, aufrichtig. Und zugleich gibt es in solchen Momenten eine ganz bestimmte Mischung aus Wehmut und Neid in ihr – anders als bei meiner Mutter, die jeden meiner Schritte durch die nachträgliche Erzählung auf eine Weise miterlebt, als hätte sie ihn selbst getan, so sehr teilt sie die Freude oder Traurigkeit meiner Erlebnisse.

Meine Oma ist im gleichen Jahr wie die Queen geboren, das betont sie regelmäßig, und sie ist eine dieser Personen, über die man sagen könnte, dass sie die Welt gesehen hat und in sich trägt. Aber die Welt, die sie in sich trägt, reicht meiner Oma nicht. Und die Welt, die draußen zu ihren Füßen liegt, kann sie nicht mehr erreichen. Vielleicht könnte sie es noch, aber sie will es nicht. Also erwartet sie, dass sie zu ihr kommt, die Welt. Meine Oma hat sich schon immer als Mittelpunkt des Universums gesehen. Sie dreht sich nicht um andere Körper im Raum. Alles dreht sich um sie.

Ein Mitglied ihrer Sizilienreisegruppe bewertete ihre Leitung einmal wie folgt:

„Sie ist eine perfekte Reiseleiterin, gescheit, für das Thema hervorragend gebildet, charmant, aggressiv wenn nötig, flexibel, spritzig, ausdauernd. Besonders angenehm: kluges Improvisieren bei der Programmgestaltung.“ 

Aggressiv, wenn nötig. Vielleicht ist das die beste Beschreibung eines Vulkans.

Zurück in Berlin, erhalte ich 1. eine Postkarte von meiner Mutter aus Frankreich. Darauf sind zwei Frauen zweier Generationen zu sehen. Über ihnen steht: „Malgré tous vos efforts, vous finirez toujours par ressembler à votre mère.“ / „Trotz aller Bemühungen ähnelt man am Ende immer seiner Mutter.“
„Na wenn diese Erkenntnis kein Grund zum Schreiben ist, meine Liebe,“ schreibt meine Mutter hinten auf der Karte. Und ich erhalte 2. eines Abends eine Mail von meiner Oma, mit einem angehängten Foto von einer Flasche Rotwein:

„Meine liebe Vulcanina, ich genieße gerade den Vulcanino, nero d´avolo della Sicilia, den ich Dir im Bilde schicke, und da dachte ich sehnsuchtsvoll an Dich und die Zeiten, in denen wir eine solche auf Vulkanboden gewachsene Kostbarkeit gemeinsam genossen hätten.“ 

Ich bin bewegt, und bevor ich in einer nächsten Mail möglicherweise einen Vorwurf erhalte, dass wir diesen Wein nur deshalb nicht mehr gemeinsam trinken können, weil ich ja nach Berlin gezogen bin, antworte ich schnell: „Liebste Omissima, ich melde mich am Sonntag telefonisch. Denke an dich, meine Vulkaninana! Alles Liebe.“ Am Sonntag telefonieren wir genau 23 Minuten lang, dann kommt es zu einer Explosion. Meine Oma legt den Hörer auf. 

Am Abend vor einer Lesung in Berlin, auf der ich diesen Text lesen werde, fahre ich zu Rossmann, um endlich die entwickelten Fotos abzuholen. Dreimal war ich in dieser Woche schon dort, nie waren sie fertig. Explodieren hätte ich können, und sowieso gehe ich viel lieber zu dm. Jetzt sind die zwei Filme da und viele schöne Bilder. Nach schnellem Blättern komme ich am Ende meiner Reise an, bei der Vulkanlandschaft. Ich sehe den Gipfel, das Panorama, das Tal, die Mondlandschaft, die Straße meiner Unterkunft. Moment. Ein Foto fehlt. Noch einmal gehe ich alle Fotos durch, erst zweifelnd, dann besorgt, schließlich hektisch und zuletzt panisch. Das Foto fehlt. Dann erst sehe ich den Zettel mit der Info, dass der Film an einer Stelle beschädigt war und nicht alle Fotos entwickelt werden konnten. Plötzlich erinnere ich mich wieder an dieses ungute Geräusch beim Zurückspulen des zweiten Films vor zwei Wochen, als ich gerade vom Yoga kam und beschloss, mir lieber keine Gedanken darüber zu machen. Morgens hatte ich einen lavendelfarbenen Tee mit dem Namen „Innere Harmonie“ getrunken. Für eine Explosion bin ich an diesem Abend zu erschöpft – und außerdem habe ich ja noch dieses eine schlechte Handyfoto.

Falls ich einmal eine Tochter bekommen sollte, dann nenne ich sie Magma, oder Lava. Und irgendwann stehen wir dann vielleicht einmal gemeinsam mit meiner Mutter an einem Kraterrand. Drei Generationen von Frauen und ein Vulkan. Vielleicht wird es ein Foto davon geben, vielleicht aber auch nicht.