Passagen I – Über/setzen

Gramsci, Pasolini und der „protestantische“ Friedhof 

von Lukas Kessler


»Non é di maggio, questa impura aria«.¹ Beileibe kein Maiwetter. 32 Grad Celsius, eine tiefe Wolkendecke hängt über der Stadt, das Wetter ist drückend. Ich befinde mich im Bus 77 Piazzale Ostiense/Piramide. Ein Schweißtropfen rückt ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit, ein Schweißtropfen, der sich langsam unter dem Jack Wolfskin T-Shirt des hünenhaften Blonden hervorschleicht, eines »nordico villeggiante«² wahrscheinlich

Aufgrund seiner schieren Größe – er misst sicher über zwei Meter – winkelt sich der Arm, nachdem er sich im überfüllten Bus an der dafür vorhergesehenen Plastikschlaufe festhält, so abschüssig an, dass sich der Schweißtropfen auf den Weg machen konnte. Langsam pirscht er sich nach vorne bis zum Ellenbogen, erreicht sein Ende, hält ein, als würde er versuchen, sich festzuhalten – und tropft dann doch in die lockigen, beinahe krausen, dunklen Haare der unter ihm sitzenden Frau. Die das nicht bemerkte.

Ich drehe mich ein wenig angeekelt weg auf meinem blauen Plastikstuhl und – während ich darüber nachdenke, was wohl Schweißtropfen im Italienischen heißt (ein Tropfen ist eine goccia, goccia di … wahrscheinlich, ich hätte die Frau ja auch irgendwie warnen können) – schweift mein Blick aus dem Fenster des Busses. Dort, abgehoben von dem universalen Grau des Wetters, tauchen weder die »curve del Tevere«³, noch die »turchini monti del Lazio«⁴ vor mir auf, sondern nur die übergroße Pyramide von Ostiense, die langsam an uns vorbeiziehen. Ich wusste: Endstation, ich befinde mich am Ziel meiner kleinen Reise, vor den Toren des Rione Testaccio.

Im Zentrum des Viertels liegt der monte testaccio, oder im Lokalkolorit monte dei cocci, Scherbenhaufen bedeutet das eine wie das andere. Namensgebend waren die im Lateinischen wohlklingenden testae, die Scherben, die in der Blütezeit Roms in einer solchen Menge dort abgelegt wurden, dass sie etwas Neues bildeten, etwas Gemeinsames, einen Berg. Doch ich befand mich hier weder des Berges wegen, noch aufgrund der übergroßen Grabstätte des Caius Celestius, die hier halb in, halb hinter den Mauern Roms platziert wurde, früher Grenzgebiet, Schwelle von Stadt und Land, Übergang zwischen dem Zentrum und dem Rest der Welt. Menschen durften nur außerhalb von Rom beerdigt werden, Caius hatte etwas dagegen. Nein, ich suchte ein beschaulicheres, demütigeres Grab, eines, wenn man das Alter der Mauer hinter sich weiß, vor noch nicht allzu langer Zeit übergesetzten, eines Übersetzers zwischen Utopie und Wirklichkeit.

Gramscis Asche wurde hierhergebracht, nachdem sich erst Italien, dann Norditalien irgendwann Mussolinis und der Faschisten entledigen konnten, in den Cemetoria accatolica. Den nicht-katholischen Friedhof. Fair enough. Im Deutschen heißt dieser Friedhof Protestantischer Friedhof. Das Deutsche lässt eine schöne Übersetzung von accatolica nicht zu, verschluckt die Abgrenzung, die allen hier Begrabenen gemein ist, ihr nicht Vorhandenes katholisch sein.

Pasolini von vjsillustration

»[...] Übersetzbarkeit ist gewiss nicht “perfekt” in allen Einzelheiten, auch den Wichtigen (aber welche Sprache lässt sich exakt in eine andere übersetzen? Welches einzelne Wort lässt sich exakt in eine andere Sprache übersetzen?), aber sie ist es in ihrem essentiellen “Kern”.« Dies schreibt Gramsci selbst in seinen Gefängnisheften. Der Kern scheint nicht haltbar zu sein in Anbetracht der faulen, germanozentrischen Übersetzung von accatolico. Wenn jemand kein Katholik ist, wird er bestimmt Protestant sein, sonst hätte man ihn auch nicht begraben können. Schließlich ist auch August Goethe hier begraben, und der war nun mal Protestant. Wie kann am Ort, an dem Menschen ins Totenreich übersetzen, das Übersetzen so wenig Beachtung finden? Vor allem in Rom, das viel übersetzte, denken sich leicht gekränkt alle Gräzisten.

Über/setzen trägt das Charon’sche zu Grabe tragen in sich, die neunfache Fahrt um den Styx, die es braucht, bis man angekommen ist. Es enthält den Verlust, der begangen wird, aber auch die Hoffnung auf etwas Neues, Anderes, ein Gleiches in einer anderen Dimension.

Man liest zuerst Buchstaben, vielleicht fremde, vielleicht die eigenen, dann Wörter, dann Sätze, man versucht, Zusammenhänge zu verstehen, wenn man die Sprache beherrscht (was für ein schreckliches Wort im Zusammenhang mit Sprache, man sollte Sprache immer lernen und sich von Sprache beherrschen lassen, nicht andersherum), mehr oder minder weiß man irgendwann, was der Schreibende einem sagen wollte. Dann versucht man es in eine andere Sprache zu tragen, übersetzt Wörter, Satzteile, vielleicht nach Klang, vielleicht nach Sinn, vielleicht nach Maß. Aber es braucht Muße, man kreist, bis man angekommen ist und man kommt an, weil man ankommen muss. Und danach lässt man doch immer etwas zurück und hält etwas in den Händen, das doch grundlegend anders ist.

Oder natürlich (aber das gilt nur für deutschsprachige Übersetzer um das Jahr 1720): Man übersetzt acattolico einfach mit protestantisch.

Hierher geführt⁵ wurde ich nicht von Gramsci selbst, sondern einem Dichter, einem Filmemacher – Pier Paolo Pasolini. Auch er besuchte diesen Ort, hielt dies fest, verewigte seine Hingezogenheit zu Gramsci in den schönen und traurigen Zeilen über sein Grab. Und auch er war Übersetzer. Er erhob den Friaulischen Dialekt – die Sprache seiner Mutter und nicht seine Muttersprache – zur Kunstform und übersetzte seine Gedanken und seine Abneigung gegenüber dem Regime in norditalienischen Verse. Rote Blumen auf Gramcis Urnengrab, Nelken, Chrysanthemen, Primeln in Form einer Rose. Soll ich mich hinsetzen? Auf einem Friedhof? Lieber nicht. Die Wolken werden dunkler, getränkt in ein tiefes Grau, es rumort langsam vor den Toren der Stadt.

Es raschelt hinter mir, ein Mann nähert sich, vielleicht der Becchíno⁶, vielleicht jemand anders, wer weiß. Mir fällt die Situation meiner Hinfahrt wieder ein. „Scusi“ sag ich leise, er sieht mich an, meint, was ich mit meinem Gesieze will, ich versuche umzuschalten. Ich spräche nicht gut Italienisch, ich suche ein Wort, eine Flüssigkeit, die unter anderem hier auftaucht, wenn es sehr warm wird (ich deute auf meine Achseln, wieder ein Wort, das ich nicht kenne).  „Sotto le aschelle? Il Sudore.“ «Il Sudore» nuschele ich leise in mich rein, ich bedanke mich, der Alte wackelt kopfschüttelnd davon. „La goccia di sudore“, sage ich nochmal leise, und freue mich, dass ich dank dieser Übersetzung vielleicht jemandem helfen kann.



Rom, 2018 – München, 2021

 

 





¹ Diese unreine Luft stammt nicht aus dem Mai
² Reisendem aus dem Norden
³ Kurven des Tibers
⁴ blauen Berge des Lazio
⁵ Wieder so ein schreckliches Wort.
⁶ Ein Becchíno kann soviel sein wie ein Totengräber oder Bestatter. Der Ursprung des Wortes liegt bei Becchamorto, er ist einer, der die Toten auffängt – im positiven Sinne. Da es sich nicht zierte am Ort der letzten Ruhe die Toten bei ihrem Namen zu nennen, hängte man das Suffix „-ino“ an und Übersetzte das Wort in einen nun beinahe neutral klingenden Beruf.


Zitate aus:
Pasolini, Pier Paolo. (2009) Tutte le poesie. Tomo secondo. A cura e con uno scritto di Walter Siti. Milano: Mondadori.
Gramsci, Antonio. (1975) Quaderni del carcere. Volume Primo. Quaderni 1-5. Edizione critica dell’ Instituto Gramsci. A Cura di Valentino Gerratana. Torino: Giulio Einadi edizione.

Übersetzungen:
von Lukas Kessler.


// Lukas Kessler (Autor) //

kommt ursprünglich aus einem kleinen Dorf am Fuße der Berge. Er mag enzyklopädisches Schreiben, obskure Lyrik, rauschenden Ambient und Romane in allen Farben und Formen. Er findet, dass Abenteuer einem das Leben füllen, aber Langeweile zum Leben anregt – deshalb ist die fast wichtiger. Er findet auch, dass sich die Gesellschaft etwas von Nudeln abschauen sollte, denn sie sind maximal international, es gibt sie in allen Formen und Farben, mit und ohne Ei. Und das Beste: Sie schmecken alle super!


// Victoria Steiner (Illustratorin) //

"Wir leben, wir sterben und wir lieben nicht auf einem rechteckigen Blatt Papier“, hat Michel Foucault einmal geschrieben. Aber für eine Illustratorin (und Autorin) liegt die Aufgabe gerade darin, etwas Leben auf das Papier zu bringen. Victoria zeichnete schon während ihres Studiums der Germanistik, Philosophie und Medienkulturwissenschaft für verschiedene Magazine und Institutionen. Seither wirft sie sich unermüdlich in die Welt der Künstler, Literaten und Methodologen. Später schloss sie ihre Doktorarbeit mit dem Titel »Metatopos« ab, die sich mit medialen Zwischenräumen beschäftigt und damit, wo und wie alltägliche Wirklichkeit und Kunst zusammentreffen. Für die zarte Horizontale porträtierte sie bisher Pier Pasolini und Antonio Gramsci. Mehr Illustrationen von Victoria findet ihr auf vjsillustration.wordpress.com oder bei Instagram: @vjsillustration.