Weltenbau

von Rick Lupert

Der folgende Text ist der Versuch, „reale“ wissenschaftliche Arbeit über fiktionale Orte an einem solchen stattfinden zu lassen. Jener Ort, die Insel, die sich die Länder Meerland und Osat teilen, wurde vom Autor bereits in seiner Kurzgeschichtensammlung Geschichten einer Insel (Abb. 1) erkundet. Dadurch treffen zwei unterschiedliche Arten des Schreibens aufeinander, die sich eigentlich gegenseitig ausschließen: Zum einen das wissenschaftliche, das klare und falsifizierbare Aussagen über die Welt, in der wir leben, treffen soll, und zum anderen das literarische, das interpretierbar, frei und ambivalent ist und nicht unbedingt über Reales Aussagen treffen muss. Dadurch, dass diese beiden Arten des Schreibens obendrein noch, mit der Auswahl der Insel als Handlungsort, eine weitere Ebene aus der Wirklichkeit gehoben werden, versucht dieser Text, die Verfahren, die er in seinen wissenschaftlichen Teilen untersucht und beschreibt, zu spiegeln.


Das Schreiben ging ihm schon mal leichter von der Hand: Die Exzerpte stapeln sich rechts, die Bücher voller bunter Haftnotizen links und er starrt aus dem Fenster vor sich, über den Desktop seines Laptops hinweg. Gegenüber: viele Fenster, in denen er nur die Spiegelung des Hauses sehen kann, in dem er gerade sitzt: also nichts, was interessanter wäre als der Essay, den er zu schreiben hat, den er schreiben muss, da er ihn demnächst abzugeben hat, sagt er sich. Obwohl da draußen natürlich mehr ist, und dieses Mehr will ihm seit gestern nicht aus dem Kopf: Da draußen ist eine Stadt, da draußen ist ein Staat, da draußen sind zwei Staaten - da draußen, und auch hier, wo er sitzt, ist Insel. Ihm wird übel bei dem Gedanken, von Meer umgeben zu sein, obwohl er es nicht anders kennt. Endlich zwingt er seine Augen in Richtung Worddatei, die bisher, von Titel und den Kapitelüberschriften abgesehen, leer ist:



Yoknapatawpha County und Santa Teresa:

Die Umbenennung realer Orte bei William Faulkner und Roberto Bolaño

1. Einleitung

2. Die Fiktionalisierung des Ortes

3. Yoknapatawpha County

1. Reale Vorbilder: Lafayette County und der Deep South

2. Das Wesen des Yoknapatawpha County: Mögliche Gründe und Funktion(en) der Umbenennung

4. Santa Teresa

1. Reales Vorbild: Ciudad Juárez und das Grenzgebiet USA-Mexiko

2. Das Wesen von Santa Teresa: Mögliche Gründe und Funktion(en) der Umbenennung

5. Yoknapatawpha County und Santa Teresa im Vergleich

6. Fazit


 

Er nimmt den obersten Zettel seiner Exzerpte zur Hand, um das heraus geschriebene Zitat von seiner Handschrift in Times New Roman zu verwandeln: 

„Yoknapatawpha County is both […] based on his home county Lafayette in the Deep South of America, and […] displaying universal facets of human existence.” (Gutting: 1-2)

Dann starrt er wieder aus dem Fenster und überlegt, wie er sich einen roten Faden aus den Fingern saugen soll, wie er einen Überbau entstehen lassen soll, etwas, woran sich jemand, der das lesen wird, entlanghangeln könnte, steht auf, und schaltet das Radio an. „Dieses starke Ergebnis für unsere Partei zeigt ganz klar, wen die Menschen im nächsten Kabinett sitzen haben wollen; von wem das Land geführt werden soll. Und es zeigt auch ganz eindeutig, dass der bisherige Umgang mit den Flüchtlingen keinen Rückhalt mehr in der Bevölkeru …“ Das war dumm. Das Radio einzuschalten, wo er ganz genau weiß, was es ihm heute sagen wird - wo er ganz genau weiß, wie er darauf reagieren wird. Er schaltet auf einen Jazzsender um und dreht leiser. Das gemächliche Dahinplätschern der Musik im Hintergrund beruhigt seinen Herzschlag und er versucht das Wahlergebnis aus seinem Kopf zu kriegen, sich wieder ganz auf die Grade der Fiktionalisierung der Orte in der Literatur William Faulkners und Roberto Bolaños zu konzentrieren:

Sowohl in Roberto Bolaños Hauptwerk 2666 als auch in einigen Romanen William Faulkners (im Folgenden wird sich auf Absalom, Absalom! beschränkt) in William Faulkners Absalom, Absalom! kommen Orte vor, die zwar reale Vorbilder haben, aber im Zuge ihrer Fiktionalisierung umbenannt wurden. In Bolaños Fall ist es Ciudad Juárez, eine mexikanische Stadt, die zu Santa Teresa wurde; bei Faulkner geht es um Yoknapatawpha County, dessen reales Vorbild im US-Bundesstaat Mississippi gefunden werden kann: Lafayette County. Beide Orte spielen in den jeweiligen Werken nicht nur die Rolle des Schauplatzes, sondern tragen auch ganz stark zur Handlung bei. Das Yoknapatawpha County bei Faulkner dient als Mikrokosmos des US-Südens: Anhand dieses Countys wird beispielsweise gezeigt, welchen Einfluss der Amerikanische Bürgerkrieg, der allgegenwärtige Rassismus und anderes auf die dort lebenden Menschen hat. Bei Bolaño ist Santa Teresa das Zentrum eines Romans, der geografisch die unterschiedlichsten, weit voneinander entfernten Gebiete abdeckt: Teile der Handlung spielen in Deutschland, Frankreich und Spanien, andere in den USA. Aber alles läuft auf Santa Teresa in Mexiko und die schreckliche Serie an Femiziden zu, die dort seit Jahrzehnten nicht abreißt. In der folgenden Arbeit wird der Frage nachgegangen, was die Gründe für die Umbenennung dieser Orte gewesen sein könnten, und wodurch sich Realität und Fiktion in diesen Beispielen unterscheiden; außerdem werden die beiden Werke in dieser Hinsicht am Ende verglichen.

Es klingelt. Er steht auf und speichert die Datei, bevor er den Laptop zuklappt. Dann drückt er den Knopf, der unten die Tür öffnet. Er sieht auf sein Handy und erinnert sich, dass er Lorenz eingeladen, das dann aber wieder vergessen hat. Innerlich schilt er sich halbherzig für die erfolgreiche Selbstsabotage: Er hätte weiterarbeiten müssen; er hat auf diesen Vormittag ohne seine Freundin, die mit ihrer Familie an den Strand - weit in den Norden der Insel, weit weg von Neuwien und dem Wahlergebnis; weil weg vom Osat und dem Bürgerkrieg, aber doch immer noch in Meerland; immer noch auf dieser Insel - gefahren ist, gebaut, um sich endlich tief ins Schreiben des Essays zu vergraben. Wahrscheinlich hat er aber schon mit dem Verfassen der Einladungsnachricht an Lorenz innerlich aufgegeben, heute noch etwas Sinnvolles zu schaffen. Außerdem: Wie blöd von ihm, die ganze Arbeit auf den Tag nach der Wahl zu schieben, wo es doch schon im Vorhinein klar war, dass er sich über das Ergebnis sosehr ärgern würde, dass ihm Literaturwissenschaft im Vergleich recht nichtig erscheinen würde, was jetzt auch der Fall ist - und mal wieder zweifelt er daran, wie ernsthaft man sich in diesem Land überhaupt mit Literatur auseinandersetzen kann, wenn nebenan, wirklich nicht weit weg, einen Katzensprung über die Berge hinweg, ein Bürgerkrieg herrscht, in dem die Menschen nicht einmal Zeit zum Lesen haben. Während die Menschen hier, gestern, hochdemokratisch klar gemacht haben, dass es reicht; dass sie keine Flüchtlinge mehr wollen.

Es klingelt nochmal und er macht die Tür auf. Lorenz grinst breit und breitet die Arme aus. Sie drücken sich kurz und Lorenz kommt rein. „Wie geht’s?“

„Wie soll’s mir schon gehen?“

„Jaja, stimmt schon.“ Er zieht sich die Schuhe aus und blickt dann gierig in Richtung Kaffeemaschine.

„Ich wollte grad fragen, ob du einen willst.“

*

Der Fakt, dass 2666 aus fünf nur sehr lose miteinander verbundenen Teilen besteht und nur einer davon, „Der Teil von den Verbrechen“, komplett in Santa Teresa spielt, diese Stadt aber trotzdem auch in den anderen Teilen immer wieder, mal stärker, mal schwächer, vorkommt, lässt darauf schließen, dass sie das Zentrum des Romans ist. Alle Teile, alle Figuren, alles, was passiert, läuft auf diese Stadt zu (Grall: 475), und alle Figuren, die aus anderen Teilen der Welt in diese Stadt kommen, überfallen Beklemmungen und werden von Albträumen heimgesucht (Bolaño: 159-161, 361-362). Hier liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei Santa Teresa nicht einfach nur um ein Abbild des realen Ciudad Juárez handelt, sondern viel eher um einen surrealen, mythologischen Ort, der fast schon als Hauptfigur des ganzen Romans fungiert, der für sich allein, unabhängig vom Handlungsort, schon von vielen (menschlichen) Charakteren bevölkert ist.

Seine Freundin, Ronja, schickt ihm ein Foto vom Meer und fragt, ob er sich schon wieder beruhigt hat, und dass, wenn das nicht der Fall war, das Meer ihn beruhigen möge. Es ist ein schönes Bild: Der Himmel ist so hell, dass er fast weiß wirkt; das Meer ist umso dunkler, aber von einem satten Blau, ganz anders als das Meer, an dem Neuwien liegt, auch wenn diese beiden Meere natürlich ein und dasselbe sind. Aber die Küste Neuwiens ist verbaut; das Wasser trüb, und tot.
Zumindest wirkt es so, wenn man es sich genauer ansieht und man seinen Blick von den Ozeanriesen und Yachten im Hafen losreißen kann. Er fragt sich, wie das Meer im Osat aussieht. Eigentlich ist es auch dort derselbe Ozean. Und doch muss dieser Krieg und die Armut mit dem Meer etwas gemacht haben; muss das Meer irgendwie anders sein, wenn es sich schon an den Stränden Meerlands so stark unterscheidet. Er weiß, der Osat hat ein anderes Klima als Meerland; trockener, heißer. Er stellt sich ausgetrocknete Küstenstriche voll von weißem Salz vor. Aber eigentlich hat er Lorenz frühzeitig rausgeworfen, um weiterschreiben zu können. Denn im Moment beschäftigt ihn neben dem Wahlergebnis auch noch Widersprüchlichkeiten in der Sekundärliteratur:
Der eine Autor (Abb.2) schreibt:

„The end of Absalom, Absalom! is Faulkner’s map [of Jefferson, YC]. [T]hat map functions in much the same way as the title does, that is, by extending the province of the novel beyond the regional to the universal, by converting ‘facts’ of history into the ‘truth’ of myth.” (Hamblin: 285)

Der Andere:
„Viewed in this [transgressional] way, and from a great distance, the meta- or super-text of Yoknapatawpha thus appears less like a Balzacian ‘intact world’ than a kind of profuse and multi-dimensional Faulkner-novel, where the already unstable, textually interactive blocks – the individual works – become themselves discursive units in a higher order intertextual dialogue.” (Kreiswirth: 168)

Und Weiter
„An ‘apocrypha’, unlike a saga, world, or even a cosmos, works precisely at this level of doubt, offering a profanely broken, uncertain discursive context, keeping the boundary between textual inside and outside productively open.” (Kreiswirth: 169)
 

Wobei er sich, wenn er genauer darüber nachdenkt, nicht einmal sicher ist, ob es sich hierbei um Widersprüchlichkeiten handelt; vor allem deshalb, weil er nicht ganz versteht, was ihm Kreiswirth eigentlich sagen will. Was er weiß, ist, dass er sich fühlt, als stehe er selbst zwischen interaktiven, instabilen Blöcken; als lebe er seit gestern innerhalb eines zerstörten, ungewissen Kontextes. Dieses Wahlergebnis hat alles unsicher gemacht. Hat alles instabil gemacht. Hat alles so ungewiss gemacht, dass ihm die Lust an dem vergeht, was er am liebsten tut: lesen; über das Gelesene nachdenken; Literatur studieren. Etwas, was keinen Einfluss auf die Welt da draußen nimmt; etwas, das dieses Wahlergebnis genauso wenig ungeschehen machen kann, wie es den Bürgerkrieg im Osat beenden kann. Dann denkt er wieder: Was könnte das schon?

Literatur bietet ihm zumindest die Möglichkeit, sich ganz bewusst nicht mit dem zu beschäftigen, was vorgeht, doch das erscheint ihm auch falsch, unredlich und letztlich feig. Er speichert die Datei wieder und macht sich noch einen Kaffee. Es ist sein vierter, und er weiß mittlerweile nicht mehr, ob er zittert und Herzklopfen hat, weil ihn die Wahl so aufregt oder weil das Koffein dem Adenosin in seinem Körper mittlerweile überlegen ist. Er trinkt die Tasse trotzdem aus, beschließt dann aber, die Wohnung zu verlassen; sich zwischendurch der tatsächlichen Welt Neuwiens; Meerlands; der Insel (Abb. 3) auszusetzen und Santa Teresa und Yoknapatawpha County kurz zu vergessen. 

Die Straßen, durch die er geht, sind ihm zu ruhig, sogar für montagvormittags. Er hat sich zumindest kleine Proteste erhofft, irgendetwas, das ihm das Gefühl gegeben hätte, dass nicht jeder mit dem Kommenden einverstanden ist. Aber entweder stehen hier alle unter Schock, fühlen sich genauso taub und resigniert wie er; viel zu erstaunt, um ihrer Wut freien Lauf zu lassen, oder es haben auch hier mehr Menschen zu diesem Ergebnis beigetragen, als er erwartet hat. Vielleicht muss er doch beginnen, sich Quentin Compsons Mantra vorzulügen, zwar nicht in Bezug auf die Südstaaten (die kennt er schließlich nicht), aber in Bezug auf seine Heimat: diese Insel, dieses Land, diese Stadt:

„‘I dont hate it‘, Quentin said, quickly, at once, immediately; ‘I dont hate it’ he said. I dont hate it he thought, panting in the cold air, the iron New England dark; I dont. I dont! I dont hate it! I dont hate it!” (Faulkner: 378)

Aber was bleibt ihm schon anderes übrig. Womit soll er sonst auf so ein hasserfülltes Wahlverhalten antworten? Er hasst es, hasst es, hasst es.


*

Vielleicht könnte das ein Grund für das Abgrenzen und Abheben des Yoknapatawpha Countys vom Lafayette County im Speziellen und von den Südstaaten und schlussendlich den Vereinigten Staaten im Allgemeinen sein: Dass sich Faulkner nicht um geografische oder historische Details scheren wollte, wenn er über Menschen schrieb, die so oder so ähnlich sowieso überall existieren. Vielleicht könnte das ein Grund für das Abgrenzen und Abheben Santa Teresas von Ciudad Juárez sein: Dass Bolaño nicht über das wahre Böse schreiben konnte; dass er es zumindest einen Millimeter ins Fiktionale schieben musste, in dem er alles Echte, das mit dem Bösen zu tun hatte, neubenannt hat, um es irgendwie erträglich zu machen.
 

Quellen

Bolaño, Roberto: 2666. 5. Auflage, Frankfurt/Main: FISCHER Taschenbuch 2020 (auf Deutsch erstmals bei Carl Hanser Verlag, München 2009, im spanischen Original zuerst bei Editorial Anagrama, Barcelona 2004). Übersetzung von Christian Hansen.

Faulkner, William: Absalom, Absalom!. London: Vintage 2005 (zuerst 1936).

Grall, Catherine: 2666 by Roberto Bolaño: fiction as an attempt to travel between worlds. In: Neohelicon 40/2, Dezember 2013, S. 475-487.

Gutting, Gabriele: Yoknapatawpha. The function of geographical and historical facts in William Faulkner’s fictional picture of the Deep South. Frankfurt/Main: Verlag Peter Lang 1992.

Hamblin, Robert W.: “Longer than Anything”: Faulkner’s “Grand Design” in Absalom, Absalom!. In: Kartiganer, Donald M. / Abadie, Ann J. (Hg.): Faulkner and the Artist. Jackson: University Press of Mississippi 1996.

Kreiswirth, Martin: “Paradoxical and Outrageous Discrepancy”. Transgression, Auto-Intertextuality, and Faulkner’s Yoknapatawpha. In: Kartiganer, Donald M. / Abadie, Ann J. (Hg.): Faulkner and the Artist. Jackson: University Press of Mississippi 1996.