Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik?

 

Deutsch / English


 

»Promises« heißt das Album, das Floating Points zusammen mit dem Saxophonisten Pharoah Sanders vor und während der Pandemie aufnahm, unterstützt und untermalt vom London Symphony Orchestra. Es ist ein ruhiges, klingendes Album, das vielmehr in den Herbst als in den Frühling passt, obwohl es im März erschien. Floating Points’ elektronische Klänge traben filmisch durch den vorher stillen Raum, biedern sich an, wagen zu gefallen, während Sanders’ Saxophon Free-Freiheiten besitzt, er spielt, als hätte er seinen jüngeren Partner verstanden. Er hat ihn verstanden. Das Orchester erfüllt seinen Part ab dem dritten Movement stabil, kitschig, szenisch, genau richtig.


 

Das Album läuft zum dritten Mal, während ich im Büro sitze und diese Zeilen schreibe. Ich überlege, ob ich das Wort diametral einbauen könnte, es klingt schön. Ich schlage es im Internet nach. Es beschreibt das Verhältnis zweier Punkte, die, gebunden an einen Raum wie beispielsweise einem Kreis, am weitesten voneinander entfernt liegen, ein Maximum immer inhärent. Es passt wohl nicht. »Promises« ist zwar ein kreisförmiges Album – die repetitive Electronica und Melodie erwecken zumindest den Anschein, der Fakt, dass man es am Stück hören sollte, schlägt ebenso in diese Kerbe – aber es erwirkt keine Endpunkte, keine Finals. Also wird das nichts mit dem schönen Wort diametral. Vielleicht passt ja recreational? Gegen sein Biedermeier(ayer/ayr?)-Pendant Freizeit macht es eine vorzügliche Figur, nach dem Album fühle ich mich ein Stück weit erneuert, besser, frischer. Aber wie baue ich es ein, wenn ich nicht so viel zwischen Sprachen wechseln möchte? Erholung, das Album erholt mich, es bewegt mich zurück auf einen positiveren Zustand hin, holt die guten Gefühle hervor, die Konzentration, die ich bitter benötige an dunklen Januartagen.

 


 

Also nochmals von vorne.

 

Ich spiele das Album ab, Movement 1 beginnt, die ersten sieben Noten liegen traumhaft und dreamlike aneinander, Wiederholung. Das Englische stört mich hier weniger, da die beiden Worte zwar Übersetzungen voneinander sind, aber zwei ganz andere Spektren abdecken, das eine meint herausragend, das andere wie im Traum. Beides erscheint mir passend. Zwei Wochen ist es nun her, dass ich das Album das letzte Mal gehört und den ersten Teil dieses Textes geschrieben habe. Sanders setzt ein, das Versprechen des Titels wird eingelöst, das Album beginnt. Wo ist hier jetzt der Bezug zur Selbstkritik? Auf den ersten Blick finde ich wenig, Kritik – klar – Selbstkritik eher weniger. Aber ich lese meine Kritik natürlich noch einmal, und Formulierungen beginnen mich zu stören.


 
 
Meine Kommentare und Gedanken lassen sich hier aufklappen.

+ »Es ist ein ruhiges, klingendes Album«

klingend stört mich, vielleicht lieber harmonisches. Mit dem Rest kann ich mich anfreunden, ich finde noch immer, dass dieses Album ein wunderbares Herbstalbum hätte sein können.

+ »das vielmehr in den Herbst als in den Frühling passt.«

Du musst schon erklären, wieso. Vielleicht lässt sich hier die Spannung der Worte Erholung, Freizeit und recreational einbauen.

+ »Floating Points' elektronische Klänge traben filmisch durch den vorher stillen Raum, biedern sich an, wagen zu gefallen«

melodische Themen passt hier vielleicht besser, auch traben sie nicht, die Töne, sie fallen sanft, wiederholen, schleichen, schlendern, gleiten, wie im Film.

+ »während Sanders' Saxophon Free-Freiheiten besitzt, er spielt, als hätte er seinen jüngeren Partner verstanden. Er hat ihn verstanden.«

Ist das nicht zu anmaßend? Oder braucht man Mut?

+ »Das Orchester erfüllt seinen Part«

Was auch mehr als weniger zum Album beiträgt, ist die Coverart.

+ «ab dem dritten Movement stabil, kitschig , szenisch, genau richtig.»

Stabil ist eine fast schon hanebüchene Untertreibung, bietet sich aber an als Kontrast zum frei beweglichen Sanders und den kontrolliert fallenden Shepherd. Aber kitschig ist das Orchester keinesfalls, eher malerisch, romantisch oder idyllisch vielleicht. Aber das trifft ja eigentlich auf viele Orchester zu.

 

 
 

 

Hat Selbstkritik nun etwas mit dem Schreiben zu tun?
Ja, natürlich. Denn es ist nicht möglich, einen fertigen Text niederzuschreiben. Wenn ich etwas geschrieben habe, ist es erstmal festgesetzt auf dem (digitalen) Papier. Geschriebenes steht immer starr am Anfang, bewegt sich nicht auf ein Ziel zu, erreicht es nie ganz – von alleine. Also lese ich, verbessere mich, kritisiere das, was ich geschrieben habe. Aber ich kritisiere mich natürlich nicht selbst – nicht so, wie Max Frisch das hier wohl gedacht haben mag. Ich kritisiere den Teil von mir, der mich verlassen hat, etwas, das in der Vergangenheit liegt und mir trotzdem ganz gegenwärtig entgegenblickt. Ich kritisiere meine ursprüngliche Wahl, die auf das Wort „kitschig“ fiel, und den Fakt, dass es mir jetzt unbegreiflich ist, dass ich während des Schreibens nicht merkte, dass das Wort „kitschig“ hier nicht passt. Peinlich, gut, dass ich das noch nicht an Freund*innen zum Lektorat weitergegeben habe.

 

Schreiben endet nicht, man schreibt auch wenn man nicht aktiv am Laptop sitzt, wenn man nicht immer einen Stift zur Hand hat. Ich setze mich ein, zwei Wochen später an einen Text, verstehe mehr als vorher, habe mir – aktiv oder nicht – Gedanken gemacht, kann diese Gedanken einbringen. Habe gemerkt, dass „kitschig” nicht passt. Die Gedanken, die meinen Kopf verlassen haben, sind gefangen im Text, unveränderlich bis zu dem Punkt, an dem ich sie verändere – weil sie immer in meinem Kopf weitergearbeitet haben. Und vielleicht hat es deshalb dann doch wieder etwas mit Selbstkritik zu tun, denn man ist hart zu sich, möchte das auch sein, manchmal aber viel zu hart, zu zweifelnd, man verliert die Lust und das Selbstvertrauen. Überzeugende Selbstkritik sollte jedoch in meinen Augen trotz allem nicht den Mut nehmen, sondern geben. Genau wie es Kritik von anderen machen sollte. Denn die Texte sind abhängig, von mir und meinen Gedanken.

 


 

»Promises« heißt das Album, das Floating Points zusammen mit dem Saxophonisten Pharoah Sanders vor und während der Pandemie aufnahm, unterstützt und untermalt vom London Symphony Orchestra. Es ist ein ruhiges, harmonisches Album, das vielmehr in den Herbst als in den Frühling passt, obwohl es im März erschienen ist. Vielleicht, weil es Erholung bietet in den dunklen Tagen, frühlingshafte Gefühle hervorholt. Floating Points’ melodische Themen gleiten wie im Film durch einen vorher stillen Raum, biedern sich an, wagen zu gefallen, während Sanders’ Saxophon Free-Freiheiten besitzt. Er spielt, als hätte er seinen jüngeren Partner verstanden. Er hat ihn verstanden. Das Orchester erfüllt seinen Part ab dem dritten Movement, wie man es vom London Symphony Orchestra erwartet: Malerisch, beinahe idyllisch umschließt seine Musik die der beiden Solokünstler. Gebettet ist die Platte in ein besonderes Album-Cover. Drei ausgeschnittene Trapeze geben den Blick frei auf Julie Mehretus beeindruckendes »Congress«, das die komplette Innenseite ziert. Floating Points soll in diesem Bild Inspiration für »Promises« gesucht und gefunden haben. Die Synergie, die von den beiden Kunstwerken gemeinsam betrachtet ausgeht, gibt diesem Gerücht eine Existenzberechtigung.

 


 

Überzeugt mich nun meine Selbstkritik?

 

// Lukas Text ist Teil des Schreibprojekts II FRISCHE FRAGEBÖGEN und antwortet auf Max Frischs Frage aus

Fragebogen Nr. I / Frage 16.: "Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik?" //